Anfang Dezember 2010 sind die neuesten PISA-Ergebnisse erschienen. Sie bescheinigen dem deutschen Schulsystem Verbesserungen in den mathematisch-naturwissenschaftlichen und den Leseleistungen. Wie aber ist es um die Chancengerechtigkeit bestellt? Professor Dr. Andreas Schleicher, PISA-Chefentwickler und mahnender Kritiker des deutschen Bildungssystems, hat gestern (Dienstag, 11. Januar) in der Universität Bielefeld darüber gesprochen, wie die neuesten Entwicklungen zu beurteilen sind.

Der Hörsaal 1 ist gerammelt voll, das Interesse am Vortrag riesengroß
Der Hörsaal 1 ist gerammelt voll, das Interesse am Vortrag riesengroß

Zunächst einmal eine kurze Anmerkung zum etwas polemischen Titel dieses Blogbeitrags. Er stammt nicht von mir, sondern ist tatsächlich der offizielle Titel des Vortrags von Andreas Schleicher (Link). Er verheißt einen Vortrag, der viel Zündstoff enthält und zu bildungspolitischen Kontroversen herausfordert. Kann er diese Erwartung aber auch erfüllen?
Nach der Anmoderation durch Prof. Eiko Jürgens referiert Schleicher zunächst kurz über die Rahmenbedingungen von PISA (500.000 Schüler aus 74 Ländern bearbeiten in einem zweistündigen Test Aufgaben aus den Kompetenzbereichen Leseverständnis, Mathematik und Naturwissenschaften) und die der Studie zugrunde liegenden Prinzipien (Zusammenarbeit von Instituten aus allen beteiligten Ländern, Übertragbarkeit und Relevanz der Ergebnisse auf unterschiedliche Kulturen und Sprachen, Triangulation der Einschätzungen der Befragten, ausgeklügelte Befragungsmethoden). Interessant: Rund 80 Prozent der Leistungsvarianz zwischen Schülern und Schulen lassen sich mit PISA erklären.
PISA-Chefentwickler Andreas Schleicher referiert in der Universität Bielefeld
PISA-Chefentwickler Andreas Schleicher referiert in der Universität Bielefeld

Es folgt eine Übersicht, die den Erfolg der Bildungssysteme der an PISA beteiligten OECD-Länder transparent macht. Die Leistungsfähigkeit der Bildungssysteme und die Zugangsmöglichkeiten zu Bildung sind sehr unterschiedlich. Wichtigste Erkenntnis: In der bildungspolitischen Debatte – zumindest in Deutschland – herrschte lange Zeit die Vorstellung, dass Leistung und Gerechtigkeit einen Widerspruch darstellen. Die PISA-Ergebnisse zeigen jedoch deutlich, dass das definitv nicht der Fall ist. Die Bildungssysteme mit den besten Leistungen sind häufig auch die mit der höchsten Chancengerechtigkeit (Beispiel Kanada).
Die nächste gute Nachricht: in vielen OECD Ländern hat sich etwas zum Positiven verändert, sogar innerhalb relativ kurzer Zeit. Es gibt einige Länder, die seit der ersten PISA-Studie im Jahr 2000 sogar riesige Fortschritte gemacht haben: Chile, Polen, Portugal, Brasilien. Auch Deutschland hat sowohl bei der Leistung als auch bei der Chancengerechtigkeit Fortschritte gemacht, allerdings eher kleine und die Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft ist immer noch viel zu hoch!
Maßnahmen und Strategien auf Schul- und Systemebene
Maßnahmen und Strategien auf Schul- und Systemebene

Befragt nach den Faktoren, die sich positiv auf die einzelne Schule, das Schulsystem und die Chancengerechtigkeit auswirken, nennt Schleicher das Lernklima (Disziplin, Lehrerverhalten, Erwartungshaltung der Eltern, das Verhältnis von Lehrkräften zu ihren Schülern), eine größere Selbstständigkeit der Schulen verbunden mit Instrumenten der Rechenschaftslegung, zentrale und standardisierte Lernzielüberprüfugen, Anreizsysteme für Lehrkräfte, eine angemessene Schüler-Lehrer-Relation sowie die vorschulische Bildung. Maßnahmen, die sich laut Schleicher negativ auswirken, sind Selektionsmechanismen wie Klassenwiederholungen, Abschulung, eine frühe Festlegung der Schullaufbahn oder Maßnahmen zur Homogenisierung von Lerngruppen (ability grouping). Gerade diese Erkenntnisse aus den PISA-Daten werden hierzulande bislang nur zögerlich anerkannt und je nach Bundesland unterschiedlich stark berücksichtigt.
Fazit: Andreas Schleicher, bislang einer der schärfsten Kritiker des deutschen Schulsystems, spricht  aktuell auch von enormen Fortschritten, die in den letzten zehn Jahren zu verzeichnen sind. Von seiner grundsätzlichen Kritik an den deutschen Zuständen rückt er nicht ab, aber sie scheint etwas weniger vehement geworden zu sein.
Der Vortrag fand im Rahmen der öffentlichen Ringvorlesung „Ungleichheit in der Gesellschaft und Ungleichheit in der Schule“ statt, die die Erziehungswissenschaftler Professor Dr. Eiko Jürgens und Professorin Dr. Susanne Miller organisieren. Zu der Veranstaltungsreihe sind neben Studierenden und Wissenschaftlern aller Fakultäten ebenso bildungspolitisch interessierte Bürgerinnen und Bürger eingeladen.
Weitere Informationen zur Ringvorlesung gibt’s hier
ZEIT-Schulblog: OECD-Pisa-Chef bescheinigt deutscher Schulpolitik “Riesenfortschritte”
Andreas Schleicher: Vortrag zur individuellen Förderung (gehalten auf dem bildungspolitischen Kongress in Essen am 3. 2. 2007)