Dieser Beitrag wurde verfasst von: Rieke Bernard.

Probleme durch die Orientierung an Ziffernoten und Leistungsprinzip

Ziffernnoten dienen in erster Linie der Selektion
Ziffernnoten dienen in erster Linie der Selektion

Im deutschen Schulsystem wird sich primär am Prinzip der Selektion nach Leistung und der damit verbundenen Notengebung orientiert – und weniger am Prinzip der (Breiten-)Förderung, individuellen Förderung und alternativen Leistungsbewertung. Die damit einhergehenden Nachteile sind z.B. frühzeitige Übergangsentscheidungen, sozio-ökonomische Benachteiligungen, geringe Durchlässigkeit nach oben, prognostische Beurteilungen statt Vertrauen in Entwicklungsprozesse. Nach wie vor besitzen insbesondere die Hauptfächer einen gravierenden Einfluss auf Selektionsentscheidungen (Schul- und Hochschulübergänge und Versetzungen). Nach Jürgens (2005) steht dieser übermächtige Einfluss in deutlichem Widerspruch zu pädagogischen und curricularen Zielsetzungen.
Interesse an alternativen Formen der Leistungsbewertung
Die Diskussion um Leistungsbeurteilung in Form von Ziffernnoten reißt seit den 1970er Jahren nicht ab und wird nach wie vor stark kontrovers ausgetragen.
Die derzeitig verstärkte Interessenslage an veränderten Formen der Leistungsbewertung ist vor allem der Forderung und dem Einsetzen eines Wandels der Lehr-Lernkultur geschuldet.

Erweitertes Leistungsverständnis
Erweitertes Leistungsverständnis

Die neue Lehr-Lernkultur setzt vermehrt auf offene Lernarrangements, in denen die Schülerinnen und Schüler im Zentrum stehen und zunehmend selbstgesteuerter lernen und sich selbst entfalten können. Kompetenzorientierte Didaktik-Methodik erfordert jedoch ebenso veränderte Möglichkeiten, den Erwerb von Kompetenzen und die Lernentwicklungsprozesse angemessen zu beurteilen.
Insgesamt geht es um eine Leistungsbeurteilung, die sich nicht mehr nur am traditionell individuellen, eng kognitiven Leistungsverständnis orientiert, sondern dieses erweitert um ein bzw. verändert zu einem pädagogisch fundierten Leistungsverständnis. Aus diesem Verständnis heraus ist Leistung facettenreich und umfasst neben kognitiven auch handlungsorientierte, produktive, soziale, kreative und entwicklungsbezogene Aspekte.
Schulformspezifische Unterschiede der Leistungsbewertung
Mittlerweile gibt es vielfältige Formen der Bewertung, wobei sich schulformspezifische Unterschiede zeigen. Während insbesondere Grundschulen und daneben Reformschulen häufig zensurenferne Bewertungsmöglichkeiten hinzuziehen, nehmen diese über die Haupt- und Realschulen bis zu den Gymnasien hin ab. Zensuren sind nach wie vor und insbesondere bei Fachleistungen in den Schulen des Regelsystems die zentrale Beurteilungsform.
Bulimielernen und Teaching to the Test
Derzeit wird hierzulande ab der Sekundarstufe I und insbesondere in der Oberstufe vorrangig für eine Prüfung/Bewertung gelernt und gelehrt (Teaching to the Test) und weniger spielen dabei das Interesse an den eigentlichen Inhalten und die zu erwerbenden Kompetenzen eine Rolle. Argumentationen, Leistungsüberprüfungen führten zur Motivation sind sehr einseitig, denn schlechte Noten fördern diese nicht. Voraussetzungen sind zudem Leistungswollen und Leistungskönnen, wobei ersteres zudem auf letzterem beruht. Die Folgen dieser Leistungsbeurteilungskultur sind bildungsbezogen problematisch: Desinteresse an schulischen Inhalten, Entwicklung kurzfristiger und Oberflächen-Lernstrategien und kein nachhaltiges Lernen. Anders formuliert: viel Stoff verschlingen, unverdaut für Prüfungen ausspucken und vergessen = Bulimie-Lernen (Kurt Imhof 2009).
Forderung nach einer neuen, gerechteren Bewertungskultur

Neue Formen der Leistungsbewertung
Neue Formen der Leistungsbewertung

Um bei den Schülerinnen und Schülern wieder Motivation für das Lernen zu entfachen, nachhaltiges Lernen zu erzeugen und ihrem individuellen Lernentwicklungsprozess Rechnung zu tragen, ergibt sich zwangsläufig auch die Forderung nach einer veränderten Bewertungskultur mit neuen Formen der Leistungsbewertung:
„Neue Formen der Leistungsbewertung beziehen sich auf Leistungen von Schülerinnen und Schülern, die über den fachlich-inhaltlichen Bereich hinausgehen und auch methodisch-strategische, sozial-kommunikative und persönliche Leistungen berücksichtigen (Bohl 2005, S. 9).“
Eine der Komplexität des Lernens und dem lernenden Individuum gerechter werdende Leistungsbewertung kann erfolgen durch

  • Standards als übergreifende Bezugsmaßstäbe für eine objektive Bewertung
  • die vom Lehrplan vorgegebenen Lernziele als objektives Kriterium
  • diagnostische Instrumente (z.B. Beobachtungsbögen, Selbst-/Reflexionsbögen)

Verschiedene Möglichkeiten von Leistungsdokumentation nach Bohl 2003, S.556f, die bereits in verschiedenen Bundesländer z.T. eingesetzt werden, sind:

  • Lernentwicklungsberichte, Lernfortschrittsberichte (BR, SA)
  • Berichtszeugnisse, allgemeine Beurteilungen (HH, MV)
  • Einschätzungen zur Kompetenzentwicklung (TÜ)
  • Bemerkungen (BY, HH)
  • Verbale, vierstufige Informationen (NI), verbale Informationen (BB)
  • Mögliche Beilage von Testatblättern (BW, HE)

Auf Noten allerdings ganz zu verzichten ist angesichts deren ungebrochener Relevanz in der Gesellschaft, aus der Perspektive von Eltern, Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften, zukünftigen Arbeitgebern und aufgrund der noch vorherrschenden Hochschulzugangsberechtigungen (derzeit) wenig plausibel.
Schülersicht auf Bewertungsformen
In kürzlich geführten Interviews mit Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe I und II zweier verschiedener Reformschulen, die über hinreichend Erfahrungen mit alternativen Bewertungsformen verfügen und diese sehr schätzen, wurde transparent, dass diese einer Notengebung in bestimmten Jahrgangsstufen als zusätzliche Bewertungsform offen gegenüber stehen bzw. diese sogar wünschen.

Notengebung – Die Mischung macht’s!

Es kristallisierte sich bei diesen die Einschätzung heraus, dass sie Berichtszeugnisse und Lernentwicklungsberichte, Selbst- und Lehrerreflexionen als besonders nützlich und hilfreich für ihr eigenes Lernen und ihre Motivation empfinden. Denn durch die individualisierten und differenzierten Rückmeldungen und Selbsteinschätzungen wissen sie ziemlich genau, was und wie sie gelernt haben und wo noch Ansatzpunkte zur Verbesserung liegen. Sie profitieren von diesem „konstruktiven Feedback“, fühlen sich und ihr Lernen fair beurteilt und haben nur wenig negativen Leistungsdruck und Konkurrenzerleben. Allerdings sind sie aber auch der Meinung, dass sie in der Sekundarstufe ab der 7./8. Klasse und in der Oberstufe ab der 12. Klasse zusätzliche Notengebung als hilfreich und erforderlich betrachten. Denn der soziale Vergleich sei auch wichtig bzw. eine Orientierung an „harten“ Vergleichszahlen durchaus augenöffnend für eine noch realistischere Einschätzung des eigenen Lernstands, hilfreich für die individuelle Weiterentwicklung und für die Ausrichtung auf zu erreichende Qualifikationen und Zugangsberechtigungen.
Stellvertretend für diesen Standpunkt, dass sowohl alternative Leistungsbeurteilungen als auch Noten gegeben werden sollten, stehen diese Aussagen eines Schülers der 9. Klasse und einer Schülerin der 12. Klasse.
Schüler (9. Klasse):

„Ich finde, beides zusammen ist besser, sonst ist keine richtige Einschätzung möglich, wo man wirklich steht. Weil´s halt auch immer wichtiger und ernster wird, man braucht eine klarere Einschätzung, das Gesamtbild ist wichtig.“

Schülerin (12. Klasse):

„Durch die Reflexionen, z.B. im Portfolio, lerne ich meine eigene Leistung und Entwicklung gut einzuschätzen und die Rückmeldung des jeweiligen Lehrers empfinde ich als konstruktives Feedback. Allerdings kann man nicht immer bzw. kann nicht jeder seinen tatsächlichen Leistungsstand richtig beurteilen und dann sind Noten halt nötig und hilfreich. Eben auch im Vergleich mit anderen, das ist manchmal einfach gut. Ich wünsche mir zum Ende des Semesters für jedes Fach eine kurze Beurteilung und eine Note, eben etwas, was ich in der Hand habe, woran ich mich orientieren kann. Ich finde, die Mischung macht´s.“

Literaturtipps und Verweise auf externe Quellen:
Bohl, T. (2005): Neuer Unterricht – neue Leistungsbewertung. Grundlagen und Kontextbedingungen eines veränderten Bewertungsverständnisses. Online: http://methodenpool.uni-koeln.de/benotung/3976-4000-1-bohl_leistungsbewertung_2te_version020505zo.pdf [abgerufen am 15.03.12].
Grunder, H.-U./Bohl, T./Elert, K. (2004): Neue Formen der Leistungsbeurteilung in den Sekundarstufen I und II. Online:
http://www.studienseminar-koblenz.de/medien/pflichtmodule_unterlagen/2004/24/03%20Neue%20Formen%20der%20Leistungsmessung%20und%20Leistungsbeurteilung%20in%20der%20Schule%20(Gruner).pdf [abgerufen am 14.03.12].
Jürgens, E. (2005): Leistung und Beurteilung in der Schule. Eine Einführung in Leistungs- und Bewertungsfragen aus pädagogischer Sicht. Sankt Augustin: Academia, 6., aktualisierte, erweiterte Auflage.
Merkelbach, V. (2005): Schule ohne Noten – wie soll das gehen? Dialogische Leistungsbewertung als Element einer anderen Lernkultur. Online: http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index/docId/3246 [abgerufen am 14.03.12].
Saldern, M. v. (2003): Schulleistung in der Diskussion. Online: http://opus.uni-lueneburg.de/opus/volltexte/2003/169/pdf/doebert.pdf [abgerufen am 14.03.12].
Thurn, S. Lernen, Leistung, Zeugnisse – eine Schule (fast) ohne Noten. Online: http://sinn-ev.de/sinn/beitrag/Thurn97b.pdf [abgerufen am 14.03.12].
Winter, F. (2002): Neuen Prüfungsgeist entwickeln. Online: http://www.waldorfschule-düsseldorf.de/fileadmin/media/jahresarbeiten/Neuen%20Pr%FCfungsgeist%20entwickeln%20Felix%20Winter.pdf [abgerufen am 14.03.12].