Dieser Beitrag wurde verfasst von: Moritz Schmidt-Degenhard.

Schon auf der Fahrt zum Schulgebäude ahnen wir, dass wir in Helmstedt richtig sind, um etwas über die Digitalisierung des Unterrichts zu erfahren. Unser Taxifahrer beglückt uns spontan mit einem improvisierten Vortrag über Schule und Digitalisierung und wäre wohl am liebsten mitgekommen, als er uns vor dem Gebäude der Giordano-Bruno-Gesamtschule aussteigen lässt. Der Empfang durch Schulleiter Trubjansky, den stellvertretenden Schulleiter Stips, und Frau Warthemann fällt noch herzlicher aus. Uns erwartet ein abwechslungsreicher Tag mit verschiedenen Hospitationen, die uns einen guten Einblick von der Nutzung digitaler Medien im Unterricht an der Giordano-Bruno-Gesamtschule verschaffen werden.

Schülerinnen und Schüler experimentieren mit Münzen
Schülerinnen und Schüler experimentieren mit Münzen

Unser erster Unterrichtsbesuch kommt allerdings gänzlich ohne Computer, Netbooks und Tablets aus. Wir sitzen im naturwissenschaftlichen Unterricht einer Klasse 8. Die Lehrerin verteilt einige angelaufene bzw. oxidierte Münzen und jeweils ein Experimentierset mit allerhand Chemikalien, Werkzeugen und Bunsenbrenner an jede Tischgruppe, an der jeweils etwa vier bis sechs Schülerinnen und Schüler Platz gefunden haben. Die Aufgabe: Die Münzen sollen möglichst effizient gereinigt werden. Welche Chemikalien oder Haushaltsmittel machen am besten sauber? Ganz wichtig dabei ist, dass die Schülerinnen und Schüler ihre Vorgehensweise dokumentieren und sie später wiedergeben können.
Die Schülerinnen und Schüler sind schnell Feuer und Flamme. Glücklicherweise nicht wegen des Bunsenbrenners, nein, die Aufgabe aktiviert die Schüler und weckt ihren Forscherdrang. Die Jugendlichen beginnen sofort mit dem Experimentieren und hecken verschiedene Methoden für die Dokumentation ihrer Vorgehensweise aus. Selten wurden Schülerinnen und Schüler so schnell zu guten Geldwäschern – natürlich im ganz legalen Sinne.
Die Tischgruppen, an denen die Schülerinnen und Schüler sitzen, kommen nicht zufällig zu Stande.Sie setzen sich nach verschiedenen Kriterien wie Geschlecht, schulischer Leistung oder sozioökonomischer Herkunft zusammen. Möglichst viele verschiedene Schülerinnen und Schüler innerhalb der Tischgruppen und den Klassen zusammen zu bringen, ist dabei die leitende Idee. So können die stärkeren und schwächeren Schülerinnen und Schüler gegenseitig voneinander profitieren und miteinander lernen. Die „Kracher“, wie der stellvertretende Schulleiter sie mit Augenzwinkern nennt, kommen zusammen mit den ruhigeren Gemütern. Und die Chemie zwischen den Jugendlichen muss dabei natürlich auch stimmen.

Ein bemalter Flur der Giordano-Bruno-Gesamtschule.
Ein bemalter Flur der Giordano-Bruno-Gesamtschule.

Apropos Chemie. Viele der Münzen glänzen inzwischen wie neu, die Schülerinnen und Schüler halten ihre Ergebnisse an der Tafel fest, sie werden in einer weiteren Unterrichtseinheit am Nachmittag wieder aufgegriffen werden. Wir machen uns derweil auf den Weg in das nächste Klassenzimmer. Während wir durch die von Schülerinnen und Schülern bemalten Altbauflure wandern, erfahren wir mehr über das Schulkonzept der Giordano-Bruno-Gesamtschule. Teamarbeit spielt eine zentrale Rolle: So haben die Klassenverbände in der Regel jeweils zwei KlassenlehrerInnen. Auch die Klassenfahrten werden geschlossen als Jahrgangsfahrten durchgeführt, alle Lehrkräfte fahren mit. Unterrichtsmaterial und Lernpläne werden im Kollegium ausgetauscht und zusammengetragen, durch schulinterne Lehrerfortbildungen wird das Know-how im Kollegium geteilt. Wir merken, dass wir es mit einer echten Teamschule zu tun haben. Und das kommt an: Bei der Giordano-Bruno-Gesamtschule gehen deutlich mehr Anmeldungen ein, als Schulplätze zur Verfügung stehen.
Wir nehmen Platz im Geschichtsunterricht einer 10. Klasse. Alle Schülerinnen und Schüler sind mit Netbooks ausgestattet. Sie wurden vor ein paar Jahren bei einem Wettbewerb eines Computerherstellers gewonnen, der im ersten Jahr der Nutzung auch die Wartung übernahm. Sehr selbstverständlich erstellen sie Mindmaps mit den Geräten. Ein Beamer steht bereit, an den die Jugendlichen ihre Laptops anschließen können, um ihre Mindmaps dem Rest der Klasse vorzustellen. Ihre Arbeitsweise verdeutlicht: Die Geräte lenken nicht ab, sie werden als alltägliche Werkzeuge begriffen und genutzt. Die Jugendlichen arbeiten regelmäßig mit den Laptops und wissen, was zu tun ist. Das bedeutet allerdings auch, dass die Anfangseuphorie beim Einsatz der Geräte verflogen ist. Diese haben nach wenigen Jahren schon ihre technische Halbwertszeit überschritten. Einige der Laptops sind nicht mehr voll funktionsfähig, die Wartung muss die Schule nun selbst stemmen. Zudem brauchen die Netbooks mitunter einige Minuten, bis sie hochgefahren und einsatzbereit sind. Für den spontanen Gebrauch im Unterricht sind sie damit eigentlich schon zu langsam. Ein Schüler verweist auf eine 8. Klasse der Giordano-Bruno-Gesamtschule, die mit Tablets ausgestattet sind. Die hätten viele dieser technischen Probleme nicht, sagt er.

Eine Schülerin stellt uns häufig benutzte Apps vor
Eine Schülerin stellt uns häufig benutzte Apps vor.

Genau diese Tablet-Klasse besuchen wir im Kunstunterricht. Das Thema der Stunde lautet: Portraitfotografie. Zunächst lernen die Schülerinnen und Schüler verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten der Portraitfotografie kennen. Dazu wirft der Lehrer verschiedene Beispielbilder drahtlos über sein Tablet und eine an den Beamer angeschlossene Set-Top Box an die Wand des Klassenzimmers. Nun sollen die Schülerinnen und Schüler selbst in Aktion treten und mit der der Kamera ihrer Tablets eigene Portraits erstellen. Einige Schülerinnen und Schüler durchstreifen schon die Flure der Schule auf der Suche nach ausgefallenen Hintergrundmotiven. Mit einer App sollen die Jugendlichen ihre Fotografien dann aufbereiten und die verschiedenen Portraitarten als Portfolio mit Erläuterungen und Fachbegriffen zusammenstellen. Diese werden am Ende der Stunde ebenfalls drahtlos an die Wand geworfen und im Klassenplenum diskutiert.
Technisch funktioniert das System flüssiger und dynamischer als bei den Netbooks. Kein Hochfahren der Geräte mehr, die Tablets sind „instant-on“ auf Tastendruck, das Bild kann von jedem kabellos und vom Platz aus an die Wand geworfen werden. Die eingebaute Kamera und die intuitiven Apps bieten viele kreative Möglichkeiten. Im Anschluss an die Kunststunde zeigen uns die Schülerinnen und Schüler, wie sie mit verschiedenen Apps im Unterricht arbeiten. Die Spanne reicht von klassischer Textverarbeitung, Portfolioarbeit und Präsentationen bis hin zu von den Lehrerinnen und Lehrern erstellten Lernquizzes, oder gar Musik- und Multimediaproduktionen.
Die Jugendlichen können ihre Tablets mit nach Hause nehmen und von dort aus das Schulintranet nutzen. Die Giordano-Bruno-Gesamtschule nutzt nämlich einen übergreifenden Schulserver. Jede Schülerin und jeder Schüler hat dort sein eigenes Postfach. Sie können zudem auf ihre Unterrichtsdateien zurückgreifen oder selbst welche bereitstellen. Lehrerinnen und Lehrer können darüber hinaus Räume reservieren, Klausurpläne erstellen und natürlich mit den Schülerinnen und Schülern in Austausch treten.
Was lässt sich aus diesem Schulbesuch lernen? Die Giordano-Bruno-Gesamtschule hat die digitalen Möglichkeiten und Herausforderungen im Blick und versucht sehr pragmatisch, die Digitalisierung aktiv zu gestalten. Sie wartet nicht darauf, dass alle Schülerinnen und Schüler auf einen Schlag mit Geräten versorgt werden, oder das perfekte System, die perfekte App für den Unterricht auf dem Markt kommt. Sie nutzt, was es bereits gibt, ist offen für neue Ideen und Angebote, experimentiert, behält bei, was sich bewährt, und verwirft, was nicht so gut klappt. Und noch wichtiger: Sie gestaltet diese Prozesse aktiv, die Auseinandersetzung mit der Digitalisierung erfolgt weder als Abwehrschlacht noch als einmalige Hauruck-Aktion. Man begegnet den neuen Technologien dynamisch, aufgeschlossen, flexibel und im Team. Digitalisierung ist hier kein Selbstzweck, sondern sorgfältig ausgewähltes pädagogisches Instrument. Das Beispiel der Giordano-Bruno-Gesamtschule zeigt, dass einzelne Schulen aus eigener Anstrengung heraus viel erreichen können. Es zeigt aber auch, dass die Ressourcen für den systematischen Einsatz digitaler Technologien an Schulen eigentlich noch zu knapp sind. Schließlich gibt es nicht an jeder Schule so gute Rahmenbedingungen und motivierte Vorprescher, wie an der Giordano-Bruno-Gesamtschule. Mit besserer Ausstattung und systematischen Fortbildungen könnte der organisatorische und didaktische Nutzen des Digitalen für die Schulen noch größer sein.
Nach einem langen Tag voller Eindrücke verlassen wir die Giordano-Bruno-Gesamtschule und hoffen insgeheim, unserem Taxifahrer vom Morgen wieder zu begegnen. Wir könnten ihm vieles über Digitalisierung und Unterricht berichten. Nur wie man Münzen denn nun am besten wieder zum Glänzen bringt, das konnten wir bei all den Eindrücken leider doch nicht mehr herausfinden.