Interview mit Prof. Dr. Frank Lipowsky, Professor für Empirische Schul- und Unterrichtsforschung an der Universität Kassel

Prof. Dr. Frank Lipowsky, Professor für Empirische Schul- und Unterrichtsforschung an der Uni Kassel
Prof. Dr. Frank Lipowsky, Professor für Empirische Schul- und Unterrichtsforschung an der Uni Kassel

Warum sind Lehrerfortbildungen wichtig? Ist die eigentliche Lehrerausbildung lückenhaft oder ändert sich unser Wissen über Pädagogik, Didaktik und Methodik so immens schnell?
Die Professionalisierung von Lehrkräften erstreckt sich über das ganze Leben. Man kann nicht erwarten, dass die erste Phase der Lehrerbildung an den Universitäten und die zweite Phase an den Studienseminaren einen abschließenden Stand an Wissen oder an Handlungs- und Reflexionskompetenz vermitteln. Zumindest nicht in dem Maße, dass es für die nächsten drei Jahrzehnte reicht.  Die Lehrertätigkeit ist eine anspruchsvolle Tätigkeit, die hohe fachliche und menschliche Anforderungen stellt. Die Aufgaben für Lehrer sind, wie auch für Arbeitnehmer in anderen Bereichen, umfassender und komplexer geworden. Außerdem entwickelt sich unser Wissen darüber, wie wir das Lernen unserer Schüler fördern können, fortwährend weiter. Es gibt ständig neue Erkenntnisse in der bildungswissenschaftlichen Forschung. Diese müssen in irgendeiner Weise an die Lehrkräfte weitergegeben werden. Entsprechend sollten sich Lehrpersonen, wie auch Professionelle in anderen Berufen, ständig weiterbilden.
Im internationalen Vergleich sind deutsche Lehrkräfte nicht gerade Fortbildungsweltmeister. Stimmt dieser Eindruck?
Diese Wahrnehmung ist nur teilweise richtig. Im Rahmen der Pisa 2000-Studie gab es eine Schulleiterbefragung. Es gefragt, wie viele der Kolleginnen und Kollegen sich in den letzten drei Monaten fortgebildet haben. Deutschland landete hier auf dem drittletzten Platz. Es gibt aber neuere Studien, in denen ca. 80 Prozent der deutschen Lehrkräfte angeben, in den letzten zwei Jahren Fortbildungen besucht zu haben. Demgegenüber haben wir aber auch eine kleine Gruppe von Lehrkräften, die wir mit freiwilligen Fortbildungsangeboten kaum erreichen.
Ich warne jedoch auch davor, solche Teilnahmequoten als Indikator für eine wie auch immer geartete Fortbildungspraxis heranzuziehen. Viel hilft nämlich nicht immer viel. Man kann eine Menge Fortbildungen besuchen. Wenn diese schlecht konzipiert oder inhaltlich und fachdidaktisch nicht auf dem neuesten Stand sind, dann können Lehrkräfte noch so viele Fortbildungen besuchen, sie bringen ihnen nichts. Wieviel ein Fortbildungsteilnehmer von einer Fortbildung profitiert, hängt aber nicht nur von der Qualität der Fortbildung ab, sondern auch davon, wie das Fortbildungsangebot vom jeweiligen Teilnehmer genutzt wird. Jeder, der Fortbildungen anbietet, weiß: Nicht immer erreicht man mit dem Angebot alle teilnehmenden Kolleginnen und Kollegen.
Nun sagt die Teilnahme an einer Fortbildung noch nichts darüber aus, ob sie für Lehrkräfte und Schule im Ergebnis erfolgreich ist. Wie lässt sich Fortbildungserfolg messen?
Fortbildungserfolg lässt sich auf mehreren Ebenen messen. Auf der ersten und am weitesten verbreiteten Ebene fragt man die Lehrkräfte nach ihrer Akzeptanz und Zufriedenheit. Nun muss man aber wissen, dass dies eher schwache Indikatoren für den Fortbildungserfolg sind. Wirkliche Veränderungen auf der Wissens- und Handlungsebene gehen häufig erst einmal mit Anstrengungen einher. Eine hohe Zufriedenheit und das Erleben, etwas gelernt zu haben, stellen sich dann mitunter erst später ein.
Auf einer zweiten Ebene kommt die Frage nach dem Wissen von Lehrpersonen hinzu. Wissensveränderungen lassen sich über Tests ermitteln.
Auf einer dritten Ebene schaut man sich schließlich das unterrichtliche Handeln der Lehrkräfte an. Am sinnvollsten ist es, den Unterricht vor und nach einer Fortbildungsmaßnahme zu betrachten. Manchmal werden auch die Schüler* dazu befragt, wie sie den Unterricht einschätzen. Aus der Unterrichtsforschung wissen wir, dass solche Angabendurchaus wertvolle und differenzierte Informationen enthalten können.
Die wichtigste Ebene ist aber die vierte Ebene. Hier lautet die zentrale Frage: Wie wirken Fortbildungsmaßnahmen von Lehrkräften auf das Lernen der Schüler? Entwickeln sich die Schüler fortgebildeter Lehrer besser als diejenigen, deren Lehrer nicht an Fortbildungen teilgenommen haben? Auch das können wir messen, indem wir die Leistungen der Schüler mit Tests erfassen.
Wie müsste eine Lehrerfortbildung aussehen, damit sie wirksam ist?
Eine Fortbildung sollte sich über einen längeren Zeitraum erstrecken, mindestens über ein halbes Jahr, besser noch über ein oder zwei Schuljahre. Leider  sind in vielen Bundesländern sehr kurze Fortbildungen immer noch die Realität. Dabei wissen wir, dass ein solches Format kaum das Potenzial hat, unterrichtliches Handeln von Lehrern zu verändern. Fortbildungen sollten außerdem aus mehreren Phasen bestehen: Aus einer Input- Phase, in der die Lehrkräfte neues Wissen erwerben; dann der Erprobungsphase, in der sie dieses Wissen im eigenen Unterricht anwenden und erproben und schließlich aus der Reflexionsphase, in der die Lehrpersonen über die Wirkungen ihres Handelns und über das Lernen ihrer Schüler nachdenken und in der sie dazu Rückmeldungen erhalten.
Neben der Verschränkung von Input-, Erprobungs- und Reflexionsphasen und einer ausreichenden Fortbildungsdauer gehört auch dazu, dass die Fortbildung nicht zu breit angelegt sein sollte, sondern sich eher auf ein Fach oder eine Unterrichtseinheit konzentrieren sollte. Wenn die Fortbildungsinhalte zu allgemein sind, besteht immer auch die Gefahr, dass sie „irgendwie vereinbar“ scheinen mit dem, was ich als Lehrer ohnehin mache. Dann spüre ich auch keinen Veränderungsdruck. Außerdem ist es sinnvoll, Ergebnisse der Unterrichtsforschung heranzuziehen, die uns ja sagen, welche Merkmale des Unterrichts das Lernen der Schüler befördern. Wenn Fortbildungen diese Merkmale in den Mittelpunkt stellen, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sich die Fortbildungen auch auf das Lernen von Schülern auswirken können.
Sie sagen, dass Lehrerfortbildungen erst Sinn machen, wenn diese einen entsprechenden zeitlichen Umfang haben. Wie ist das mit der enormen Belastungssituation an Schulen vereinbar und wie mit der Erwartung, dass möglichst wenig Unterricht ausfällt?
Schulleitungen und Lehrkräfte haben häufig das Bedürfnis nach kurzen Maßnahmen. Diese Wünsche sind nachvollziehbar und verständlich. Schulleitungen möchten, dass möglichst wenig Unterricht ausfällt oder vertreten werden muss und Lehrkräfte wünschen sich Fortbildungen, die Entlastung für den alltäglichen Unterricht bringen  Darauf sollte Fortbildung auch reagieren. Nicht immer wird man aber die Wünsche von Lehrern nach schneller Umsetzbarkeit von Fortbildungsinhalten erfüllen können, denn für viele Probleme des schulischen Alltags gibt es eben keine rezeptartigen, schnellen Lösungen. Was die Wünsche der Schulleitungen nach kurzen Fortbildungen anbelangt, ist Folgendes zu sagen: Wenn unterrichtliche Praxis und Routinen, die sich  meist über Jahre eingeschliffen haben, weiterentwickelt werden sollen, sind kurze Fortbildungen keine erfolgversprechende Strategie. Schulleitungen und Lehrkräfte, die sich auf diesen Prozess einlassen, erkennen meist auch den Gewinn, den eine längere Fortbildung mit sich bringen kann.
Gibt es Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem Ausland, die sich grundsätzlich auf die Lehrerfortbildung anwenden lassen und die in unsere föderale Bildungslandschaft übertragbar wären?
Es lohnt sich durchaus, zu schauen, wie in anderen Ländern Fortbildungen organisiert und geplant werden und zu welchen Ergebnissen die internationale Forschung kommt. Die neuseeländische Wissenschaftlerin Helen Timperley z.B. hat eine internationale Meta-Studie zur Wirksamkeit von Lehrerfortbildungen vorgelegt. Sie  fasst an einer Stelle zusammen, wie wichtig es sei, dass Lehrkräfte durch Fortbildungen eine Verknüpfung zwischen ihrem eigenem Handeln und dem Lernen ihrer Schüler herstellen können. Sie müssen also erkennen, dass Veränderungen im Lehrerhandeln auch zu Veränderungen aufseiten der Schüler führen. Wir haben in Nordhessen eine Lehrerfortbildung begleitet, die wunderbar illustriert, was Timperley damit gemeint hat. In dieser Fortbildung mit Grundschullehrkräften zeigte die Fortbildnerin ein Unterrichtsvideo: Die Lehrkraft hat in diesem Beispiel mit kognitiv aktivierenden Fragen die Schüler zu deutlich elaborierteren Antworten bewegen können, als mit den zuvor gestellten Frageformulierungen. Das Lehrerverhalten zeigte also eine unmittelbare Wirkung auf die Schüler. Das ist die Verbindung, von der Timperley spricht und die so wichtig ist: Eine eigentlich nur kleine Veränderung im Lehrerverhalten hat zu grundsätzlich anderen Reaktionen aufseiten der Schüler geführt. Wenn es Fortbildnern gelingt, diesen Link zwischen Lehrerhandeln und Schülerlernen zu verdeutlichen, dann ist viel erreicht. Das Erleben eigener Wirksamkeit ist eine wichtige Schlüsselvariable für das Lernen von Lehrkräften. Es zeigt den Lehrkräften, welchen Einfluss sie selbst auf das Verhalten und Lernen ihrer Schüler haben. Meiner Einschätzung nach ist es keinesfalls selbstverständlich, dass Lehrkräfte diese Verbindung zwischen ihrem eigenen Handeln und dem Lernen der Schüler wahrnehmen. Für die Lehrtätigkeit ist diese Erkenntnis aber zentral. Deshalb ist es auch Aufgabe von Fortbildnern, Lehrpersonen darin zu unterstützen, die Wirksamkeit ihres Handelns zu erleben.
* Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und
weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für
beiderlei Geschlecht.
Das vollständige Interview mit Herrn Prof. Lipowsky findet sich auf S. 8+9 des PodiumSchule 2013|14