Digitale Medien in der Schule (c) Tino Jelken
Digitale Medien in der Schule (c) Tino Jelken

In einem Interview bei Deutschlandradio Kultur kritisiert Joseph Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, den zunehmenden Einsatz von Computern und Internet im Unterricht und äußert sich dahingehend, dass er sich an der „totalen Zwangsdigitalisierung“ des Unterrichts störe. Wir sprechen mit dem Digitalisierungsexperten Lars Hahn über diese These.

Herr Hahn, finden Sie diese Wortwahl angemessen? Und trifft die Kritik überhaupt den Kern der Sache?
LH: Mich hat die Wortwahl erschrocken. Ich hatte direkt zwei Assoziationen: Nämlich an „Wollt Ihr den totalen Krieg?“ von Joseph Goebbels und den Begriff „Zwangssterilistation“aus der gleichen unsäglichen NS-Zeit. Beim Vorsitzenden des Lehrerverbandes unterstelle ich mindestens grobe Fahrlässigkeit in der Wortwahl.
Er trifft nicht den Kern der Sache, er trifft zielsicher daneben. Denn von einer flächendeckenden und fächerdurchdringenden Digitalisierung sind unserer Schulen ja (leider) noch weit entfernt.
Böse digitale Medien. Macht sich Kraus die Sache zu einfach? Oder ist die Welt tatsächlich so schwarz-weiß?
LH: Die Welt ist vielmehr sehr differenziert und das sowohl offline wie online. Jeder kennt Beispiele für pädagogisch grottenschlechten Unterricht in der Offlinewelt. Herr Kraus bewertet in dem Interview nur die Technologie und ihre in der Tat ja existierenden Risiken, ein typisches Phänomen deutscher Bildungsexperten dieser Generation.
Chancen und Möglichkeiten für den Unterricht, die das Web und die Digitalisierung bieten, spricht er überhaupt nicht an. Aber lasst uns mehr über die Chancen sprechen!
Macht die Aussage nicht viel mehr deutlich, wie weit weg Herr Kraus von der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler ist? Ignoriert er vielleicht auch die tatsächlichen Arbeitsgewohnheiten von Lehrerinnen und Lehrern, die zu großen Teilen längst ganz selbstverständlich mit digitalen Medien umgehen, sowohl bei der Vorbereitung als auch bei der Durchführung von Unterricht?
LH: Das ist das Tragische. Die Alltagswelt von Kindern außerhalb von Schule ist heute durch Tablets, Smartphones, Internet durchdrungen. Und natürlich ist die Nutzung nicht immer pädagogisch wertvoll.
Gerade hier hätte die Schule einen Ansatz, möglicherweise gar eine Aufgabe zu wirken. Glücklicherweise lassen sich manche Lehrerinnen und Lehrer nicht durch widrige Umstände des Alltags und bildungspolitische Forderungen von Kraus abhalten.
Oder täuschen wenige, besonders engagierte Lehrer und Lehrerinnen darüber hinweg, dass die Masse der Pädagogen eher mit Zurückhaltung auf digitale Medien und die damit verbundenen Herausforderungen blickt?
LH: Zumindest ist das ja mal so, dass der Fachunterricht häufig noch computerfrei ist, während die Arbeitsplätze der Republik, zumindest in Dienstleistungsberufen längst digitalisiert worden sind. Die Anforderungen der Berufswelt in Sachen Digitalisierung kann Schule so sicher nicht erfüllen.
Wenn man die Entwicklung – anders als Herr Kraus – als Chance begreift, wie könnte dann der optimale Unterricht der Zukunft aussehen? Wo liegt das Potenzial für ein besseres, anderes, zeitgemäßes Lernen, das den Schülern mehr Verantwortung überträgt?
LH: Zunächst sollte man sich erst einmal darauf verständigen, dass Medienkompetenz mehr ist, als sich in einer Projektwoche mit den Gefahren der Digitalisierung zu befassen.
Ich komme aus der Erwachsenenbildung. Und auch da gilt es, neue Lernformate die durch die Nutzung von digitalen Medien unweigerlich entstehen, in den Alltag zu übernehmen. Wenn die Lernenden einen Zugriff auf das Wissen des Internets haben, bedeutet das, dass den Lehrenden weniger die Rolle des Wissenden zukommt als die der Modierierenden, Strukturierenden.
Zumindest lädt die Digitalisierung und die damit einhergehende inflationäre Verfügbarkeit von sich stets verändertem Wissen noch mehr als vorher dazu ein zu überprüfen, was denn eigentlich wirklich gelernt werden soll. Gibt es überhaupt noch einen allgemeingültigen Bildungskanon. Oder steht nicht längst die Hinwendung zur Vermittlung von Kompetenzen komplett im Vordergrund?
Spätestens da kann die Medienkompetenz im Alltag des Lernens gar nicht ausgespart werden, denn außerhalb von Schule und Weiterbildung ist ja die Digitalisierung allgegenwärtig, ganz gleich ob im Berufsalltag oder in der Freizeit. Spätestens am Schultor schalten alle Sekundarschüler ihre Handys wieder ein.
Die Nutzung der digitalen und sozialen Medien verändert das Lese-, Lern und Kommunikationsverhalten der Kinder und Jugendlichen. Muss man das nur negativ sehen oder liegen in dieser Veränderung auch Chancen?
LH: Es ändert sich ja auch das Kommunikationsverhalten von Erwachsenen! *LOL* Ernsthaft: Kommunikation unterzieht sich ja ständig einem Wandel. Und neue Kommunikationswege stehen stets auf dem Prüfstand. So wurde in meiner Kindheit vor dem übermäßigen Fernsehgenuss und der damit einhergehenden Verblödung gewarnt. Heute geht es um die Digitale Demenz. Und der Buchdruck war ohnehin eine gefährliche Erfindung, weil Bücher in die Hände der Unwissenden gelangen.
Schön wäre doch, wenn die institutionalisierte Bildung die rasante Veränderung der Kommunikation aktiv mitgestaltet, damit Schule auf das (zunehmend digitalisierte) Leben vorbereitet.
Jugendkommunikation gibt es ja nicht erst seit gestern. Unweigerlich wird sie zum Zeitgeist und überlebt sich dann möglicherweise bereits in der nächsten Generation.
Wie könnte die „neue Lernlust“ aussehen?
LH: Digitales wird ja erst richtig lustvoll, wenn man es teilt. Und wenn das dann noch offline passiert, macht es gleich noch mehr Freude. Das heißt, gemeinsames Erleben kann durch das digitale Kommunikation ja noch gesteigert werden. Meine Wahrnehmung ist, dass Kids das wissen.
Lesenswertes dazu gibt es übrigens ganz frisch im Blog vom bloggenden Lehrer Bob Blume: „Lernlust“: Auswertung der Blogparade
 
 
Lars Hahn ist Bildungsmanager, Karriereexperte und Geschäftsführer der LVQ Weiterbildung gGmbH Mülheim an der Ruhr. Der Diplom-Pädagoge beschäftigt sich in seinem Blog SystematischKaffeetrinken unter anderem mit der Beeinflussung von Bildung und Arbeitswelt durch Digitalisierung und Social Media.
 
 
Verweise:
Deutschlandradio Kultur Interview vom 25.02.2015: Lehrerverband warnt vor „totaler Zwangsdigitalisierung“
http://www.deutschlandradiokultur.de/schule-lehrerverband-warnt-vor-totaler-zwangsdigitalisierung.1008.de.mhtml?dram%3Aarticle_id=312601&utm_campaign=buffer&utm_content=bufferadca0&utm_medium=social&utm_source=twitter.com
 
Kommentar: Die Mär der “totalen Zwangsdigitalisierung”
http://www.mobilegeeks.de/artikel/die-maer-der-totalen-zwangsdigitalisierung-kommentar/
 
„Lernlust“: Auswertung der Blogparade
http://bobblume.de/2015/02/25/lernlust-auswertung-der-blogparade/