Kürzlich begegnete mir auf einer Dienstreise eine junge Frau. Ich wartete in der Bahnhofshalle auf meinen Zug und bemerkte sie eher nebenbei. Irgendwie schien sie etwas orientierungslos. Sie stand lange vor der Anzeigentafel mit den nächsten Abfahrten und starrte darauf, in der Hand ihr Smartphone. Zuerst dachte ich, sie macht Fotos. Dann ging sie aber zum Aushangfahrplan und hielt das Handy ganz dicht zwischen den Fahrplan und ihre Augen und mir dämmerte: Die junge Dame ist stark kurzsichtig. Sie kann die Schrift – auch mit einer Brille – nicht entziffern. Aber ihr Smartphone kann es. Sie benutzte es einfach als Lupe und war so in der Lage, sich eigenständig ohne fremde Hilfe zurechtzufinden.

Natürlich, Technik war immer schon dazu da, dem Menschen das Leben zu erleichtern. Aber hier geht es mir um etwas anderes: digitales Lernen und Inklusion. Beide Debatten werden bisher weitgehend getrennt voneinander geführt. Wenn wir über Inklusion reden, dann schauen wir vor allem auf die Systemebene, auf fehlendes Lehrpersonal, mangelnde Kompetenzen, besorgte Eltern. Und es werden oft Extrembeispiele aufgeführt – sowohl positive als auch negative. Beim digitalen Lernen richtet sich der Blick meist in Richtung technischer Ausstattung an Schulen, didaktische Anwendbarkeit und Verbesserung der Lernergebnisse. Meist dreht sich die Diskussion dabei um die Menschen im regulären Bildungssystem. Manchmal bekommt man fast den Eindruck, es ginge darum, eine neue digitale Bildungselite zu schaffen: höher, schneller, weiter – für alle, die sich eigentlich selbst helfen könnten.

Seltener geht es auch um gesellschaftliche Teilhabe, den für mich viel interessanteren Aspekt an dem Thema. Ich bin Pädagogin. Eine meiner größten Hoffnungen ist die, dass die Digitalisierung des Lernens Menschen den Zugang zu Bildung ermöglicht, die ihn bisher nicht oder nur eingeschränkt haben. Dazu gehört für mich auch das Thema Inklusion – ganzheitlich betrachtet. Hier eröffnet die Digitalisierung ungeahnte Möglichkeiten. Mit vergleichsweise geringem Aufwand ließe sich mit Hilfe von Lernprogrammen und digitalen Tools das Leben vieler Menschen mit Beeinträchtigung erleichtern und echtes, inklusives Lernen durch personalisierte Angebote ermöglichen – was wiederum den Zugang zu den Regelinstitutionen des Bildungswesens und die ganz normale Teilhabe am Lernangebot erleichtern würde.

Die Lupen-App der jungen Frau am Bahnhof ist da ein Beispiel. Es gibt inzwischen Programme, die in Gebärdensprache übersetzen können – fantastisch für taub-stumme Menschen und alle, die mit ihnen kommunizieren möchten, aber keine Gebärden beherrschen. Die Möglichkeit, Lernstoff auf individuellen Lernwegen und angepasst an das Lerntempo des Einzelnen anzubieten, ist auch so ein Beispiel. Das Start-up Goalbook aus den USA hat eine Software entwickelt, die Lehrern ermöglicht, ihren Schülern ganz individuelle Lernaufgaben und -wege bereit zu stellen. Der Fokus liegt dabei ganz bewusst auf Schülern mit besonderen Bedürfnissen. Die Lehrer einer Schule können Fortschritte und Schwierigkeiten notieren und sich mit Kollegen austauschen. Bei einem Lehrerwechsel gehen diese Infos nicht verloren und wenn man das weiterdenkt, wäre das auch bei einem Schulwechsel möglich – und damit würde eben dieses Problem gelöst, das sich gerade für Inklusionskinder und ihre Eltern häufig stellt. Da gäbe es bei uns in Deutschland sicher ein paar Datenschutz-Fragen zu klären, aber das würde sich für die Betroffenen sehr lohnen.

Digitales Lernen löst sicher nicht jedes Problem und es ersetzt auf keinen Fall kompetente Pädagogen, aber es kann Türen öffnen: Für mehr gesellschaftliche Teilhabe und eine gerechtere Chance auf die bestmögliche Bildung für jeden.