Der letzte Blogbeitrag zum Thema „Virtual Reality Learning“ endete mit der These, dass nach der ersten Begeisterung für die bisher eher marketing-orientierten VR-Lernangebote eine intensivere Einbettung in didaktische Konzepte und entsprechende Standardisierungen folgen sollten. Andernfalls könnte es passieren, dass Anwender das Interesse am Virtual-Reality-Lernen schon nach einer kurzen Hype-Phase wieder verlieren.

Es gibt heute schon gute Beispiele, in denen das Lernen mit Virtual Reality (VR) durchdachten didaktischen Konzepten folgt. Diese Anwendungen lassen sich vor allem den folgenden vier Lernszenarien zuordnen:

  • Komplexe Prozesse verstehen – hierbei werden aus Scans von Objekten (z.B. einem menschlichen Herzen) oder Computer-Konstruktionsdaten (z.B. von einer Maschine) virtuelle Modelle im 3D-Raum erstellt, die man von allen Seiten betrachten und auch verändern kann. Beispiel: Social Virtual Learning (SVL) wurde dies für eine Bogenoffset-Druckmaschine realisiert. Auszubildende können u.a. den Lauf des Papiers durch die Walzen beim Farbauftrag oder bei der Bogenwendung verfolgen und einzelne Walzen aus dem System herausnehmen. Denkbar sind als Themen auch Abläufe in der Historie (z.B. der Dreißigjährige Krieg), um die Komplexität der verfeindeten Parteien und der zeitlichen Abfolge der Ereignisse zu demonstrieren.
  • Verhaltenstraining – damit komplexere Handlungsabläufe im Arbeitsalltag zur Routine werden, können sie mit VR beliebig oft trainiert werden. Dies gilt auch für das Training des richtigen Verhaltens in Ausnahmesituationen. Beispiel: Im Projekt „Tracy VR“  bekämpft man einen Brand in einem Krankenzimmer. Diese Anwendung für das Pflegepersonal in Kliniken beinhaltet auch die Handhabung eines realen Feuerlöschers, dessen Position durch Controller im virtuellen Raum erfasst wird. Ähnliches gilt für die Reinigung eines Düngemitteltanks in der Landwirtschaft im Osnabrücker Projekt „Glassroom“.
  • Schulung von Softskills – durch Interaktionen mit anderen Menschen bzw. Avataren lassen sich im künstlichen Raum auch sogenannte Softskills entwickeln, z.B. Kommunikationskompetenzen oder Soziale Kompetenzen. Beispiel: Das Telekommunikationsunternehmen Swisscom trainiert  im virtuellen Raum Kundengespräche. Die VR-Anwendung ermöglicht ein „Distance-Coaching“, bei dem sich Lehrende und Lernende an unterschiedlichen Orten befinden können. Die VR-Umgebung schirmt das Lernszenario von realen Trainingsräumen oder Büros ab und vermittelt stattdessen die Atmosphäre eines Verkaufsraums.
  • Motorik trainieren – mit VR lassen sich in einem gefahrenfreien Raum Bewegungsabläufe trainieren, bei denen es auf Präzision und Routine ankommt. Beispiel: Im Förderprojekt MESA lässt sich das Schweißen üben, ohne dass Auszubildende sich verletzen können. Die Ausbilder sehen auf dem Monitor das Bild aus der VR-Brille und können – anders als in einer engen Schweißkabine – sofort Hilfestellungen bieten.

Für Lernziele, die zu diesen Kategorien passen, sind VR-Anwendungen demnach gut geeignet. Es ist hingegen nicht zu erwarten, dass wir in einigen Jahren auch Themen wie „Buchhaltung“ oder „Excel für Einsteiger“ im virtuellen Raum behandeln. Für diese Themen ist ein dreidimensionaler Raums nicht nötig, um wirklich bessere Lernprozesse oder -ergebnisse zu erzielen.

Um eigene Lernthemen auf „VR-Tauglichkeit“ zu prüfen und einen virtuellen Raum lernförderlich zu gestalten, hilft auch die Beantwortung folgender Fragen: Ist es sinnvoll, dass sich Lerner durch einen Raum bewegen oder können sie auf einer Stelle stehen bzw. sitzen? Sollen Lernende für sich alleine lernen oder mit anderen gemeinsam? Ist es aufwändig, die Lernumgebung künstlich im Rechner zu erzeugen oder wäre ein 3D-Foto oder -Video geeigneter?

Hier sollten sich Lerncontent-Entwickler, VR-Gerätehersteller, Fachverlage, Branchenverbände, Bildungsinstitutionen und Anwender-Unternehmen zusammenfinden, um gezielt über Potenziale und Grenzen des VR-Lernens zu diskutieren und gegenseitig von ihren Erfahrungen zu lernen. Hieraus könnten Lernszenarien als didaktische Standardkonzepte entstehen, die sich besonders gut zum Lernen mit VR-Systemen eignen.

Einige Vorbilder zur stärkeren Kooperation zwischen den Stakeholdern im VR-Lernen gibt es übrigens schon:

  • Beim „Roundtable Virtual Reality“, im November 2017 von Torsten Fell ins Leben gerufen, tauschen sich VR-Anwenderunternehmen in Barcamp-Formaten aus.
  • Ein größerer Teil der Hersteller von VR-Lernanwendungen haben sich im Ersten Deutschen Fachverband für Virtual Reality e.V. (edfvr) zusammengetan.
  • Auf der Konferenz Learnext.space in Hannover (27./28.06.2018) zeigen 20 Hersteller und Nutzer ihre VR-Systeme.
  • Das BMBF-geförderte Projekt „SVL2020“ veranstaltete am 08.05.2018 in Wiesloch das erste Treffen eines Konsortiums zur Findung gemeinsamer didaktischer Konzepte und Verwertungsstrategien für das Lernen mit Virtual Reality. Ferner wurde diskutiert, wie neue Anwendungen kompatibel sind zu den bereits bestehenden VR-Autorensystemen, damit ein Austausch und eine Veränderung dieser Anwendungen leichter möglich ist. [Anfragen an: hagenhofer@zfamedien.de].

Wir stecken mitten in der Pionierphase beim Lernen mit Virtual Reality. Der weitere Prozess der Einführung könnte ähnlich verlaufen wie vor rund fünfzehn Jahren beim „Blended Learning“, bei dem sich allmählich eine bestimmte Dramaturgie und der standardisierte Lernszenarien durchgesetzt haben. Solche didaktischen Konzepte können dann am besten entstehen, wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen: Miteinander statt Gegeneinander muss die Devise fürs VR-Lernen der Zukunft lauten.