Die Bildungschancen in Deutschland sind ungleich verteilt. Doch wie können Bildungschancen im Schulsystem nachhaltig verbessert werden? Welche Ansatzpunkte gibt es innerhalb und außerhalb des Bildungssystems? Welche Rolle können frühkindliche Bildung, die Flexibilisierung von Bildungswegen und Lehrkräfte spielen? Wir haben mit den Bildungsforschern Kai Maaz und Markus Lörz darüber gesprochen, welche Veränderungen sie für dringend notwendig halten, um Bildungschancen gerechter zu verteilen. 

Wo und wie müsste man ansetzen, um Bildungschancen im Schulsystem zu verbessern?

Um die Bildungschancen aller Schüler:innen zu verbessern, brauchen wir in Deutschland einen ganzheitlichen Ansatz. Die Maßnahmen müssten sowohl an den verschiedenen Phasen des Lebens- und Bildungslaufes ansetzen als auch die jeweils relevanten Akteure adressieren. Dabei dürfen nicht nur die Bedingungen innerhalb des Bildungssystems betrachtet werden, sondern auch das Individuum, die Familie und die gesellschaftlichen Bedingungen außerhalb der Schule. Anders formuliert: „Bildungsverbesserungen lassen sich nur dann erreichen, wenn die Handlungsmöglichkeiten aller Akteur:innen berücksichtigt werden – von den bildungspolitisch Verantwortlichen über die Interessengruppen bis hin zu den leitend und pädagogisch Verantwortlichen ‚vor Ort‘. […] Zudem sind nicht nur Akteur:innen innerhalb der Bildungsinstitutionen (unterrichtliche und außerunterrichtliche) zu beachten, sondern auch vor- und außerschulische Lernorte und die dort geltenden Wirkungslogiken. Eine solche systemisch ausgerichtete Schul- und Unterrichtsentwicklung muss auch den sozialen Raum berücksichtigen, in dem Bildung stattfindet. (Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung 2024, S. 25).

Grundsätzlich gilt, je früher die Maßnahmen zur Kompensation von Lern- und Entwicklungsunterschieden einsetzen, desto wirkungsvoller können sie sein. Angesichts der bereits zu Schulbeginn bestehenden Leistungsunterschiede müsste man also vor Schulbeginn ansetzen und etwaige Entwicklungsrückstände frühzeitig diagnostizieren und intervenierende Maßnahmen einleiten. Den unterschiedlichen Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten in den Familien sollte gezielt durch Bildungsangebote in den Kindertageseinrichtungen und Schulen begegnet werden. Dabei dürfte die systematische Verankerung des Prinzips der individuellen Förderung helfen, um den mitunter unterschiedlichen Leistungsbedürfnissen der Schüler:innen besser gerecht zu werden. Wenngleich individuelle Förderung und zusätzliche Bildungsangebote allen Schüler:innen zugutekommen, sollten diese Maßnahmen helfen, damit alle Schüler:innen ein Mindestmaß an Basiskompetenzen erreichen.

Innerhalb des Bildungssystems könnte eine weitere Flexibilisierung der Bildungswege helfen, um frühe Bildungsentscheidungen und Misserfolge im späteren Bildungsverlauf zu korrigieren. In den entscheidenden Übergangspassagen des Bildungsverlaufs könnte zudem eine individuelle Elterninformation helfen, um zu realitätsgetreuen Elternvorstellungen/-aspirationen zu gelangen und herkunftsspezifische Verzerrungen auszugleichen. Dies erfordert allerdings Ressourcen und wird nur funktionieren, wenn 1. die Rolle der Lehrerkräfte gestärkt wird, 2. ablenkende Aufgaben reduziert, 3. Unterstützungssysteme aufgebaut und weitere Kapazitäten geschaffen werden.

Was müsste sich ihrer Meinung nach ändern, damit wir uns in zwanzig Jahren nicht wieder über das gleiche Thema unterhalten?

Um mehr Bildungsgerechtigkeit zu erzielen, wird es erforderlich sein, das Thema der Bildungsgerechtigkeit beständig auf die bildungspolitische Agenda zu bringen. Zudem werden wir als Gesellschaft ein Verständnis von kompensatorischer Chancengleichheit entwickeln müssen und sollten versuchen dieses umzusetzen. Denn wo ein Bildungssystem Ungleiches gleichbehandelt, wird es nicht gelingen, allen die gleichen Lern- und Bildungschancen zu bieten und die vorliegenden Bildungspotentiale bestmöglich zu fördern. In diesem Zusammenhang wird sich auch die Bildungsforschung weiterentwickeln müssen und sollte es nicht bei der Analyse von Entstehungsfaktoren sozialer Ungleichheiten belassen. Vielmehr wird es für den Abbau von Bildungsungleichheiten wichtig sein, intervenierende Möglichkeiten des Abbaus von Bildungsbarrieren zu entwickeln, einzusetzen und in ihrer Wirkung zu evaluieren. Um schulische Kompetenzen deutlich zu verbessern und sicherzustellen, dass möglichst viele Schüler:innen die Mindeststandards in den Basiskompetenzen erreichen, können groß angelegte Förderprogramme wie das in diesem Herbst gestartete Startchancen-Programm allein nicht die Lösung sein. Zusätzlich bedarf es auch einer breiten und nachhaltigen Verankerung von professionellen Qualifizierungskonzepten für das pädagogische Personal, damit Veränderungen langfristig greifen können (vgl. Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung 2024).

Mal angenommen, Bildungschancen wären in Zukunft gerechter verteilt. Was würde das für Schule bedeuten?

Angesichts der zunehmenden Heterogenität und beständig hohen sozialen Ungleichheit stehen die Schulen der Zukunft vor einer großen Aufgabe. Wenn man die oben skizzierten Punkte adressiert und als Gesellschaft, Politik und Forschung den Gedanken einer kompensatorischen Chancengleichheit entsprechend mitträgt, dann wäre es schon denkbar, dass die Schule zunehmend die Rolle der Kompensation von ungleichen Eingangsbedingungen gerecht wird. Inwiefern diese Ansätze aber tatsächlich zu einem Mehr an Bildungsgerechtigkeit und weniger sozialer Ungleichheit führen, hängt auch davon ab, wie sich die Ungleichheitsmechanismen unter den veränderten Vorzeichen verhalten. Eine zentrale Voraussetzung für den langfristigen Abbau von sozialen Ungleichheiten ist aber, dass die Vision der Chancengerechtigkeit aktiv verfolgt, und das Thema gesellschaftlich und politisch stärker ins Bewusstsein gerückt wird.

 


Literatur:

Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung (2024). Bildung in Deutschland 2024. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu beruflicher Bildung. wbv Publikation. 

Zur Studie „20 Jahre PISA: Soziale Bildungsungleichheiten im Fokus“ 

 

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