Dieser Beitrag wurde verfasst von: Stefanie Rother.

Der Name „Rütli“ ist Programm. Vor exakt fünf Jahren sorgten die Lehrer der Berliner Rütli-Hauptschule mit einem Brandbrief bundesweit für viel Furore. Ein noch größerer Medienhype trug anschließend dazu bei, dass eine Schule quasi über Nacht zu Deutschlands Terrorschule gebrandmarkt wurde. Seitdem ist viel passiert – die Rütli-Schule heißt nun „Campus“ und wirbt mit einem neuartigen, nachhaltigen Bildungskonzept, das sich nicht zuletzt die Schaffung eines gemeinsamen Sozialraums für Berlins Problembezirk Neukölln zum Ziel gesetzt hat.

Froschskulpturen am Eingang des “Campus Rütli — CR²”
Froschskulpturen am Eingang des “Campus Rütli — CR²”

An einem tristen Märztag machen wir uns auf den Weg nach Berlin, um uns einen eigenen Eindruck vom Modellprojekt „Campus Rütli – CR²“ zu verschaffen. Bei klirrender Kälte und rauem Wind erreichen wir die Eingangspforte des Campus, an der wir von zwei übergroßen, farbenfrohen Froschskulpturen empfangen werden.Sie bilden einen erfrischenden Farbklecks in einer Umgebung, die von grauen Altbauten und Graffiti-Schmierereien geprägt ist. Wie uns Herr Lehnert, pädagogischer Leiter und Quartiersmanager des Campus Rütli, später berichten wird, sind die Sozialindikatoren wie Arbeitslosigkeit und seine Folgefaktoren im sozialen Brennpunkt Berlin-Neukölln doppelt so hoch wie in Gesamt-Berlin. Herr Lehnert beschreibt die spezielle Situation des Berliner Stadtbezirks sehr eingängig. Neukölln verfällt demnach in zwei Teile; während der Süden des Bezirks mit seinen Ein-Familien-Häusern als gehobene Wohnadresse angesehen wird, lebt im nördlichen Altbaugebiet fast ausschließlich die sozial schwache Bevölkerungsgruppe. Die Bewohner sind zum Teil in zweiter Generation arbeitslos und kommen aus den unterschiedlichsten Ländern der Welt. Herr Lehnert versteht Neukölln als „kleine Welt für sich“, die sich auch dadurch auszeichnet, dass hier keine Probleme unter den Teppich gekehrt werden. Es werden Lösungen gesucht und gefunden – den besten Beweis liefern die vielschichtigen Veränderungsprozesse rund um die Rütli-Schule, die in den vergangenen Jahren schrittweise zum Aufbau des Campus beigetragen haben.

Wir spazieren gemeinsam über das Gelände und erhalten einen Einblick in die farbenfrohe Welt des Rütli-Campus. Dicht an dicht liegen hier seine unterschiedlichen Module nebeneinander; sie alle haben ein Stück ihrer Autonomie zugunsten des integrativen Gesamtkomplexes aufgegeben. Neben der Kindertagesstätte „Villa Kunterbunt“ fallen sofort der leuchtend bunte Jugendclub „Manege“ ins Auge sowie der Rütli-Spielplatz. Letzterer wurde in einem Projekt gemeinsam mit Jugendlichen und Bürgerbeteiligung aufgebaut.
Insgesamt umfasst das Campusgelände eine Fläche von 47900 m², die seit den 70er Jahren als Schulerweiterungsgelände ausgewiesen ist. Ende Mai wird hier ein weiteres Bauprojekt verwirklicht; eine dreiteilige Sporthalle, die auch als Ort für kulturelle Veranstaltungen genutzt werden kann, soll das Schulgelände ebenso erweitern wie ein Werkstattgebäude, das Schülern im Rahmen der „Berufsorientierung“ wertvolle Erfahrungsräume eröffnet.

Schulgebäude “Campus Rütli — CR²”
Schulgebäude “Campus Rütli — CR²”

In Mitten der unterschiedlichen Betreuungs-, Erziehungs- und Unterstützungsinstitutionen liegt das Schulgebäude, in dem Real- und Hauptschüler viele Jahrzehnte getrennt voneinander lernten und lebten (unterschiedliche Anfangs- und Pausenzeiten). Von Herrn Lehnert werden wir hier in die warmen Räumlichkeiten des eingerichteten Elterncafés geführt und in den Gründungsmythos des Campus eingeweiht. Nachdem die Schule, die auf eine 500-jährige Geschichte zurückblicken kann, im Jahr 2006 traurige Berühmtheit erlangte, begann ein umfassender Entwicklungsprozess. Gemeinsam mit der Stiftung „Zukunft Berlin“ entstand im Jahr 2007 die Idee einen Campus zu errichten, der ein umfassendes Sozialisations- und Bildungsangebot für die heranwachsende Generation bereitstellen sollte. Das Quartiersmanagement nahm sich daraufhin der Bildungslandschaft an und holte zunächst alle Schulen an einen Tisch. Diese erkannten schnell, dass sie mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatten und den Kampf nur gemeinsam gewinnen konnten. Seit 2007 bildet nun ein gegründeter lokaler Bildungsverbund den Rahmen für verschiedene Initiativen und Modellvorhaben. Dazu zählen das Vorhaben „Ein Quadratkilometer Bildung“, mit dem sich die Freudenberg-Stiftung an der Schularbeit im Quartier beteiligt, und das Modellprojekt „Campus Rütli – CR²“. Das Rütli-Konzept, das unter der Schirmherrschaft von Christina Rau verwirklicht wird, sieht vor, einen Sozialraum mit einer Gemeinschaftsschule als Rückgrat zu erschaffen.
Die Idee des Rütli-Campus wurde damals geboren; doch wie konnte ein solches Mammut-Projekt in der Praxis gelingen? Eine zentrale Bruchstelle lag nach Ansicht von Herrn Lehnert beim Lehrerkollegium. Den Lehrkräfte wurde zunächst die Möglichkeit eingeräumt sich wegzubewerben, sollten sie mit dem neuen Konzept und den neuen Herausforderungen nicht einverstanden sein. Niemand sollte hier zu einem Neuanfang gezwungen werden. Letztlich war es aber gerade dieser Neuanfang im Kollegium, der zu atmosphärischen Veränderungen in der Schule beitrug und maßgeblich vom „Wollen“ der Lehrerschaft getragen wurde. Neben den Lehrkräften wurden auch Schüler und Eltern zeitnah in das Vorhaben mit eingebunden. Es wurde ein Elternzentrum errichtet und ein Elternkursprogramm gemeinsam mit der VHS erarbeitet, so dass sich Eltern zunehmend für die Schule interessierten. Für die Schüler war nach Angaben von Herrn Lehnert insbesondere die ästhetische Umgestaltung der Schule von Bedeutung. Diese trug dazu bei, dass sie eine andere Haltung zur Schule einnahmen, sich mit ihr identifizierten und die Bemühungen um die Verbesserung ihres Schulumfeldes wahrnahmen. Schritt für Schritt entstand somit eine Wertschätzungskultur, in der jeder Schulabschluss für wichtig erachtet wird und Schüler vielfältige Angebote und Hilfestellungen erhalten. Für Herrn Lehnert steht fest, ein solches Modellprojekt kann auch an anderer Stelle funktionieren. Vorrangig seien es die pädagogischen Überlegungen und nicht die Gelder gewesen, die das Vorhaben ins Leben riefen und stützten. Die tragende Säule der Schulentwicklung bzw. die Vision des Rütli-Campus wurde seiner Meinung nach zuletzt in einem Sinnbild von Frau Heckmann, der Schulleiterin, optimal zum Ausdruck gebracht: „Wir können die Richtung des Windes nicht ändern, aber wir können die Segel richtig setzen.“
Auch heute, vier Jahre nach dem großen Mediengeschrei, ist der Name Rütli verbrannt. Doch die Akteure des Rütli-Campus halten vehement an dem Namen fest, um den beschädigten Ruf ihrer Schule zu wenden. Ein Vorhaben, das nicht nur von Ausdauer und Mut, sondern auch von einer großen Portion Motivation zeugt. Mit ihren Bemühungen um ein integriertes Bildungsangebot, das Lernen, Arbeiten und Freizeitgestaltung kombiniert, bewegt sich die Schule mit großen Schritten auf ihr Ziel zu. Mögen die Anstrengungen nicht nur dem Ruf, sondern auch dem einzelnen Schüler zugute kommen.
Stefanie Rother