Mit dem Ausbau von Ganztagsschulen Anfang der Nullerjahre im Zuge des Investitionsprogramms „Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB) waren viele Hoffnungen verbunden, von der Überwindung des „PISA-Schocks“ bis hin zu mehr Chancengerechtigkeit. So alt wie die IZBB-Reform ist auch die Diskussion um die richtige Organisationsform des Ganztags – offen, teilgebunden oder gebunden. Haben sich die Hoffnungen von damals erfüllt? Mit welchem Modell erreichen wir „die richtigen“ Kinder? Diesen Fragen gehe ich in meiner kürzlich als Discussion Paper und DIW-Wochenbericht erschienenen Studie nach. Betrachtet habe ich dafür Grundschulkinder in Westdeutschland. Die Befunde: Im Bildungssystem benachteiligte Kinder nehmen häufiger am Ganztag Teil und profitieren davon zum Teil auch stärker. Besonders förderlich sind Ganztagsangebote für die Entwicklung sozialer Kompetenzen – wenn sie freiwillig genutzt werden. Das spricht für eine offene Ausgestaltung des Ganztags.

Ein zentrales Anliegen bei der Gestaltung neuer Bildungsangebote ist, dass sie möglichst von der richtigen Zielgruppe genutzt werden sollten, also von Personen, die – so die Hoffnung – besonders davon profitieren können. Diese Zielgruppe wird aber nicht immer erreicht, selbst wenn das Angebot theoretisch allen zur Verfügung steht. Geht ein freiwilliges Angebot an der Zielgruppe vorbei, dann könnte es sinnvoll sein, es entweder exklusiv für diese Gruppe anzubieten oder es verpflichtend für alle zu gestalten. Im Fall von Ganztagsbetreuung würde man in diesem Szenario wohl für das gebundene Modell plädieren.

Die MTE-Methode

Um sich der Frage, wie die erwünschte Zielgruppe am besten erreicht werden kann, empirisch anzunähern, müssen die (kausalen) Wirkungen von Ganztagsbetreuung mit den Selektionsmechanismen – also wer davon freiwillig Gebrauch macht – in Zusammenhang gebracht werden. Die Methode der Marginalen Behandlungseffekte(Marginal Treatment Effets, MTE) tut dies, indem sie Personen mit hoher und niedriger „Resistenz“ unterscheidet. Im Fall von Ganztagsschulen meint Resistenz solche Faktoren, die sich negativ auf die Wahrscheinlichkeit auswirken, dass ein Kind an Ganztagsprogrammen teilnimmt. Dabei sind sozio-ökonomische Merkmale wie der Migrationshintergrund, Bildungsgrad und das Einkommen der Eltern bereits herausgerechnet. Sie umfasst also Merkmale, die in den Daten nicht direkt enthalten sind, wie z. B. die Motivation des Kindes und die elterliche Präferenz für die Art der Nachmittagsbetreuung ihres Kindes.

Mit Hilfe einer MTE-Analyse zum Kindergartenausbau in den 1990er-und frühen 2000er Jahren kam man zum Beispiel zu dem Schluss, dass Kinder mit Migrationshintergrund besonders vom Besuch eines Kindergartens profitieren, diesen aber aufgrund einer hohen Resistenz der Eltern seltener besuchen (Link zur Studie). Das Gegenteil ist bei jungen Erwachsenen der Fall. Hier weiß man, dass Personen, die freiwillig höhere Bildungsangebote wie Universitäten wahrnehmen, auch am meisten davon profitieren (Link zur Studie). Bisher ungeklärt war, wie sich der Zusammenhang zwischen Selektionsmechanismen und den Wirkungen von (freiwilligen) Bildungsangeboten in den Altersgruppen dazwischen verhält, wo die Entscheidung für oder gegen die Teilnahme sowohl von elterlichen als auch von den Präferenzen des Kindes abhängen kann.

 

Wirkungen einer freiwilligen Teilnahme

Wendet man die MTE-Methode nun auf den Ausbau von Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter an, so zeigt sich ein Selektionsmuster ähnlich dem bei Hochschulen: Diejenigen, die „freiwillig“ teilnehmen, profitieren am meisten – und zwar in Bezug auf ihr Sozialverhalten. Konkret verhalten sich diese Kinder im Alter von neun bis zehn Jahren durch den Besuch einer Ganztagsschule prosozialer, haben eine bessere mentale Gesundheit, sind offener, extrovertierter und emotional stabiler. Für Kinder mit einer hohen „Resistenz“, die eher „unfreiwillig“ teilnehmen, finden sich hingegen weder Effekte auf deren Sozialverhalten noch auf deren Schulleistungen.

 

Kaum Wirkung auf Schulleistungen

Bezüglich der Schulleistungen – gemessen in Form der Mathe- und Deutschnoten in derselben Altersgruppe der Neun- bis Zehnjährigen – profitieren von der Ganztagsbetreuung leider weder die Gruppe der Freiwilligen noch der Unfreiwilligen. Immerhin sind Effekte bei Kindern alleinerziehender Eltern nachweisbar. Diese Gruppe profitiert vom Ganztagsbesuch nicht nur in Bezug auf ihre sozio-emotionale Entwicklung, sondern auch in Form besserer Deutschnoten. Dies kann als Beitrag zu mehr Chancengleichheit gedeutet werden, da Kinder von Alleinerziehenden oftmals im Bildungssystem benachteiligt sind. Dass bei allen anderen Gruppen jedoch keine Leistungssteigerungen nachweisbar sind, unterstreicht aber vor allem, dass die Hausaufgabenbetreuung an Ganztagsschulen – über alle Schülergruppen hinweg – bislang nicht die erhofften Erfolge erzielt.

 

Schlussfolgerungen für den Ganztagsausbau

Was bedeuten meine Ergebnisse nun für den weiteren Ausbau des Ganztags hin zu einem Rechtsanspruch ab 2026?

Sie belegen zum einen die Vorteile einer offenen Gestaltung der Ganztagsbetreuung, bei der Eltern und Kinder freiwillig über die Teilnahme daran entscheiden können. Dies ist eine positive Neuigkeit für den bisherigen Ausbau des Ganztags im Primarbereich, da hier mit einem Anteil von aktuell 87 Prozent aller Ganztagsschulen ohnehin die offene Form dominiert. Gleichwohl sollte darauf geachtet werden, dass Ganztagsschulen von Kindern aus allen sozio-ökonomischen Gruppen besucht werden, um eine gute Mischung der Kinder sicherzustellen. Statt einer Verpflichtung in Form des gebundenen Modells sollten Schüler:innen mit einer qualitativ hochwertigen Hausaufgabenbetreuung und qualitativ hochwertigen Freizeitangeboten gelockt werden – Ganztagsschulen sollten ein Ort sein, an dem Kinder ihre Zeit verbringen wollen und nicht müssen.

Zudem unterstreichen die Befunde den sozialen Aspekt des Ganztags. Die zusätzliche Zeit, die Kinder in Ganztagsschulen mit Gleichaltrigen beim Mittagessen, den Hausaufgaben und vor allem den Sport- und Freizeitangeboten verbringen, hat positive Auswirkungen auf deren prosoziales Verhalten, die mentale Gesundheit und die Persönlichkeit. Dies ist ein wichtiger Befund, denn soziale Fähigkeiten sind nicht nur an und für sich in unserer Gesellschaft wichtig. Sie stehen auch in einem positiven Zusammenhang mit dem Bildungserfolg und dem späteren Erfolg auf dem Arbeitsmarkt. Insbesondere angesichts der drastischen Einschränkungen sozialer Aktivitäten für Kinder während der Corona-Pandemie zeigt dies einmal mehr, welche wichtige Rolle Ganztagsbetreuung für die Sozialisation von Kindern spielt.

Enttäuschend ist hingegen der Befund, der die Leistungen der Schüler:innen betrifft: Der rein quantitative Ausbau vom Ganztag hin zum Rechtsanspruch für Grundschulkinder bis 2026 wird nicht ausreichen, um dem jüngst erneut vom IQB attestierten Abwärtstrend in den Leistungen entgegenzuwirken. Dabei käme den Ganztagsschulen hierbei eine wichtige Rolle zu – schließlich sind die vom Abwärtstrend besonders betroffenen Gruppen, insbesondere Schüler:innen mit niedrigem sozio-ökonomischem Status, an Ganztagsschulen überrepräsentiert.

Die pädagogische Qualität von Betreuungsangeboten steht und fällt mit der Art, wie wir Personal ausbilden, bezahlen und anerkennen. Ein ambitionierter quantitativer Ausbau muss dies im Blick haben. Aktuell kann am Beispiel der stark unterbesetzten Kitas beobachtet werden, wie die Qualität von Betreuungsangeboten unter einem schnellen Ausbau leiden kann. Auch hier erfolgte ein zügiger Ausbau der U3-Betreuung in Folge des Rechtsanspruchs 2013. Auch hier gibt es zunehmend Probleme, genügend qualifiziertes Personal zu finden, das bereit ist, unter schlechten Arbeitsbedingungen und bei geringer gesellschaftlicher Anerkennung gute Arbeit zu leisten.

Dass es Schulen in Deutschland aktuell bereits an qualifiziertem Personal auch für den Ganztag mangelt, verheißt nichts Gutes für die Zukunft der pädagogischen Qualität von Ganztagsbetreuung. Neben den finanziellen Mitteln für den quantitativen Ausbau müssen Bund und Länder dringend Geld für einen qualitativen Ausbau bereitstellen. Einheitliche Qualitäts- und Ausbildungsstandards wären ein erster Schritt in die richtige Richtung. Ansonsten laufen Ganztagsschulen Gefahr, ihr riesiges Potenzial zu verspielen.