Wie mit „Missionen“ der Motor der Schulentwicklung gestartet werden kann

Bedeutende Innovationen, die zu großen technischen Fortschritten führen, ereignen sich meist ganz plötzlich und unerwartet. Denn sie beruhen auf der gelungenen Kombination unterschiedlicher Teiltechnologien. Erst wenn diese weit genug entwickelt sind, gelingt auf einmal der große Sprung nach vorne. Solchen Ereignissen können viele erfolglose Versuche vorausgehen, die Beobachter daran zweifeln lassen, ob es mit der neuen Technologie noch jemals etwas wird. So war Elektromobilität lange Zeit eine Sache von etwas kauzigen Menschen in klapprigen Plastikkisten. Doch irgendwann waren Batterietechnologie und Ladeinfrastruktur weit genug entwickelt. Dann kam Tesla. An die umständliche Bedienung von internetfähigen Handys hatten wir uns schon gewöhnt. Doch eines Tages waren GPS, Touchscreens und mobiles Internet ausgereift. Dann kam das iPhone. Mag sein, dass wir auch im Schulbereich kurz vor solchen Durchbrüchen stehen.

Auf den ersten Blick scheint das genaue Gegenteil der Fall zu sein. In der Corona-Krise zeigte sich in aller Deutlichkeit, dass die größten Probleme der Schulen auch 20 Jahre nach der ersten PISA-Studie als ungelöst und inzwischen auch als chronisch anzusehen sind. Die soziale Schlagseite des Schulsystems besteht weiterhin, nach wie vor kann am Ende der neunten Klasse fast jeder vierte Jugendliche nicht richtig lesen, schreiben und rechnen. Dazu haben sich die Schulen in der Krise als wenig widerstandsfähig gegen die unerwartete Unterbrechung ihrer täglichen Routinen erwiesen – nicht zuletzt, weil  Zukunftsthemen wie die Digitalisierung nicht rechtzeitig angepackt wurden.

Dabei hatte der PISA-Schock von 2001 große Anstrengungen und milliardenschwere Investitionen einer breiten Koalition aus Politik und Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft ausgelöst, um die Schulen besser, gerechter und moderner zu machen. Diese Bemühungen sind auch keineswegs ergebnislos geblieben. Die Bildungsforschung kann heute die wesentlichen Probleme der Schulen viel besser beschreiben und erklären. Die Arbeit der Schulen wird umfassender überprüft als früher und ihre Qualität anhand gemeinsamer, bundesweit gültiger Maßstäbe gemessen. Ganztagschulen und frühe Sprachförderung wurden massiv ausgebaut und viele Schulen haben sich auf den Weg gemacht, um eigene Lösungen für ihre Probleme zu finden. Dabei werden sie von einer Vielzahl öffentlicher wie privater Initiativen und Projekte unterstützt. Diese Maßnahmen weisen in die richtige Richtung und die Chancen für echte Fortschritte erscheinen größer als je zuvor.

Doch bislang haben alle diese Entwicklungen keine durchschlagende systemische Veränderung bewirkt. Statt echten Fortschritten in der Fläche sehen wir begrenzte „Inseln des Gelingens“, die angesichts der Größe der Herausforderungen allzu verstreut sind und oftmals unter prekären finanziellen Bedingungen existieren. Die Veränderungen reichen auch nicht tief genug: Gerade der Unterricht als die ‚Kerntechnologie‘ von Schulen hat sich als weitgehend resistent gegen größere Anpassungen erwiesen. Im Ergebnis ist trotz großer Anstrengungen der von allen Beteiligten gewünschte Erfolg ausgeblieben.

Haben wir also alles falsch gemacht? Führen alle Anstrengungen letztlich in eine Sackgasse? Müssen wir uns damit abfinden, dass unsere Initiativen auch in Zukunft immer nur Tropfen auf dem heißen Stein bleiben?

Das wären voreilige Schlüsse. Der Blick auf hochinnovative Bereiche wie etwa die Informationstechnologie oder Elektromobilität legt eine weitaus optimistischere Sichtweise nahe. Die eingangs genannten Beispiele zeigen, dass Innovationsprozesse mit einem Motor zu vergleichen sind. Damit er funktionieren kann, braucht es viele verschiedene Bestandteile, die auf die richtige Weise angeordnet sind. Fehlt nur ein einziges Bauteil oder passen die Teile nicht zueinander, springt er nicht an.

Könnte es also sein, dass ähnlich wie im Fall von Tesla oder dem iPhone in den letzten Jahren bereits viele wichtige Bausteine für die Entwicklung neuer Schulen entstanden sind und wir nur noch nicht gelernt haben, sie richtig zusammenzusetzen? Könnte es außerdem sein, dass an der einen oder anderen Stelle noch Bausteine fehlen? Und könnten wir den Motor zum Laufen bringen, wenn wir diese Schwachpunkte ganz gezielt abstellen?

Wenn diese Sichtweise zutrifft, gibt es eine gute Nachricht. Die Innovationsforschung kann uns dabei helfen, den Bauplan für unseren Motor zu entwerfen. Dieser Zweig der Forschung hat in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht. Wir wissen heute viel mehr darüber, wie große gesellschaftliche Herausforderungen mit Aussicht auf Erfolg bearbeitet werden können. In den vergangenen Jahren sind besonders „Missionen“ ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Dabei handelt es sich nicht um religiöse Kreuzzüge, sondern um neuartige Instrumente der Innovationspolitik, die sich auch für eine Weiterentwicklung des Schulsystems hervorragend eigenen würden. Ich will einmal an drei wichtigen Merkmalen von Missionen zeigen, wie das konkret aussehen könnte.

Große Herausforderungen und konkrete Ziele: Im Zentrum einer Mission steht jeweils eine große gesellschaftliche Herausforderung. Sie wird mit ganz konkreten, langfristigen Zielen verbunden. Eine Mission in der Bildung könnte zum Beispiel an dem Problem ansetzen, dass trotz vieler Gegenmaßnahmen noch immer fast jeder vierte Jugendliche in der 9. Klasse nur sehr schlecht lesen, schreiben und rechnen kann. Eine nationale Mission „Lesen, Schreiben und Rechnen für alle Kinder“ würde das deutliche Signal setzen, dass dieser Zustand nicht länger hingenommen wird. Eine missionsorientierte Innovationspolitik im Bildungsbereich könnte sich deshalb zum Ziel setzen, dass in 25 Jahren wirklich alle Schulabgänger die Basiskompetenzen beherrschen.

Mobilisierung aller Kräfte für experimentelle Lösungsentwicklungen: Zweitens richten Missionen die ganze Bandbreite gesellschaftlicher Ressourcen auf die Bewältigung der Herausforderungen und die Erreichung der Ziele hin aus. Sie mobilisieren die Beiträge vieler verschiedener Problemlöser aus dem öffentlichem wie privaten Sektor sowie der Wissenschaft, die sich gemeinsam auf den Weg machen, um eine Vielzahl neuer und auch unkonventioneller Ideen zu erproben und dauerhaft an der Entwicklung von Lösungen zu arbeiten.

Eine schulische Mission würde also viel stärker als bisher auf die Zusammenarbeit von staatlichen Schulen, Bildungsforschung und privaten Bildungsunternehmen und -initiativen setzen. Dabei würden die Beteiligten Gelegenheit bekommen, in langfristigen experimentellen Prozessen ganz unterschiedliche Lösungsansätze zu erproben und die erfolgreichsten Lösungen miteinander zu kombinieren. Die Innovationsforschung zeigt, dass aus solchen Entwicklungsprozessen auf die Dauer immer leistungsfähigere und effizientere Lösungen hervorgehen können – vorausgesetzt, man lässt den Beteiligten genügend Zeit und ausreichenden Spielraum dafür.

Umsetzung durch Innovationsagenturen: Drittens unterscheidet sich auch die Umsetzung missionsorientierter Politik von herkömmlichen Förderprogrammen. Eine wichtige Rolle spielen spezialisierte Organisationen wie die „Agentur für Sprunginnovation (SprinD)“. Ausgestattet mit eigenem Budget, hochqualifiziertem Personal und beträchtlicher Autonomie spüren sie erfolgversprechende Entwicklungen frühzeitig auf, bringen die Entwickler:innen in den Austausch miteinander und verhelfen den neu entstehenden Lösungen mit vielfältigen Unterstützungsmaßnahmen zum Durchbruch.

Auch im Schulbereich könnten neuartige staatliche Innovationsagenturen ins Leben gerufen werden. Im Rahmen einer Mission zur Sicherung für Basiskompetenzen würde eine solche „Agentur“ bereits vorhandene vielversprechende Ansätze ebenso identifizieren wie weiße Flecken und Lücken in unserem Wissen und in der Landschaft bereits existierender Lösungen. Im nächsten Schritt würde sie die erforderlichen Entwicklungsprozesse anstoßen, dauerhaft durch die Bereitstellung von Geld und Wissen unterstützen und den produktiven Austausch aller Beteiligten gewährleisten. Darüber hinaus könnte sie auch eine maßgebliche Rolle für den Transfer und die Verbreitung der neu entstehenden Lösungen spielen.

Fazit

Missionen in der Bildung sind deshalb so vielversprechend, weil es mit ihrer Hilfe gelingen könnte, die strukturelle Innovationsschwäche unseres Schulsystems zu überwinden, die größere Fortschritte bislang verhindert hat. Dafür sollten Missionen erstens die vielen erfolgversprechenden Ansätze, die es bereits gibt, stärker bündeln, um sie auf wenige zentrale Herausforderungen hin auszurichten. Zweitens könnten sie dazu beitragen, dort Lücken zu schließen, wo es noch keine wirksamen Lösungen gibt. Und schließlich würden sie dabei helfen, unterschiedliche Ansätze mit dem Ziel zu kombinieren, deutlich leistungsfähigere neue Lösungen für die Probleme der Schulen zu erarbeiten und zu verbreiten. Auf diese Weise könnte es mit der Hilfe von Missionen gelingen, die Motoren der Schulentwicklung in Gang zu setzen und so aus der aktuellen Stagnation heraus die Weichen für ein chancengerechtes, leistungsfähiges und modernes Schulsystem im 21. Jahrhundert zu stellen.