Mehr als die Hälfte aller Jugendlichen im Alter von 14 bis 20 Jahren beschäftigt sich gerne oder sogar sehr gerne mit dem Thema Berufsorientierung und fühlt sich über ihren Wunschberuf gut informiert. Gleichzeitig stehen in etwa 40 Prozent der Befragten dem Thema Berufsorientierung mit eher gemischten Gefühlen gegenüber. Sie äußern im Vergleich zu den anderen beispielsweise weniger Motivation, sich mit Fragen rund um ihre berufliche Zukunft zu beschäftigen und sind unsicherer, ob sie über ausreichend Informationen zum Wunschberuf verfügen. Das zeigt eine aktuelle Befragung unserer Kolleg:innen aus dem Projekt „Chance Ausbildung“ der Bertelsmann Stiftung.

Im Rahmen der Studie, bei der insgesamt knapp 1.700 Jugendliche um Selbsteinschätzungen zu ihren individuellen Erfahrungen bei der Berufsorientierung gebeten wurden, zeigen sich zudem Unterschiede, beispielsweise in der Informationsbeschaffung und Nutzung von Unterstützungsmöglichkeiten in der Berufsorientierung. So berichtet jeder vierte Jugendliche im Rahmen der Befragung, sich nicht selbstständig zum Thema Beruf informiert zu haben. Woran liegt das? Gibt es einen Zusammenhang zwischen Bereitschaft bzw. Fähigkeit, sich über potenzielle Berufsfelder zu informieren und anderen Fähigkeiten oder Einstellungen von Jugendlichen? Welche Rolle spielt es beispielsweise für die Informationsbeschaffung über potenzielle Berufe, wie gut Jugendliche sich generell dazu motivieren können, selbstständig neue Themenfelder zu erschließen, wie gut sie ihre persönlichen Stärken kennen oder ob sie sich sicher im Umgang mit komplexen Informationen fühlen? Kurz: Hängt das individuelle Kompetenzerleben in Bezug auf die eigenen überfachlichen Kompetenzen mit den Erfahrungen in weitgehend selbstgesteuerten Lern- und Rechercheprozessen wie der Berufsorientierung zusammen? Um dieser Frage nachzugehen, haben wir uns der Befragung der Kolleg:innen angeschlossen und die Jugendlichen zusätzlich zu den Bereichen zur Berufsorientierung um eine Selbsteinschätzung zu ihren sozialen, emotionalen und selbstregulativen Fähigkeiten mittels einer Fragenbatterie gebeten.

Überfachliche Kompetenzen messen – Das BESSI-Instrument 

Überfachliche Kompetenzen werden bereits seit vielen Jahren in Form von theoretisch abgesicherten und methodisch gut eingeführten Kurzinstrumenten gemessen (vgl. z. B. Reeve & Sickenius, 1994). Seit einiger Zeit arbeitet auch in Deutschland ein Forschungsteam der GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften (Lechner et al., 2022) daran, die Messung überfachlicher Kompetenzen in einer stark überarbeiteten, neueren Form zu ermöglichen. Dazu adaptierten und erprobten sie ein aus dem englischsprachigen Raum stammendes Instrument, das „Behavioral, Emotional, and Social Skills Inventory“ (kurz BESSI) (Soto et al., 2022; Deutsche Version BESSI-G: Lechner et al., in Vorbereitung). Dieses Selbsteinschätzungsinstrument umfasst eine Vielzahl von Fragen zu fünf globalen (überfachlichen) Fähigkeitsbereichen: Engagement, Kooperation, Selbstmanagement, Innovation und Emotionale Belastbarkeit. Hinter diesen fünf Fähigkeitsbereichen stehen wiederum jeweils verschiedene soziale, emotionale und selbstregulative Kompetenzen (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1: „Behavioral, Emotional, and Social Skills Inventory“ (kurz: BESSI) Quelle: GESIS/Clemens Lechner (Online verfügbar unter: https://osf.io/b3r6g/ Stand: 21.06.2022)

Eine Kurzversion dieses Inventars wurde im Rahmen der Befragung zur Berufsorientierung eingesetzt: Die Jugendlichen wurden gebeten, anhand von 32 Aussagen zu überfachlichen Kompetenzen auf einer Antwortskala von 1 (das kann ich überhaupt nicht gut) bis 5 (das kann ich extrem gut) Stellung zu ihren selbsteingeschätzten Kompetenzen zu nehmen. Eine ausführliche Analyse der Daten ist zurzeit in Arbeit − im Folgenden geben wir aber vorab schon einmal einen Einblick in erste Ergebnisse. Dabei beschränken wir uns auf eine kleine Auswahl von Fragen aus dem Inventar, um die generelle Relevanz von überfachlichen Kompetenzen für die Bewertung einer gelingenden Berufsorientierung aus Sicht von Jugendlichen zu skizzieren.

Überfachliche Kompetenzen in der Selbsteinschätzung: Erste Ergebnisse 

Grundsätzlich sind die befragten Jugendlichen sehr selbstbewusst, wenn es um ihr Selbstkonzept im Bereich überfachliche Kompetenzen geht: Je nach Fragestellung ist in etwa die Hälfte (+/− 10 %) der Befragungsteilnehmenden davon überzeugt, sehr gute bis extrem gute soziale, emotionale und selbstregulative Fähigkeiten zu besitzen. Allerdings zeigen sich dabei z. T. deutliche Unterschiede in der Selbsteinschätzung, wenn man die Antworten der Jugendlichen beispielsweise nach Alter, Geschlecht oder nach Schulbildung differenziert. Es wird deutlich, dass über einen Großteil der Fragen hinweg der prozentuale Anteil derer, die die eigenen überfachlichen Kompetenzen positiv bewerten, mit zunehmendem Alter wächst, in der Mädchengruppe höher ist als in der Jungengruppe und bei Jugendlichen mit höherer Schulbildung größer ist als bei Jugendlichen mit mittlerer oder geringer Schulbildung. Exemplarisch verdeutlicht Abbildung 2 diese Tendenzen am Beispiel von fünf ausgewählten überfachlichen Kompetenzen, nämlich in den Kompetenzbereichen Tatendrang, Selbstvertrauen, Selbstständigkeit, Beharrlichkeit und Auffassungsgabe.

Abbildung 2: Überfachliche Kompetenzen in der Selbsteinschätzung von Jugendlichen (in %)

Quelle: Berufliche Orientierung im dritten Corona-Jahr, Bertelsmann Stiftung (HRSG.), Online verfügbar unter: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/berufliche-orientierung-im-dritten-corona-jahr-all

Überfachliche Kompetenzen und Berufsorientierung – Hand in Hand?

Die Befragung von Jugendlichen erfolgte im Projekt „Chance Ausbildung“ bereits mehrfach. Über die verschiedenen Erhebungszeitpunkte zeichnen die Daten ein über die Jahre hinweg weitgehend unverändertes Bild: So ist z. B. jeder Zweite der Jugendlichen (ca. 53 %) der Meinung, dass es zwar genügend Informationen gebe, man sich aber nur schwer in dieser Informationsdichte zurechtfinden könne. Demgegenüber stehen 25 Prozent der Befragten, die die Informationen ebenfalls als ausreichend beurteilen und sich gut in diesem Informationsangebot zurechtfinden. 18 Prozent sagen, dass es zu wenig Informationen zu den verschiedenen Berufen gebe, 4 Prozent haben keine Meinung dazu. Auffällig und für unsere Fragestellung besonders relevant: Diejenigen Jugendlichen, die sich tendenziell eher schlecht in dem Informationsangebot zurechtfinden, sind gleichzeitig verhaltener in ihrer Selbsteinschätzung, was ihre überfachlichen Fähigkeiten betrifft: Sie erleben sich selbst als weniger kompetent in den Aspekten Auffassungsgabe (z. B. komplexe Informationen verstehen), Beharrlichkeit (z. B. an einer Aufgabe bleiben, auch wenn sie langweilig ist), Selbstständigkeit (z. B. Entscheidungen selbstständig treffen), Tatendrang (z. B. sich aufraffen, Dinge anzupacken) oder auch Selbstvertrauen (z. B. die eigenen Stärken kennen). Gleichzeitig bestätigen die Jugendlichen mit selbsteingeschätzt geringeren überfachlichen Kompetenzen, dass sie sich durch die Schule weniger gut über Berufe informiert fühlten. Verschärfend kommt für diese Teilgruppe hinzu, dass ihr die selbstständige Recherche zu berufsbezogenen Themen tendenziell schwerer fiel. Möglicherweise spielt hier auch das Niveau der Schulbildung bzw. der erzielte Schulabschluss der Jugendlichen eine Rolle. Erste Hinweise darauf zeigen sich in unserem Befund aus der Umfrage, nach dem sich Jugendliche mit niedrigerer Schulbildung in den meisten überfachlichen Kompetenzen im Vergleich zu Heranwachsenden mit höherer Schulbildung schlechter einstuften. Dieses Ergebnis gibt insofern Anlass zur Diskussion, als dass die selbstständige Informationsbeschaffung für Jugendliche gerade in pandemiebedingten Zeiten (also der Zeitspanne, in der die befragten Jugendlichen sich beruflich orientieren mussten), aber auch unabhängig davon ein wichtiger Zugang für die Orientierung zum Thema Berufswahl war (und je nach Verlauf der Pandemie bleibt bzw. erneut werden könnte).

Fazit  

Die Befunde der Jugendbefragung zeigen, dass Jugendliche auch in der Corona-Zeit je nach individueller Situation unterschiedliche Erfahrungen mit dem Thema Berufsorientierung gemacht haben. Dabei wird auch deutlich, dass die Perspektive der Befragten auf ihre berufliche Orientierung im Zusammenhang mit ihren selbstberichteten sozialen, emotionalen und selbstregulativen Kompetenzen stehen: Positive Erfahrungen mit den Angeboten der Berufsorientierung gehen einher mit einer positiven Selbsteinschätzung in relevanten überfachlichen Kompetenzen und umgekehrt. Dabei regen bereits die hier in aller Kürze aufgezeigten Ergebnisse zur Diskussion darüber an, wie es gelingen kann, dass sich auch Jugendliche mit weniger positiven Selbsteinschätzungen in überfachlichen Kompetenzen hinsichtlich beruflicher Orientierung gut informiert fühlen, sich gerne mit dem Thema Berufswahl beschäftigen und damit zuversichtlich in ihre ganz persönliche Zukunft blicken. Es gilt hier eben nicht, die fachlichen Kompetenzen und Interessen der Jugendlichen „allein“ zu adressieren, sondern auch ihre überfachlichen Fertigkeiten zu sehen und ernst zu nehmen – sowohl in der Art und Weise wie die Angebote zur inhaltlichen Orientierung über mögliche Berufsfelder aufbereitet werden, als auch in der Beratung, welche Zukunftskompetenzen an welchen Stellen im Berufsleben relevant sind. Dabei sollte thematisiert werden, welche Fähigkeiten Jugendliche innerhalb und außerhalb von Schule benötigen, um sich für ihren identifizierten Wunschberuf zu qualifizieren.

 


Literatur

Lechner, C. M., Knopf, T., Napolitano, C. J., Rammstedt, B., Roberts, B. W., Soto, C. J., & Spengler, M. (2022). The Behavioral, Emotional, and Social Skills Inventory (BESSI): A German Adaptation and Further Validation. PsyArXiv (Print). May 12. https://doi.org/10.31234/osf.io/r7pyj

Reeve, J., & Sickenius, B. (1994). Development and validation of a brief measure of the three psychological needs underlying intrinsic motivation: the AFS scales. Educational and Psychological Measurement, 54(2), 506–515.

Soto, C. J., Napolitano, C. M., Sewell, M. N., Yoon, H. J., & Roberts, B. W. (2022). An integrative framework for conceptualizing and assessing social, emotional, and behavioral skills: The BESSI. Journal of Personality and Social Psychology. https://doi.org/10.1037/pspp0000401