Seit 2017 bietet die Universität Bielefeld das Programm „Lehrkräfte Plus – Perspektiven für geflüchtete Lehrkräfte“ an. Inzwischen gibt es noch vier andere Standorte in Nordrhein-Westfalen (NRW). Im Gespräch mit Schule21 berichten Kristina Purrmann und Renate Schüssler, wie viele internationale Lehrkräfte das Programm bereits durchlaufen haben, was die Programm-Teilnehmenden bewegt und wie sich die berufliche Situation der Absolvent:innen gestaltet. 

 

Ihr wart in Nordrhein-Westfalen die ersten, die das Programm „Lehrkräfte Plus“ angeboten haben. Wie ist es dazu gekommen? Was hat euch persönlich angetrieben? 

Das Leid der schutzsuchenden Menschen aus Syrien und anderen Ländern, die insbesondere seit 2015 in Deutschland und anderen europäischen Ländern Zuflucht suchten, hat uns tief bewegt. Wir hatten uns beide schon lange mit Fragen von Migrationspädagogik und dem Menschenrecht auf Bildung beschäftigt. 2015/16 haben wir uns dann gefragt: Wie könnten die Universitäten darauf reagieren? Was könnten wir persönlich und in unseren Arbeitsfeldern beitragen, um die Situation insbesondere von zugewanderten Lehrkräften zu verbessern? So war es schon fast eine glückliche Fügung, dass die Bertelsmann Stiftung Ende 2016 mit ähnlichen Fragestellungen auf die Universität Bielefeld zukam und wir gemeinsam überlegen konnten: Welche Perspektiven des beruflichen Neuanfangs gibt es für Lehrkräfte mit Fluchthintergrund? Wie könnte ein universitäres Qualifizierungsprogramm konzipiert sein, das geflüchtete Lehrkräfte dort abholt, wo sie stehen, und wie könnten sie auf einen Einsatz in Schule und Unterricht vorbereitet werden? Welche Institutionen und Akteure sollten wir mit an Bord holen? So entstand das Projekt Lehrkräfte Plus in Nordrhein-Westfalen.  

Lehrkräfte Plus wollte es den neu zugewanderten Lehrkräften erleichtern, ihre professionellen Kompetenzen und Erfahrungen einzubringen und beruflich Fuß zu fassen. Ein weiteres Plus antizipierten wir für Schulen, die ihre Kollegien entsprechend der gesellschaftlichen und schulischen Realität mit diesen Lehrkräften diverser aufstellen könnten.  

Lasst uns das Programm einmal genauer betrachten: Was genau lernen die Teilnehmenden? Welche Bestandteile hat „Lehrkräfte Plus“? 

Lehrkräfte Plus ist ein eigenständiges Vollzeitprogramm, das jeweils auf ein Jahr ausgelegt ist. Kernbestandteile sind Sprachkurse, ein mehrmonatiges Schulpraktikum sowie, als Markenzeichen des Programms, die Pädagogisch-Interkulturelle Qualifizierung (PIQ), die Orientierung im Bildungssystem bietet und den Systemwechsel begleitet. Diese Elemente werden durch fachdidaktische, berufssprachliche und weitere Angebote ergänzt. Eine intensive individuelle Beratung und Betreuung der Teilnehmenden erfolgt im ganzen Programmjahr. Die einzelnen Bausteine von Lehrkräfte Plus sowie Gemeinsamkeiten und Spezifika der fünf Standorte (Bielefeld, Bochum, Duisburg-Essen, Köln, Siegen) sind in einem gemeinsamen Sammelband beschrieben, der kürzlich erschienen ist (Netzwerk Lehrkräfte Plus Nordrhein-Westfalen, 2023) Mit Lehrkräfte Plus soll eine Brücke hin zum beruflichen Neuanfang als Lehrkraft im neuen Land gebaut werden.  

  

Ihr beschreibt euch als lernendes Programm. Wie hat „Lehrkräfte Plus“ sich verändert, seitdem ihr es eingeführt habt? Welchen Anteil hatte das Feedback der Teilnehmenden daran? Welche anderen Gründe gab es für Weiterentwicklungen? 

Stimmt, wir haben in den letzten Jahren unglaublich viel dazu gelernt – und dies trifft auch auf das Programm zu. Wir haben gelernt, was wir an der ursprünglichen Konzeption verbessern können, welche Bedarfe Teilnehmende und ihre Schulen haben, wie Beratung konzipiert und gestrickt sein muss, wie weit wir – sprachlich, didaktisch, in Bezug auf die beruflichen Perspektiven – fliegen können und wo uns aber auch die Flügel gestutzt werden. Wir haben vieles gelernt über innovative und kreative Lösungsansätze, aber auch über die Beharrungskräfte des Systems.  

Für die kontinuierliche Weiterentwicklung berücksichtigen wir das Feedback der Teilnehmenden, das wir zum einen tagtäglich in den Kursangeboten erhalten, zum anderen aber auch aus eigenen und den externen Evaluationen ziehen. Auch das Feedback von Lehrenden und der Schulseite – auf politisch: administrativer und praktischer Ebene – ist wichtig. In unserem Mentor:innenprogramm, einem begleitenden Workshopangebot, sind wir nah dran an den Herausforderungen, die sich den Teilnehmenden und ihren Mentor:innen in den Schulen stellen. So geht zum Beispiel die Umgestaltung der Praxisphase von einem rein semesterbegleitenden Praktikum hin zu einem Wechsel von Block- und semesterbegleitenden Praxisphasen auf Feedback und Beratungen mit den Mentor:innen zurück.  

Und ja, ein enormes Entwicklungspotential hat sich durch die ausgesprochen enge Zusammenarbeit der fünf Standorte ergeben. Wir haben einen regelmäßigen Austausch sowie Treffen, Strategiesitzungen und Veranstaltungen in unterschiedlichen Gremien. Mit der neuen Förderphase ab 2023 durch das Ministerium für Kultur und Wissenschaft (MKW) NRW werden wir neben standortübergreifenden Alumnitreffen auch ein internes Fortbildungsangebot für die Mitarbeitenden von Lehrkräfte Plus starten, z. B. zu rassismuskritischen Fragestellungen. Auch die Zusammenarbeit am landesweiten Portal Lehrkräfte Plus und die bereits erwähnte neue Netzwerkpublikation sind ein Zeichen dieser intensiven Kooperation.  

Wisst ihr, wie es euren Teilnehmenden nach Beendigung des Programms ergeht? Ist es für sie einfach, eine Stelle in einer Schule zu bekommen oder sehr voraussetzungsreich? 

Mit dem Übergang in das Anschlussprogramm “Internationale Lehrkräfte Fördern” (ILF), das mittlerweile von allen fünf Bezirksregierungen des Landes NRW angeboten wird, ist der erste Schritt in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung als Lehrkraft relativ einfach. Im ILF-Programm erfahren die Absolvent:innen von Lehrkräfte Plus einen begleiteten Berufseinstieg: Sie unterrichten unter Begleitung und besuchen weitere Seminare. Allerdings schließt das Programm nach zwei Jahren nur mit einer Teilnahmebescheinigung ab. Ein Teil der Absolvent:innen des ILF-Programms wird dabei unterstützt, eine Stelle für den Seiteneinstieg zu finden. Gelingt das, gibt es die Möglichkeit, ein entfristetes Beschäftigungsverhältnis zu erreichen. Neben dem sogenannten kleinen Seiteneinstieg in Form der Pädagogischen Einführung (PE), in dem die Lehrkräfte als Ein-Fach-Lehrkräfte angestellt sind, konnten einzelne Absolvent:innen auch den sogenannten großen Seiteneinstieg über den berufsbegleitenden Vorbereitungsdienst (OBAS) absolvieren und damit die volle Lehramtsbefähigung erwerben. Auf Antrag kann nach erfolgreichem ILF-Abschluss die Pädagogische Einführung zudem um ein halbes Jahr verkürzt werden. Unter bestimmten Voraussetzungen bietet sich also ein Weg zu einer dauerhaften Beschäftigung – und hier können sich die Zahlen von Lehrkräfte Plus in NRW auch im bundesweiten Vergleich erst einmal sehen lassen.  

Und nun kommt leider das große ABER: Da das Land über den Seiteneinstieg die Unterrichtsversorgung in allen Fächern absichern möchte, ist es in den Regionen des Landes, wo der Lehrkräftemangel weniger gravierend ist, sehr schwierig, eine Stelle mit Entfristungsoption zu finden. So hängt also die Möglichkeit einer entfristeten Einstellung ab vom ‚richtigen‘ Fach, von der ‚richtigen‘ Gegend und von weiteren glücklichen Umständen wie einer aktiven Unterstützung durch Schulleitungen, Mentor:innen und Mitarbeitende der Bezirksregierungen. Zudem sind die Absolvent:innen den in Deutschland ausgebildeten Lehrkräften nicht gleichgestellt und müssen mit nur einem Unterrichtsfach bei der Einstellung auch beträchtliche finanzielle Einbußen in Kauf nehmen.  

 

Was müsste sich auf politischer Ebene verändern, um den beruflichen Wiedereinstieg von internationalen Lehrkräften zu ermöglichen?  

Der berufliche Wiedereinstieg ist ja in den meisten Fällen gegeben. Allerdings nicht der dauerhafte Verbleib. Lehrkräfte Plus ist nicht dafür angetreten, Lösungen für den Lehrkräftemangel zu finden. Das wäre vermessen und instrumentell und an den Bedarfen unserer Zielgruppe vorbei. Der Lehrkräftemangel der letzten Jahre ist zwar eine wichtige Rahmenbedingung für eine größere Offenheit des Systems und durch die Fluchtbewegungen aus der Ukraine sowie durch aktuelle migrationspolitische Änderungen entstehen neue Spielräume, die allerdings für alle geflüchteten Lehrkräfte unabhängig von ihrer Herkunft wirksam werden müssen.  

Um eine Schule der Vielfalt auch auf der Ebene der Lehrkräftekollegien zu stärken und echte Chancen des beruflichen Neuanfangs für Lehrkräfte unabhängig von ihrem Unterrichtsfach zu schaffen, müssen die Spielregeln der Anerkennung und Lehrkräfteeinstellung verändert werden – und zwar dauerhaft, nicht nur im Lehrkräftemangel bedingten On-Off-Modus. Die Lehrer:innenausbildung ist in Deutschland so anders strukturiert als im Rest der Welt, dass eine Ausbildung im Ausland den deutschen Anforderungen nicht gerecht werden kann. Wenn wir nur die in Deutschland vorherrschenden Normalitäten bei der Anerkennung von ausländischen Lehramtsqualifikationen zugrunde legen, wie z. B. zwei oder mehr erfolgreich studierte Unterrichtsfächer, einen Masterabschluss, einen absolvierten Vorbereitungsdienst, dann ist es logisch, dass ein beruflicher Neuanfang für internationale Lehrkräfte stark auf einseitige Anpassung und Abwertungen hinausläuft. Wichtig wäre deswegen eine größere Offenheit für alternative Wege in den Lehrer:innenberuf, was die stärkere Berücksichtigung von migrationsbezogenen Kompetenzen, wie z.B. Mehrsprachigkeit, mit einschließen würde.  

Dies könnte schlussendlich auch dabei unterstützen, den aktuellen Anforderungen von Schule in der Migrationsgesellschaft Rechnung zu tragen. Denn hier hat die Bildungs- und Integrationspolitik – auch im europäischen Vergleich, wie wir durch unsere Forschungen und Kooperationen wissen – das Potenzial, dass die berufliche Re-Integration internationaler Lehrkräfte, wenn nicht in allen, so doch in der Mehrheit der Fälle, eine Win-win-Situation darstellt: für die Lehrkräfte selbst, ihre Familien und ihr soziales Umfeld, für die Schulen im Sinne einer interkulturellen Schulentwicklung sowie für die Bildungs- und Integrationspolitik.