Kinder und Jugendliche mit Behinderungen haben das Recht auf einen diskriminierungsfreien Zugang zu einem inklusiven Schulsystem. Doch 14 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Deutschland zeigen nur sehr wenige Bundesländer ausreichend politischen Willen zum menschenrechtlich gebotenen Aufbau eines solchen Systems.

Das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) hat sich daher mit der Frage befasst, wie der kooperative Föderalismus so gestärkt werden kann, dass ein inklusives Schulsystem entsprechend der Verpflichtung aus Artikel 24 UN-BRK in Deutschland verwirklicht werden kann. Im Rahmen eines Interviews stellt Dr. Susann Kroworsch, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention am DIMR, die wesentlichen Erkenntnisse und Empfehlungen aus der Analyse vor.

Frau Dr. Kroworsch, Sie zeichnen in Ihrer Analyse kein gutes Bild zum Umsetzungsstand des Rechts auf inklusive Bildung. Wie sieht es konkret aus?

Die Datenlage zeigt, dass aktuell im Bundesdurchschnitt noch immer mehr als die Hälfte der Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Sonderstrukturen, nämlich an einer Förderschule, unterrichtet werden. Auch wenn sich viele Landesregierungen vordergründig zu inklusiver Bildung bekennen, findet nur in wenigen Ländern der Aufbau eines inklusiven Schulsystems mit gleichzeitigem deutlichem Rückbau der Förderschulstandorte statt. Das Ergebnis: Die Exklusionsquote, also der Anteil von Schüler:innen an Förderschulen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Schüler:innen, ist bundesweit seit Jahren nahezu gleichbleibend hoch – fast dreifach so hoch wie im europäischen Durchschnitt. Knapp 73 Prozent der Förderschüler:innen verlassen die Förderschule ohne Abschluss und wechseln oft in gesonderte und theoriereduzierte Formen der Ausbildung. Dies mindert wiederum ihre Chancen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und die Exklusionskette setzt sich fort.

In unserer Analyse haben wir aber auch anhand von vier Fallbeispielen illustriert, auf welche konkreten Hürden Eltern und Schüler:innen stoßen. Es zeigt sich zum Beispiel, dass es für manche Eltern oft ein beträchtlicher Mehraufwand ist, einen inklusiven Schulplatz zu organisieren, anderen wird schon früh vermittelt, dass ihr Kind besser auf einer Förderschule aufgehoben sei. Auch gibt es Eltern, die nur aufgrund unzureichender Informationen die Förderschule für ihr Kind wählen.

Worauf führen Sie diese Entwicklungen zurück?

Es gibt einige Bundesländer – wie Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein –, die politisch systematisch das Ziel verfolgen, alle Kinder gemeinsam in der Regelschule zu beschulen. In den meisten Bundesländern zeigen sich allerdings gegenläufige Tendenzen. Dort stagniert der Prozess zur Verwirklichung eines inklusiven Schulsystems oder es sind sogar Rückschritte zu verzeichnen und die Exklusionsquoten steigen sogar wieder, so beispielsweise in Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg.

Hier fehlt der politische Wille und ein klares Bekenntnis zu den Verpflichtungen aus der UN-BRK bzw. es werden die Verpflichtungen oft menschenrechtswidrig fehlinterpretiert und Förderschulen als notwendiger Teil eines inklusiven Schulsystems angesehen und aufrechterhalten oder gar ausgebaut. So bleiben viele erforderliche Schritte wie die Entwicklung von Zeitplänen für den Ausbau wohnortnaher inklusiver Regelschulen oder die Sicherstellung von verpflichtenden inklusiven Aus- und Fortbildungsangeboten für (angehendes) Lehrpersonal aus und notwendige finanzielle und personelle Ressourcen werden nicht ausreichend zur Verfügung gestellt.

Das Argument vieler Landesregierungen ist zudem: Wir brauchen die Förderschulen, weil Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen nur dort richtig gefördert werden können. Es gibt aber bisher keine Studien, die eine wirksame „Förderung” durch die Förderschule belegen. Aktuelle Studien belegen hingegen mehr Vorteile des inklusiven gegenüber segregierendem Unterrichten. Das heißt, dass Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf an allgemeinbildenden Schulen messbar mehr lernen als Schüler:innen an Förderschulen. Darüber hinaus können keine Benachteiligungen für den Lernfortschritt von Schüler:innen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf nachgewiesen werden, die gemeinsam mit Schüler:innen mit einem solchen Bedarf unterrichtet werden.

Auf keinen Fall kann das Elternwahlrecht gegen den von der UN-BRK vorgeschriebenen Umbau des Schulsystems ins Feld geführt werden. Denn das politisch oft zitierte Elternwahlrecht ist ein bloßes „Scheinwahlrecht“, weil in den meisten Fällen keine wohnortnahen Angebote einer hochwertigen inklusiven Beschulung vorhanden sind. Nur dann wäre eine echte Wahlmöglichkeit gegeben.

Welche Möglichkeiten sehen Sie, die Umsetzung eines inklusiven Schulsystems bundesweit und nach einheitlichen Standards voranzubringen?

Wenn die deutliche Mehrheit der Bundesländer bei der bestehenden Kompetenz- und Finanzmittelverteilung – trotz weitreichender nationaler und internationaler Kritik – keine substanziellen Fortschritte macht, glauben wir, dass nur mit einer Stärkung der Bundeszuständigkeit die Umsetzung eines inklusiven Bildungssystems zu erwarten ist. Der Bund muss jetzt stärker seiner Verpflichtung zur Verwirklichung eines inklusiven Schulsystems nachkommen, die er mit Ratifizierung der Konvention eingegangen ist. Er kann sich dieser Verantwortung nicht durch einen Verweis auf die innerstaatliche Kompetenzverteilung, also die Länderzuständigkeit im Bildungsbereich, entziehen. Dazu gehört, mittels einer nachhaltigen Gesamtstrategie, die als Kernelement eine Stärkung der Kooperation von Bund und Ländern im Bildungsföderalismus enthält, stärkere Anstrengungen zur Verwirklichung eines inklusiven Schulsystems zu unternehmen.

Es steht außer Frage, dass die meisten Länder, insbesondere die „Schlusslichter“, damit nicht aus der Verantwortung entlassen werden sollen. Ihr Engagement müssen sie deutlich intensivieren.

Auch die amtierende Regierungskoalition sieht deutlichen Handlungsbedarf bei der Zusammenarbeit im Bildungsbereich und strebt laut Koalitionsvertrag eine „engere, zielgenauere und verbindliche Kooperation“ an. Diese Ankündigung sollte so verstanden werden, dass auch die zentralen Herausforderungen beim Auf- und Ausbau eines inklusiven Schulsystems von diesem politischen Vorhaben umfasst sind.

Wie könnte eine solche Stärkung der Kooperation zwischen Bund und Ländern konkret aussehen?

Hier sind verschiedene Ansätze denkbar, wie beispielsweise dem Bund ergänzende Regelungskompetenzen zu gewähren – beschränkt auf die Grundsätze eines inklusiven Schulsystems –, ohne dass dabei die Bildungshoheit der Länder eingeschränkt wird. Außerdem könnte eine verfassungsrechtliche Grundlage zum kooperativen Handeln – vergleichbar der im Hochschulbereich – geschaffen werden.

Ergänzend ist an eine flankierende Vereinbarung zwischen Bund und Ländern zu denken. In einem solchen idealerweise Staatsvertrag müssten sich Bund und Länder gemeinsam und koordiniert mit konkreten Maßnahmen verpflichten, gegen die Defizite und die Stagnation bei der Umsetzung eines inklusiven Schulsystems innerhalb eines überschaubaren Zeitraums aktiv zu werden.

 


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