Die Erkenntnis, dass die alleinige Hoheit der Bundesländer über die Schulen nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile hat, ist fester Bestandteil jeder Debatte um die Schwächen und Krisen unseres Bildungssystems. Die vielen unterschiedlichen Regelungen, mit denen Schülerinnen und Schüler je nach Bundesland konfrontiert sind, erschweren nationale Bildungsvergleiche und sie erschweren die innerstaatliche Mobilität von Familien mit schulpflichtigen Kindern. Zudem macht die alleinige Verantwortung der Landesregierungen das Thema Schule zu einem der entscheidenden Themen jeder Landtagswahl, mit dem Nebeneffekt, dass längst als notwendig erkannte Reformen gar nicht oder zögerlich angegangen werden, aus Angst, Wähler zu verprellen.

Tatsächlich haben sich Politik und Bürger lange damit arrangiert, dass Modernisierungen des Schulsystems eine zähe Angelegenheit und Bildungschancen je nach Bundesland unterschiedlich verteilt sind. Aber wo liegt die Grenze, hinter der schulpolitische Eigenheiten der Länder nicht mehr als bunte bildungspolitische Landschaft durchgehen, sondern die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse für junge Menschen in Deutschland in Frage stellen? Bei der Bildung von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung dürfte diese Grenze längst überschritten sein. Für sie haben die Unterschiede in den Bildungschancen zwischen den Bundesländern absurde Ausmaße angenommen.

Die Unstimmigkeiten beginnen bereits mit den extrem unterschiedlichen Anteilen der förderbedürftigen Schülerinnen und Schüler je nach Bundesland. Während in Hessen 5,4 Prozent aller Schulkinder schulrechtlich eine Behinderung attestiert wird, sind dies zum Beispiel in Sachsen-Anhalt mit 9,8 Prozent fast doppelt so viele. Es erstaunt immer wieder, wie wenig die betroffenen Bildungsministerinnen und -minister derartig hohe Förderquoten beunruhigen. Denn mit ihnen steigt auch der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die zieldifferent, also nach reduzierten Lehrplänen, unterrichtet werden und in der Regel keinen Schulabschluss erreichen. Das müsste umso mehr beunruhigen, als es für so hohe Anteile von Behinderungen bei Kindern und Jugendlichen keine akzeptable Erklärung gibt, weder medizinisch noch soziologisch.

Ebenfalls eklatant sind die Unterschiede beim Besuch von Förderschulen. In Bremen sind dies nur 0,8 Prozent aller Schülerinnen und Schüler, in Baden-Württemberg dagegen anteilig mehr als sechs Mal und in Sachsen fast sieben Mal so viele. Diese Unterschiede rücken auch die jährlichen Vergleiche der Länder im Bildungsmonitor und ähnlichen Vergleichsstudien in ein anderes Licht. Denn welche Aussagekraft haben die meist im Schnitt besonders guten Lernleistungen der Kinder und Jugendlichen aus dem Süden der Republik, wenn dort besonders viele Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarfen oder gar einer Sonderbeschulung überwiegend aus dem Panel entfernt und deren Lernleistungen gar nicht mit gemessen werden?

Die hohen Förderquoten und die hohen Förderschulbesuchsquoten dieser Länder lassen den Schluss zu, dass es dort an Qualität und an Qualitätsmaßstäben fehlt, sowohl der sonderpädagogischen Diagnostik als auch einer inklusiven Schulpolitik. Während im Bildungsmonitor eher niedriger rangierende Länder wie Hamburg, Bremen und Berlin es in den vergangenen Jahren geschafft haben, ihre Exklusionsquote enorm zu senken, werden heute etwa in Baden-Württemberg sogar mehr Schülerinnen und Schüler in Förderschulen unterrichtet als zu Beginn der inklusiven Entwicklung.

In den schulstatistischen Auswertungen wird üblicherweise nicht beleuchtet, welche Auswirkungen diese Unterschiede für die betroffenen jungen Menschen und ihre Familien haben. Für sie ist nicht nur die Schule, sondern das gesamte Lebensgefühl je nach Bundesland so unterschiedlich, dass kaum noch ein gesamtstaatlicher Zusammenhang erkennbar ist.

Wer in Bremen oder Hamburg wohnt, kann in der Regel damit rechnen, dass das Kind mit Behinderung mit einer gewissen Selbstverständlichkeit in der allgemeinen Schule willkommen ist und aufgenommen wird und dass in den Schulen ein pädagogischer Konsens herrscht, dafür gute Förderbedingungen herzustellen. Dieselbe Familie mit demselben Kind würde in Nordrhein-Westfalen mit Sicherheit von mehreren Personen ausdrücklich ermuntert, sich doch unbedingt auch noch für die Förderschule zu interessieren, während ein überzeugendes Willkommen an der allgemeinen Schule nicht gesichert wäre. In Bayern wiederum würde dieselbe Familie zumeist zur Anmeldung an die Förderschule geschickt, um dann mit Glück im Rahmen einer Partnerklasse gemeinsam mit der Klasse einer allgemeinen Schule unterrichtet zu werden, zumindest in Fächern wie Kunst und Sport.

Für einen Umzug in ein anderes Bundesland muss diese Familie also in Kauf nehmen, die inklusive Bildung des Kindes abzubrechen. Spätestens dieser Zustand ist mit dem Grundsatz der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im Staatsgebiet nicht mehr zu vereinbaren.

Die schulpolitische Autonomie der Länder wird gern mit regionalen Besonderheiten begründet. Diese mögen sich in Schulformen, Regelschulzeiten und Stundentafeln ausdrücken. Aber es ist auch in einer föderalen Demokratie nicht akzeptabel, regionale Mentalitäten, Kulturen und Traditionen als Rechtfertigung für das strukturelle Fernhalten von jungen Menschen mit Behinderung aus den allgemeinen Schulen zu akzeptieren. Der Artikel 3 des Grundgesetzes gilt im gesamten Bundesgebiet, und das gleiche gilt für die mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention auch durch den Bundesrat eingegangenen Selbstverpflichtung zum Aufbau eines inklusiven Bildungssystems.

Die aktuellen Zahlen zur Inklusion im deutschen Schulsystem spiegeln die Entwicklung von 14 Jahren, die vergangen sind, seit die UN-Behindertenrechtskonvention für Deutschland rechtsgültig ist. 14 Jahre hatten die Bundesländer Zeit, eine tragfähige inklusive Entwicklung der Schulen einzuleiten. Mit regional unterschiedlich großen Anlaufschwierigkeiten lassen sich die enormen Unterschiede nach dieser Zeitspanne nicht mehr erklären und ehrlich gesagt fehlt es auch an Anzeichen, dass diese sich in Zukunft angleichen könnten. Es wird Zeit, dass der Bund für die inklusive Entwicklung der Schulen einen Rahmen setzt.


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