Lernen in der Schule frei von Angst, Ausgrenzung oder Mobbing – im Alltag vieler Schulen ist das leider keine Selbstverständlichkeit. Sybille Wanders beschäftigt sich schon lange mit diesem Thema und damit, welche Handlungsoptionen Kinder und Jugendliche in gewaltgeprägten Situationen haben. Schule21 hat mit Sibylle Wanders darüber gesprochen, wie gewaltfreies Lernen in Schulen möglich werden kann.

Gewalterfahrungen auf dem Schulhof oder im Klassenraum können das Lernen von Kindern und Jugendlichen sehr belasten. Seit fast 20 Jahren beschäftigen Sie sich damit, wie sich Gewalt im Schulkontext reduzieren lässt. Welche Ansatzpunkte sehen Sie dafür?

Alle Kinder und Jugendlichen sollten sich in der Schule aufhalten und lernen können, ohne Angst vor Beleidigungen, Ausgrenzungen und körperlichen Schikanen im schulischen Umfeld haben zu müssen. In der Realität sieht das leider nicht immer so aus. Es wird zu oft gehänselt, geschubst, geschlagen. Auch wenn die Schülerinnen und Schüler unter den wachsamen Augen der Pausenaufsicht stehen, lässt sich das nicht immer verhindern. Ich bin daher der Meinung, dass Kinder und Jugendliche lernen sollten, wie sie in solchen Situationen selbst angemessen reagieren können, um kleinere Streitigkeiten möglichst selbstständig, d. h. ohne die Hilfe von Erwachsenen, und ohne Gewaltanwendung auflösen oder sogar vermeiden zu können.

Aber auch für größere Auseinandersetzungen brauchen Schülerinnen und Schüler mögliche Handlungsoptionen, mit denen sie sich selbst im Fall der Fälle helfen können. Und sie sollten auch wissen, wie sie eine solche Konflikt-Situation nicht weiter eskalieren, sondern möglicherweise sogar deeskalieren können. In der Selbstverteidigung gibt es z. B. Methoden, mit denen sich auch Kinder und Jugendliche aus der Umklammerung eines Armes befreien können. Solche Methoden sollten sie kennen, um sich vor körperlichen Angriffen besser schützen zu können. Und natürlich brauchen sie eine klare Kommunikation in einer solchen Situation, dass hier gerade Gewalt gegen sie angewendet wird, die auf dem Schulgelände und natürlich auch an allen anderen Orten, wo sie sich aufhalten, nicht erlaubt ist.

Gerade diese klare Kommunikation fällt vielen Kindern und Jugendlichen aber schwer, besonders in als bedrohlich empfundenen Situationen. Das bedeutet, dass sie gut auf solche Situationen vorbereitet werden müssen. Dazu sollten alternative Handlungsoptionen immer wieder sorgfältig eingeübt werden, am besten in einer stressfreien Umgebung mit spielerischem, bewegungsorientiertem Training.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, das soziale Umfeld der Kinder und Jugendlichen mit in ein solches Training einzubeziehen. Idealerweise gibt es deshalb auch ein begleitendes Angebot für die Lehrkräfte und Eltern, in dem sie sich die gleichen Kompetenzen aneignen können. Das hilft nicht nur ihnen selbst, sondern sie können dann auch den Kindern im Alltag immer wieder Impulse geben, sich ihrer Handlungsoptionen auch ohne eine unmittelbare Gewalterfahrung bewusst zu werden und das Gelernte weiter zu üben und zu erhalten.

Vor diesem Hintergrund wäre es sehr wünschenswert, dass Kinder und Jugendliche ein solches Training nicht nur individuell, sondern im ganzen Klassenverband erleben. Das bietet alle bereits genannten Effekte und kann zudem den Klassenzusammenhalt stärken. Die kleinen Bewegungsspiele aus dem Training, die alle kennen, lassen sich insbesondere in der Grundschule auch immer einmal wieder in den Unterricht einbauen. Wenn sich dann noch weitere Institutionen im Stadtteil oder in der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen in ihren Angeboten dem Thema Gewaltfreiheit widmen würden, böten sich für die junge Generation noch mehr Übungsfelder und das Thema könnte eine richtige Strahlkraft in ihrem Alltag entwickeln.

 

Oft stellen sich Begleitpersonen von Kindern und Jugendlichen ja erst die Frage nach möglichen alternativen Handlungsoptionen, wenn Gewalt auf dem Schulhof oder in Gruppen sichtbar wird. Wäre es nicht wichtig, sich diese Frage unabhängig von solchen Erfahrungen und im Laufe der gesamten Bildungsbiographie immer wieder zu stellen, um gewaltgeprägte Situationen grundsätzlich zu minimieren?

Das sehe ich auch so. Ich finde es wichtig, schon präventiv mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, denn häufig eskalieren Situationen erst durch Unwissenheit über die Wirkung des eigenen Handelns. Da werden Wut und Unzufriedenheit oft an anderen Kindern ausgelassen, ohne zu reflektieren, was diese Aktionen im Gegenüber auslösen können. Oder eine kleine Rangelei wird zu einer handfesten Schlägerei, weil die Beteiligten die Grenzen der anderen nicht wahrnehmen und achten. Wenn Kinder und Jugendliche deutliche Stopp-Signale senden und solche Signale auch erkennen können, wenn andere sie senden, lassen sich solche Situationen oft vermeiden.

Übungen zur Körperwahrnehmung und zur Schulung der Motorik können hilfreich sein, die eigenen Bewegungen und das eigene Verhalten zu regulieren sowie die eigene Körpersprache und die der anderen besser zu verstehen, sodass es gar nicht erst zu einer gewaltbeladenen Situation kommen muss. Andere Übungen, die den Zusammenhalt, Freundschaften und die Integration Einzelner in Gruppen stärken, entziehen Mobbing und Ausgrenzung den Nährboden. Eine Schule, die solche Methoden systematisch, z. B. auch im Sportunterricht oder in Projektwochen, nutzt, kann viel für das Wohlbefinden aller tun. Und letztlich kommt das Geübte den Kindern auch im Ernstfall zugute. Jedes Kind und alle Jugendlichen profitieren davon, wenn ihnen bewusst ist, worauf es in einer Gefahrensituation ankommt.

 

Sie haben jetzt viel von Training und Übungspraxis gesprochen, die Kinder und Jugendliche am besten schon präventiv brauchen, um in kritischen Situationen deeskalierend handeln zu können. Welche besondere Rolle spielt Ihrer Meinung nach körperliche Bewegung dabei, wenn Kinder und Jugendliche den gewaltfreien Umgang miteinander üben?

Vielen Kindern fehlen heute aufgrund ihrer Lebensumstände wichtige motorische Erfahrungen, die aber essenziell für eine eindeutige Körpersprache und gute Körperbeherrschung sind. Sie brauchen, wie wir Erwachsenen auch, ein angemessenes Selbstbewusstsein, um gut miteinander interagieren zu können. Selbstbewusstsein beginnt mit einer aufrechten Körperhaltung, die viele Kinder heute üben bzw. trainieren müssen. Dabei können sie sich mit der Unterstützung von Erwachsenen ihrer eigenen Körpersprache bewusst werden. Zugleich können sie lernen, wie ihre Körpersprache auf andere wirkt. Dafür müssen sie sich körperlich ausprobieren und selbst Erfahrungen sammeln.

Um die eigene Körpersprache für eine Situation passend variieren zu können, brauchen alle Menschen eine gute Motorik. Bewegungsorientierte Übungen sind deshalb ein integraler Bestandteil jedes erfolgreichen Trainings zu gewaltfreiem Umgang miteinander. Die Phasen der aktiven Körpererfahrung und Bewegung müssen aber ergänzt werden um Phasen der gemeinsamen Reflexion. Die wichtigsten Fragen sind dabei: „Wie wirke ich auf den oder die anderen, wenn ich mich in einer bestimmten Art bewege oder eine bestimmte Körperhaltung einnehme?“ und „Welche Optionen habe ich, um eine andere, deeskalierende Wirkung zu erzielen?“, aber auch „Welche Bewegungsabläufe helfen mir ganz konkret, wenn ich schon mitten in einer gewaltvollen Situation stecke und mich zunächst daraus befreien muss?“.

Unabhängig davon, dass eine gute Körperwahrnehmung und ein Bewusstsein über die Wirkung von Körpersprache auch Körpererfahrung durch Bewegung benötigen, bewegen sich Kinder und die meisten Jugendlichen und Erwachsenen auch sehr gerne. Studien belegen, dass Dinge besser im Gedächtnis bleiben, wenn sie mit Bewegung verbunden erlernt werden. Mit körperlicher Bewegung lässt sich deshalb immer eine spaßvolle Lernumgebung gestalten. Und wenn alle motiviert und gemeinsam dabei sind, haben wir auch schon sehr viel für ein gewaltfreies Miteinander erreicht.