Liebe Frau Weichenthal, Sie sind Lehrerin am Familiengrundschulzentrum in Düsseldorf-Oberbilk und beteiligen sich mit Ihrer Schule am FREI DAY. Was hat Sie dazu bewegt? Was erhoffen Sie sich mit Blick auf die Lern- und Schulkultur? 

Weichenthal: Wir möchten unsere Schülerinnen und Schüler zu aktiv handelnden Menschen erziehen, die die Herausforderungen unserer Zeit angehen und verantwortungsbewusst mit Mut und Kreativität handeln. Dafür müssen sie eine gewisse Selbstständigkeit erlernen und das geht am besten mit Themen, die sie wirklich interessieren und die sie sich selbst ausgesucht haben. Durch das projektorientierte Arbeiten erleben die Kinder eine Selbstwirksamkeit, die sich sehr positiv auf ihre Motivation, auf ihre Leistungsbereitschaft und auf ihr Selbstbewusstsein auswirkt. Davon können Kinder ihre gesamte Schullaufbahn profitieren.  

Wie genau setzt Ihre Schule den FREI DAY um? Wer aus dem Schulteam ist beteiligt?  

Weichenthal: Der FREI DAY findet bei uns an jedem Freitag in der 1. bis 4. Stunde statt. Jede Woche reflektieren die Kinder ihren FREI DAY in einem digitalen Logbuch und setzen sich Ziele für die Weiterarbeit. So können sie in der nächsten Woche einfacher wieder in die Projektarbeit starten und gleichzeitig ist die Arbeit transparent für ihre Eltern. Die Kinder arbeiten an ihren Projekten und werden von den Lehrkräften als Lerngebegleiter unterstützt. Manchmal gibt es mehrere Projekte in einer Klasse, manchmal arbeitet die ganze Klasse an einem Projekt. Wir versuchen immer zwei Lernbegleiter pro Klasse einzusetzen. Unterstützt werden diese dann bei Bedarf von der Schulleitung, der Schulverwaltung, dem Hausmeister, der Schulsozialarbeit, von Eltern und von anderen Experten (z. B. Theaterpädagog:innen oder Ehrenamtlern). Bei uns sind also wirklich ALLE beteiligt. Als Familiengrundschulzentrum sind wir gut im Stadtteil vernetzt und davon profitieren die Kinder in ihren FREI DAY-Projekten natürlich sehr. 

Apropos Kooperationen: Mit welchen Institutionen, Initiativen, Organisationen, Expert*innen und außerschulischen Akteuren kooperieren Sie im Rahmen des FREI DAY? 

Weichenthal: Wir kooperieren unter anderem mit dem Netzwerk „Schule im Aufbruch“, dem BNE Netzwerk Düsseldorf, dem FFT (Forum freies Theater) Düsseldorf, der Zukunftswerkstatt Düsseldorf, dem Kinderschutzbund und der NAJU NRW. Durch die Begegnung mit unterschiedlichen Organisationen bzw. den Menschen, die sie repräsentieren, erweitern unsere Schülerinnen und Schüler ihre eigene Lebenswelt und gelangen zu neuen Perspektiven. Vielleicht ergibt sich daraus auch etwas für die persönliche Zukunft des Kindes, wie beispielsweise ein neues Hobby oder sogar ein zukünftiger      Berufswunsch.  

Ich finde es sehr wichtig, dass sich die Schule für die Außenwelt öffnet und Menschen von außen in die Klassenzimmer einlädt. Immerhin ist es unsere Aufgabe, die Kinder auf die Welt vorzubereiten. Dafür müssen sie der Welt auch begegnen können. Leider bleibt diese Möglichkeit vielen Kindern, gerade aus sozial schwächeren Familien, häufig verwehrt.  

Welche Erfahrungen haben Sie als Lernbegleitung beim FREI DAY bereits machen dürfen?  

Weichenthal: Wie motiviert die Kinder bei der Sache sind! Am FREI DAY kann jeder etwas beitragen und sich einbringen. In Klasse 1 und 2 ist es natürlich noch etwas schwierig für die Kinder, vor allem an einer Grundschule mit besonderen Herausforderungen, so wie wir es eine sind. Doch mit etwas Unterstützung gestalten auch die Kleinsten richtig tolle Projekte! Freitags kommen die Kinder besonders gerne zur Schule und es ist großartig zu sehen, was die Kinder so auf die Beine stellen.  

Die Kinder lernen, Verantwortung für ihre Arbeit und ihr Projekt zu übernehmen. Ich konnte in meiner Lerngruppe beobachten, dass die Kinder sorgfältiger und gewissenhafter an ihren Aufgaben arbeiten, weil das Ergebnis für sie zählt. In meiner 4. Klasse wurden beispielsweise Präsentationen über bedrohte Tiere erstellt, um dann im Klassenverband abzustimmen, für welches Tier die Klasse ein Projekt ins Leben rufen wird. Ich habe vorher noch nie so viele gut strukturierte, ansprechende und gut recherchierte Präsentationen gesehen. Jedes Kind war mit vollem Einsatz dabei, denn es wollte ja, dass sein Tier gewinnt. Schlussendlich hat die Biene gewonnen und nun beschäftigen sich die Kinder beispielsweise mit dem Bau von Insektenhotels, dem Anlegen von Wildblumenwiesen an geeigneten Stellen im Stadtteil und der Aufklärung über den Nutzen der Biene.  

Hat sich Ihre Rolle als Lehrkraft im Lernformat dadurch auch verändert? 

Weichenthal: Die Rolle einer Lernbegleitung ist eine völlig andere als die einer Lehrkraft. Anstatt die Stunde bis ins kleinste Detail zu planen, muss die Verantwortung zum größten Teil an die Kinder abgegeben werden. Wir Lehrkräfte müssen lernen, gelassen auf Zieländerungen und Stundenverläufe zu reagieren. Es darf auch mal schief gehen – und wenn es schief gegangen ist, müssen die Kinder eine Lösung finden, nicht in erster Linie die Lehrkraft. Außerdem darf es auch mal lauter werden. Das alles muss man aushalten können und das ist am Anfang gar nicht so leicht. Lehrkräfte müssen ermutigt werden, neue Wege einschlagen zu dürfen. Unser Schulsystem ist an vielen Stellen starr und eingefahren. Oft fragen sich Lehrkräfte, ob sie überhaupt vom traditionellen, also von dem, was sie schon immer gemacht haben, abweichen dürfen. Ein Blick in die Lehrpläne zeigt aber, dass dies sehr wohl möglich und sogar sinnvoll ist.

Welches Fazit ziehen Sie nach Ihren bisherigen Erfahrungen? Und was würde Ihrer Meinung nach anderen Schulen helfen, sich ebenfalls für andere Lernformate zu öffnen? 

Weichenthal: Einerseits lernen die Kinder beim handlungsorientierten Lernen in den BNE-Projekten viel mehr als im klassischen Unterricht. Außerdem kann Gelerntes, wie beispielsweise das Schreiben eines formellen Briefes, gefestigt und in einem sinnvollen Kontext angewendet werden. Auf der anderen Seite stellen die neuen Kernlehrpläne für die Primarstufe in NRW mit den Querschnittsaufgaben Anforderungen an den Unterricht, die mit klassischem Unterricht nicht vollumfänglich zu erfüllen sind. Ein Wandel des Unterrichts ist also unumgänglich.  

Ich denke in erster Linie braucht es mehr Aufklärung: Kinder lernen am FREI DAY nicht nichts, auch wenn sie keinen reinen Fachunterricht haben. Der Fachunterricht ist nicht der einzige Weg der guten Wissensvermittlung. Wenn diese Überzeugung in den Köpfen der Lehrkräfte ankommt, stellt sich die nötige Begeisterung für dieses Lernformat ein und die Bereitschaft sowie der Mut neue Wege zu gehen folgt von ganz alleine.  

Liebe Frau Remy, Sie sind Sie sind Regionalkoordinatorin der FREI DAY-Schulen in NRW. Wie würden Sie das BNE-Lernformat FREI DAY beschreiben?  

Der FREI DAY ist ein handlungsorientiertes BNE-Lernformat, an dem sich Schüler*innen an einem Tag der Woche für drei bis vier Stunden mit eigenen Zukunftsfragen im Rahmen der 17 Ziele des Weltaktionsprogramms (Agenda 2030) beschäftigen. Sie entwickeln eigene Projekte zu Zukunftsfragen und führen diese bestenfalls in jahrgangsübergreifenden Teams durch. Sie arbeiten dabei zunehmend selbstorganisiert und üben sich in agilem Projektmanagement. Sie forschen phänomenbasiert und interdisziplinär und vernetzen sich mit Initiativen, Expert*innen und außerschulischen Lernorten. Abschließend setzen sie ihre Ideen und Anliegen für eine bessere Welt in konkrete Taten um, erwerben dabei Zukunftskompetenzen und übernehmen Verantwortung für sich, andere und die Gesellschaft – lokal und global.
Unterstützt, beraten und vernetzt werden sie dabei durch Lernbegleiter*innen (Lehrkräfte, Pädagogische Fachkräfte im Ganztag, Sozialpädagog*innen, Schulsozialarbeiter*innen, Künstler*innen, Nachhaltigkeitsbeauftragte der Stadt, …), die sie in die handlungsorientierte BNE-Projektarbeit einführen, sie im Verlauf des Projekts beraten und das Gelingen organisieren.
Ziel ist es, die Gestaltungs- und Zukunftskompetenzen der Kinder und Jugendlichen zu fördern und ihnen Selbstwirksamkeitserfahrungen und echte gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Der FREI DAY schafft Raum für Partizipation und zeigt Kindern und Jugendlichen vielfältige Wege auf, sich als Change Agents mit ihren Perspektiven und Anliegen wirkungsvoll in die gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozesse im Rahmen der 17 Ziele für eine nachhaltige und gerechte Welt einzubringen. 
    
 

Und viele Schulen beteiligen sich am BNE-Lernformat? 

Remy: Laut unserer letzten Umfrage sind mindestens 229 Schulen aller Schulformen bundesweit im Umsetzungsprozess. Dabei gibt es viele weitere Schulen, die nicht an unseren Umfragen teilnehmen oder auf eigene Faust mit dem Lernformat gestartet sind. Über 423 interessierte Schulen haben sich in den letzten Monaten darüber hinaus bei uns gemeldet, weil sie gerne mit der Umsetzung des FREI DAY starten möchten. In Nordrhein-Westfalen haben über 134 Lehrkräfte und Schulleitungen Interesse an der Einführung bei uns angemeldet. Meistens starten dabei zunächst 2-8 Lehrkräfte mit 2-4 Lerngruppen und gehen mit gutem Beispiel voran, und in den folgenden Jahren kommen weitere Kolleg*innen und Lerngruppen hinzu. Vielfältige Fortbildungs- und Beratungsangebote, praxisbewährte Materialsammlungen und ein lebendiges Netzwerk von anderen progressiven Schulen schaffen ein gutes Ökosystem, in dem die mutigen Vorreiter:innen an den Schulen gut aufgehoben sind und jederzeit hilfreiche Impulse zur Überwindung von Stolpersteinen im Prozess erhalten können. 

 


Weitere Informationen zu Schule im Aufbruch finden sich auf der FREI DAY Homepage (www.frei-day.org).
Eine Kontaktaufnahme ist bei Interesse auf diesem Weg möglich: https://formulare.schule-im-aufbruch.de/jetzt-aufbrechen/?utm_medium=referral&utm_source=partner&utm_campaign=frei_day_grundschule_fgsz
Über eine Mitgliedschaft im Netzwerk von Schule im Aufbruch hast du Zugang zu einer Vielfalt von Fortbildungs-, Beratungs- und Austauschmöglichkeiten: Mitglied werden – Schule im Aufbruch (schule-im-aufbruch.de)

Die Stiftung Umwelt und Entwicklung (www.sue-nrw.de) fördert seit Oktober 2021 das FREI DAY Unterstützungsprogramm, mit dem FREI DAY Teams von über 60 Schulen aller Schulformen aus ganz NRW jeweils ein Schuljahr durch Mikrofortbildungen (“FREI DAY Werkräume”), Netzwerktreffen, schulformspezifische Dialogräume, Schulleitungs-Austauschrunden und individuelle Zielklärungs- und Beratungsgespräche vom Team von Schule im Aufbruch begleitet werden konnten. Diese Projektförderung endet September 2024.

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