Zwischen Wind, Weite und Wandel

In Ostfriesland weht der Wind gern mal von vorn. Das hat die Menschen widerstandsfähig gemacht – und dennoch bereit für Veränderung. Wenn die Wege weit und die Herausforderungen groß sind, braucht es etwas, das verbindet: Zusammenarbeit. Vier Gebietskörperschaften – die Landkreise Aurich, Leer, Wittmund und die Stadt Emden – haben sich genau dafür entschieden: Statt nebeneinanderher zu arbeiten, bündeln sie heute ihre Kräfte. Die Idee dahinter ist so einfach wie bedeutsam: Gemeinsam gelingt mehr. Und so wurde aus vier Einzelwegen eine gemeinsame Route – quer durch alle Bildungsübergänge, vom Kindergarten bis in die Berufswelt.

Eine regionale Besonderheit mit Geschichte

Wer verstehen möchte, was die Bildungsregion Ostfriesland besonders macht, muss ein Stück weiter ausholen – und einen Blick in die Geschichte werfen. Denn das Fundament für Zusammenarbeit über die kommunalen Grenzen hinweg wurde hier schon vor Jahrhunderten gelegt.

Im Mittelalter waren es die freien Friesen selbst, die ihre Angelegenheiten eigenständig regelten, weitgehend ohne hierarchische Ständegesellschaft. Vertreter von Bauern, Bürgern und Rittern setzten sich gemeinsam für ihre Interessen und die der Region gegenüber dem Landesherrn ein. Diese frühe Form der regionalen Selbstverwaltung ist die historische Wurzel der heutigen Ostfriesischen Landschaft – eines höheren Kommunalverbandes, der regionale Aufgaben in Kultur, Wissenschaft und Bildung übernimmt.

Im 21. Jahrhundert war es der damalige Landschaftspräsident Helmut Collmann, der das alte ostfriesische Selbstverständnis in moderne Bildungsstrukturen übertrug. Als ehemaliger Lehrer war er überzeugt: Wenn wir die Bildung unserer Kinder ernst nehmen, müssen wir sie gemeinsam gestalten. Und so griff er das Angebot des Landes Niedersachsen auf, mit der Initiative „Bildungsregion“ Bildungsnetzwerke in den Kommunen auf- und auszubauen. Gegen anfängliche Widerstände brachte er die Landkreise Aurich, Leer und Wittmund sowie die Stadt Emden dazu, die gemeinsame Bildungsregion Ostfriesland zu gründen. Rückenwind erhielt er vom Bildungsausschuss der Ostfriesischen Landschaft.

Ein institutionelles Zuhause fand die entstehende Bildungsregion im Regionalen Pädagogischen Zentrum (RPZ) in Aurich – einem traditionsreichen Ort, der seit den 1970er-Jahren für Lehrkräftefortbildung steht. Hier entstand 2011 ein vielköpfiger Bildungsrat, der die Bildungsregion steuerte und 2014 in eine kleinere, dafür effektiver arbeitende Steuergruppe überführt wurde. 2023 stimmten schließlich alle vier Gebietskörperschaften – angeregt durch das Land Niedersachsen und immerhin nach der vierten Förderperiode der Bildungsregion – der dauerhaften Entfristung zu: Die Bildungsregion Ostfriesland ist heute nachhaltig und strukturell verankert.

Übergänge im Blick: Vom kleinen Schritt zum großen Sprung

Die Bildungsregion konzentriert sich auf drei zentrale Übergänge in der Bildungsbiografie: KiTa–Grundschule, Grundschule–Sekundarstufe I und Schule–Beruf. Für jeden Bereich gibt es eine eigene Bildungskoordinatorin, die als abgeordnete Lehrkraft zugleich in der Praxis verankert und über das RPZ vernetzt ist. Diese Praxisnähe – kombiniert mit der strategischen Steuerung am und über das RPZ – macht den Ansatz so wirksam.

  1. Vom Spielen zum Lernen: Der Übergang KiTa – Grundschule

Wenn Kinder zu Schulkindern werden, ist das ein großer Schritt – emotional, sozial und organisatorisch. Damit dieser gelingt, hat die Bildungsregion ein Netzwerk für den Übergang KiTa–Grundschule aufgebaut. Es besteht aus vier regionalen Arbeitskreisen sowie einem ostfrieslandweiten jährlichen Netzwerktreffen.

In den Arbeitskreisen, die regelmäßig zusammenkommen, begegnen sich Grundschullehrkräfte und KiTa-Fachkräfte auf Augenhöhe. Gemeinsam werden Materialien entwickelt, die in beiden Institutionen eingesetzt werden können – etwa ein Elternratgeber mit vielen Tipps für den Weg von der KiTa in die Grundschule oder auch Hilfen zur Sprachförderung. Fortbildungsbedarfe werden gemeinsam erhoben, geplant und mit Netzwerkpartnern und RPZ abgestimmt. So entsteht eine Zusammenarbeit, die nachhaltig wirkt.

  1. Von der kleinen Schule in die große Welt: Übergang Grundschule – Sekundarstufe I

Der Übergang in die weiterführende Schule ist eine Herausforderung – für Schüler:innen wie Lehrkräfte. Aktuell läuft ein Modellprojekt in Aurich, in dem Schulleitungen sowie Lehrkräfte der vierten und fünften Klassen in einem lokalen Netzwerk zusammenarbeiten. Der Fokus liegt auf Anschlussfähigkeit: Inhalte, Förderformate und Erwartungen sollen so abgestimmt werden, dass der Übergang besser als bisher gelingt.

Hierfür wird in diesem Herbst 2025 ein zentrales Austauschformat erstmals von den Netzwerkpartnern erprobt. Lehrkräfte der vierten Klassen treffen sich im RPZ mit Vertreter:innen aller weiterführenden Schulen – und tauschen sich gezielt über ihre Schülerinnen und Schüler aus.

Dabei gibt es immer eine doppelte Rückkopplung: von der Grundschule zur Sekundarstufe I, und später auch wieder zurück – aus der Sek I in Richtung der Grundschulen. Solche Gespräche sind grundsätzlich üblich und finden normalerweise dezentral an den Schulen statt – verbunden mit einem hohen organisatorischen Aufwand. Durch die neue zentrale Veranstaltung übernimmt die Bildungsregion mit dem RPZ erstmals die Rolle einer unterstützenden Zwischenorganisation. Was Lehrkräfte sonst eigenverantwortlich koordinieren, wird nun gemeinsam an einem Ort gebündelt – so wird Austausch erleichtert und gleichzeitig gewährleistet, dass alle (datenschutz-)rechtlichen Rahmenbedingungen eingehalten bleiben. Ob sich das Format bewährt, wird sich zeigen – doch wenn es auf Anklang stößt, soll es verstetigt werden.

  1. Von der Schule ins Leben: Übergang Schule – Beruf

Der Übergang in Ausbildung, Studium oder Beruf ist für Jugendliche ein entscheidender Schritt ins Erwachsenenleben. Die Bildungsregion setzt auf ein breites Netzwerk, das die Hochschule Emden/Leer, die Agentur für Arbeit, die Kammern und das Regionale Landesamt für Schule und Bildung sowie weitere Akteure einbezieht.

Zweimal jährlich findet so unter anderem ein gemeinsames Netzwerktreffen statt, das transparent machen soll, wer was bietet, wo Lücken entstehen und welche Projekte parallel laufen. Darüber hinaus gibt es Fachtage, bei denen Schwerpunktthemen wie Begleitung von Betriebspraktika und Unterstützung im Bewerbungsprozess vertieft werden. Die Themen werden im Vorfeld von den Beteiligten selbst eingebracht, sodass die Inhalte gezielt an den Bedarfen der Region ausgerichtet sind. Die aktive Mitgestaltung fördert Identifikation, stärkt Mitverantwortung und macht so Kooperation auf Augenhöhe erlebbar.

Zusammenarbeit statt Zuständigkeit: Das System hinter dem Wandel

Was macht die Bildungsregion Ostfriesland so besonders? Es ist nicht nur die übergreifende Struktur – es ist die Kultur der Zusammenarbeit, die sich hier über Jahre hinweg entwickelt hat. Alle Akteure arbeiten auf ein gemeinsames Ziel hin: benachteiligte Kinder und Jugendliche bei ihren Übergängen im Bildungssystem möglich gut zu unterstützen.

Diese Kultur zeigt sich in der Steuergruppe, die die strategische Ausrichtung der Bildungsregion verantwortet. In ihr arbeiten die Bildungskoordinatorinnen der drei Übergangsbereiche, die Leitung des RPZ, ein Vertreter der Ostfriesischen Landschaft, eine Vertreterin des Regionalen Landesamts für Schule und Bildung sowie je ein Vertreter aus den vier Gebietskörperschaften zusammen. Sie zeigt sich ebenso im RPZ, das als institutioneller Anker Fortbildung, Beratung und Wissen bündelt und in der Arbeit der Koordinatorinnen, die die Strategie in der Praxis verankern.

Dabei gelingt der Bildungsregion ein Spagat: Einerseits wahrt sie die Eigenständigkeit der Schulen und Landkreise – andererseits schafft sie übergreifend verbindende Angebote. Aus einem Flickenteppich wurde ein gemeinsamer Bildungsraum, der Orientierung gibt und zugleich offen für lokale Lösungen bleibt.

Fazit: Wenn Strukturen Vertrauen schaffen

Die Bildungsregion Ostfriesland ist mehr als ein Projekt. Sie ist ein Beispiel dafür, dass Wandel im Bildungssystem möglich ist – wenn er aus der Region heraus gedacht, gemeinsam getragen und kontinuierlich gestaltet wird.

Was als Idee eines engagierten Landschaftspräsidenten begann, wurde zum strukturellen Modell über vier Kommunen hinweg. Heute bringt die Bildungsregion Schulen, Kommunen, Fachkräfte und Partner:innen zusammen – in einer Region, die einst auf ihre Freiheit stolz war und heute zeigt, wie diese Freiheit klug genutzt werden kann: für Kooperation, für Bildung, für Zukunft.

 


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