Über die Ganztagsschule als Alternative zur Halbtagsschule wird seit vielen Jahren intensiv diskutiert; doch wie ist dieser Diskurs eigentlich entstanden und wie haben sich Zielsetzungen und Erwartungen der halbtägigen bzw. ganztägigen Schulangebote im Laufe der Zeit verändert? Klaus Klemm hat für uns einen Blick zurück ins 19. Jahrhundert geworfen und die Genese rekonstruiert.

Ganztägiger Unterricht als Normalfall im 19. Jahrhundert

In den Volksschulen (den Schulen des ‚niederen Schulwesens‘) war der ganztägige, damals als ‚geteilter Unterricht‘ (geteilt auf Vormittags- und Nachmittagsstunden) benannt, in den Ländern, die sich 1871 zum Deutschen Reich zusammenschlossen, offiziell üblich. In der Praxis allerdings sah dies für die Schüler:innen häufig anders aus. So stand der Schulbesuch im 19. Jahrhundert vielfach in Konkurrenz zur Kinderarbeit in Landwirtschaft und in der Industrie. Die Durchsetzung der Ganztagsschule wurde unter anderem dadurch unterwandert, dass ein Großteil der Bevölkerung auf den Mitverdienst ihrer Kinder für das Familieneinkommen angewiesen war. Die deshalb geschwächte Ganztagsschule wurde Ende des 19. Jahrhunderts noch zusätzlich dadurch in Frage gestellt, dass es angesichts der sich allmählich durchsetzenden allgemeinen Schulpflicht und der stark wachsenden Bevölkerung zu räumlichen und personellen Engpässen in den Schulen kam. So heißt es in den 1872 in Preußen erlassenen ‚Allgemeinen Bestimmungen‘: „Wo die Anzahl der Kinder über achtzig steigt oder das Schulzimmer auch für eine geringere Zahl nicht ausreicht, und die Verhältnisse die Anstellung eines zweiten Lehrers nicht gestatten; sowie da, wo andere Verhältnisse dies nothwendig erscheinen lassen, kann mit Genehmigung der Regierung die Halbtagsschule eingerichtet werden…“ (Michael/Schepp 1993, S. 180). Es waren also ökonomische Fakten und nicht etwa eine Grundsatzentscheidung zugunsten der Halbtagsschule, die dafür sorgten, dass sich bis zum Beginn der Weimarer Republik im niederen Schulwesen die Halbtagsschule etablierte. So ermächtigte 1920 das zuständige preußische Ministerium die Gemeinden, die ‚ungeteilte Unterrichtszeit‘ (also die Halbtagsschule) einzuführen. Ähnlich wurde auch in den anderen Reichsländern verfahren (Lohmann 1965, S. 46f.).

In den Gymnasien wurde der geteilte Unterricht, also der auf den ganzen Tag verteilte Unterricht, aus einem anderen Grund in Frage gestellt: Mit Blick auf das höhere Schulwesen ging es darum, die ‚Überbürdung‘ der Schüler:innen durch Unterricht und Hausaufgaben zu mindern. Die zeitliche Belastung lässt sich wie folgt rekonstruieren: „Den jüngeren Schülern wurden also viermal in der Woche rund 9 Stunden Arbeit und mittwochs und samstags 7 Stunden zugemutet. Der durchschnittliche Schüler erreichte damit nach der Verfügung eine Arbeitswoche von 50 Stunden. Die älteren Schüler, die an vier Tagen der Woche 11 Stunden und an den übrigen beiden Tagen 9 Stunden arbeiten mußten, hatten der Schularbeit durchschnittlich 62 Stunden pro Woche zu widmen.“ (Lohmann 1965, S. 29) Obwohl die Kritik an dieser Belastung seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts insbesondere auch aus der Medizin immer wieder formuliert wurde, dauerte es (z. B. in Preußen) noch bis 1890, bis dort vorsichtig vom Prinzip eines ganztägigen Unterrichts abgerückt wurde. In diesem Jahr gab das preußische Kultusministerium einen Erlass heraus, der den Gymnasien unter bestimmten Bedingungen die Einführung des Halbtagsunterrichts erlaubte. In den folgenden Jahren reduzierte sich dann allmählich an den höheren Schulen nicht nur in Preußen, sondern auch in den anderen Reichsländern der auf den Vor- und den Nachmittag ‚geteilte Unterricht‘. 1920, in den frühen Jahren der Weimarer Republik, stellte dann das zuständige preußische Ministerium fest, dass die Halbtagsschule an den höheren Schulen allgemein eingeführt worden war (Lohmann 1965, S. 44).

Bemerkenswert an der deutschen Entwicklung zur Halbtagsschule ist also vor allem, dass es im ‚höheren‘ Schulwesen darum ging, die Jungen (Mädchen hatten keinen Zugang zu den Gymnasien) vor einer Überbeanspruchung, vor einer ‚Überbürdung‘ zu schützen, während es im ‚niederen‘ Schulwesen darum ging, ein Ansteigen der Ausgaben für Schulbauten und Lehrerstellen zu vermeiden oder doch wenigstens zu begrenzen. So führten in Deutschland zwei völlig unterschiedliche Treiber zum gleichen Ergebnis: zur Halbtagsschule. Da bis zum Beginn des ersten Weltkriegs kaum mehr als 10 Prozent der schulpflichtigen Kinder höhere Schulen besuchten, kann mit Blick auf den überragenden Anteil der Volksschüler festgestellt werden, dass der Rückbau der Ganztagsschule und die damit einhergehende Etablierung der Halbtagsschule keiner pädagogischen, sondern einer überwiegend ökonomischen Logik folgte.

Der langjährige Bestand der Halbtagsschule im 20. Jahrhundert

Vom Beginn der Weimarer Republik an bis zu den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde für das allgemeinbildende Schulwesen die Halbtagsschule nicht mehr in Frage gestellt. Erst 1970 tauchte das Thema ‚Ganztagsschule‘ im ‚Strukturplan für das Bildungswesen‘ des Deutschen Bildungsrats wieder prominent auf (Deutscher Bildungsrat 1973) – und zwar als Reformprojekt. Seinerzeit standen in der damaligen Bundesrepublik für gerade einmal 0,4 Prozent aller Schüler:innen der allgemeinbildenden Schulen Ganztagsplätze zur Verfügung (BLK 1974). In der Folge wird 1973 im ‚Bildungsgesamtplan‘ der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung (ebd.) ein Ausbau der Ganztagsschulen geplant. Dieser Ausbauplanung stimmten die Regierungschefs des Bundes und der Länder zu. Vorgeschlagen wurde, bis 1985 für 15 Prozent bzw. für 30 Prozent der Schüler:innen Ganztagsplätze zu schaffen. Im Rückblick betrachtet ist an diesen Ausbauzielen interessant, dass im Jahr 2002 (ältere Daten liegen nicht vor) deutschlandweit mit einer Besuchsquote von knapp 10 Prozent gerechnet wurde und damit nicht einmal das untere der 17 Jahre zuvor vorgeschlagenen Ziele (15 Prozent) erreicht wurde. Dass dieses Ausbau“tempo“ durchaus dem ‚Zeitgeist‘ entsprach, illustriert ein Satz von Lothar Späth, des damaligen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg. 1980 formulierte er vor dem Landtag in einer Regierungserklärung: „Wir brauchen die vertrauensvolle Partnerschaft zwischen Elternhaus und Schulen; den gefährlichen Tendenzen zur Ganztagsschule, die den elterlichen Einfluss entscheidend schmälert, werden wir nicht folgen.“

Der neue Aufbruch zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Das Investitionsprogramm für den Ausbau von Ganztagsschulangeboten

Die gegen Ende des 20. Jahrhunderts noch breite Abwehrfront gegenüber Ganztagsschulen bröckelte in den Folgejahren zusehends: Zum einen wuchs der Widerspruch zwischen Halbtagsschule und den Interessen junger Familien, insbesondere junger alleinerziehender Mütter, die ihre erworbenen beruflichen Qualifikationen als Erwerbstätige nutzen wollen und häufig genug aus Gründen des Broterwerbs‘ auch nutzen müssen. Zum anderen werden – nicht erst, aber verstärkt seit der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie im Jahr 2001 – die Stimmen derer lauter, die beklagen, dass Kinder und Jugendliche, auch im Vergleich zum Ausland, in der Schule zu wenig individuell gefördert werden. Sie verweisen darauf, dass Ganztagsschulen einen geeigneteren Rahmen für ein Mehr an individueller Förderung bieten könnten. In diesem Kontext empfahl das Forum Bildung, ein von Bund und Ländern gemeinsam getragenes Beratungsgremium, bereits kurz vor der Ergebnisveröffentlichung der ersten PISA-Studie die „bedarfsgerechte Ausweitung des Angebots an Ganztagsschulen mit Schwerpunkten der individuellen Förderung und des sozialen Lernens“ (Arbeitsstab Forum Bildung 2002, S. 23). In diese Richtung wies dann auch eines von sieben Handlungsfeldern, mit denen die KMK auf die Ergebnisse der ersten PISA-Studie zu reagieren gedachte: Die Kultusminister:innen der Länder beschlossen, „Maßnahmen zum Ausbau von schulischen und außerschulischen Ganztagsangeboten“ zu ergreifen (vgl. auch Avenarius u.a. 2003, S. 257 ff.). Ausgehend von diesem Grundsatzbeschluss leitete dann die Bundesregierung 2003 mit dem 4 Mrd. Euro schweren Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB) den Ausbau der Ganztagsschulangebote ein. Tillmann u.a. (2008, S. 383) stellen zu dieser Phase des Ausbaus von Ganztagsschulen fest: „Jüngere Forschung zu diesem Feld weist nach, dass nach PISA in allen Bundesländern der Anteil der Schulen mit ganztägigem Angebot erheblich angestiegen ist“. Dieses Ausbauprogramm wurde in den Folgejahren zur Initialzündung und zum Treiber einer Entwicklung, die dazu geführt hat, dass der Anteil der Ganztagsschulplätze in einem bis dahin nicht gekannten Tempo hochschnellte: 2002 betrug ihr Anteil knapp 10 Prozent, aktuell (Zahlen von 2020) liegt er bei etwa 47 Prozent – und wird angesichts der stark steigenden Schüler:innenzahlen bis 2030/31 weiter anwachsen müssen, wenn der Rechtsanspruch auf ganztägiges Lernen in der Grundschule umgesetzt werden soll. Dazu mehr in einem gesonderten Blogbeitrag.

 

 

Literatur/Quellen

Arbeitsstab Forum Bildung (2002): Empfehlungen und Einzelergebnisse des Forum Bildung. Bonn.

Avenarius, H./, Ditton, H./, Döbert, H./Klemm, K./ Klieme, E./, Rürup, M./ Tenorth, H.-E./ Weißhaupt, H./ Weiß, M. (2003): Bildungsbericht für Deutschland. Erste Befunde. Opladen.

BLK (Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung) (1974): Bildungsgesamtplan. Bände I und II. Stuttgart.

Deutscher Bildungsrat (1973): Strukturplan für das Bildungswesen. Stuttgart.

Lohmann, J. (1965): Das Problem der Ganztagsschule. Eine historisch-vergleichende und systematische Untersuchung. Ratingen.

Michael, B./ Schepp, H.-H. (Hrsg) (1993):  Die Schule in Staat und Gesellschaft.
Dokumente zur deutschen Schulgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen.

Späth, Lothar. Regierungserklärung 1980. Zitiert nach: Pitsch, H. (1989): Bildungspolitische
Zielsetzung und Schulwirklichkeit in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Dargestellt am Beispiel des Allgemeinbildenden Schulwesens im Bundesland Baden-Württemberg in den Jahren 1960 – 1980. Band IV. 156 f.
Online unter HANS PITSCH. Bildungspolitische Zielsetzungen und Schulwirklichkeit in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland – PDF Free Download (docplayer.org)
(Abruf vom 22.02.2022)

Tillmann, K.-J-/Dedering, K./Kneuper, D./Kuhlmann, Chr./Nessel, I. (2008): PISA als bildungspolitisches Ereignis. Fallstudien in vier Bundesländern. Wiesbaden <span