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Die ›moderne‹ Halbtagsschule, besser beschrieben als Vormittagsschule, beginnt in der Regel um 8.00 Uhr und endet am späten Vormittag gegen 13.00/13.30 Uhr. Am Nachmittag steht die Halbtagsschule überwiegend leer, sofern sich der Pflichtunterricht in den Vormittag komplett unterbringen lässt. Arbeitsgemeinschaften können aber durchaus auch am Nachmittag stattfinden. In der ›modernen‹ Halbtagsschule sind nicht nur die Schüler*innen, sondern vor allem auch die Lehrer*innen meist vom NU ›befreit‹. Diese Beschreibung ist für fast alle heutigen Formen von Halbtagsschulen zutreffend. An Grundschulen bedeutet ›Halbtagsschule‹ die vollständige Unterbringung des gesamten Unterrichts in den Vormittag aufgrund der geringeren wöchentlichen Unterrichtsstunden.
Im Gegensatz zur ›modernen‹ Halbtagsschule findet man die ›traditionelle Halbtagsschule‹ des 19. Jahrhunderts an vielen einklassigen Volksschulen vor allem auf dem Land, die den Unterricht nach Genehmigung oftmals auf zwei Lerngruppen aufteilten. Aufgrund der hohen Schülerzahl oder unzureichendem Schulraum im Ort wurde der Unterricht am Vor- und Nachmittag mit jeweils einer Gruppe i.d.R. von einem Lehrer erteilt. Die Anzahl der Unterrichtsstunden in der Woche wurden für jede Gruppe stark reduziert. Teilweise wurden beide Lerngruppen in Einzelstunden manchmal auch zusammengeführt. Ernst Roloff hält im ›Lexikon der Pädagogik‹ von 1917 fest:
„Wenn früher diese Einrichtung, bei welcher der Lehrer überlastet u. der Unterricht bis zur Dürftigkeit beschränkt ist, als dauernd ausreichend angesehen wurde, so ist heute die Halbtagsschule als das anerkannt, was sie wirklich ist, nämlich als ein übler Notbehelf.“ (Roloff, Lexikon der Pädagogik, 1917, S. 378).
In der traditionellen Halbtagsschule wurden also die Unterrichtsstunden (meist 30 Stunden), die ein Volksschullehrer zu halten hatte, auf 2 Gruppen verteilt. Deshalb auch der Begriff Halbtagsschule. In der modernen Halbtagsschule dagegen wird der gesamte Unterricht laut Plan i.d.R. auf den Vormittag zusammengedrängt. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts sprach man daher vom ungeteilten Unterricht. Damit unterscheidet sich die traditionelle Halbtagsschule deutlich vom sogenannten ungeteilten Unterricht.
Der ungeteilte Unterricht setzte sich an Volksschulen zuerst in Hamburg, dann in Berlin, also in großen Städten und nicht auf dem Land. Nach dem 1. Weltkrieg wurde die ›traditionelle‹ Halbtagsschule abgeschafft, weil diese die Kinder auf dem Land stark benachteiligte. Die ›ungeteilte‹ Volksschule, also durchgehender Unterricht, setzte sich erst in Städten und später während des Nationalsozialismus auch auf dem Land durch. In Baden-W. und Bayern dagegen hielt sich die traditionelle Ganztagsschule, also der geteilte Unterricht in ländlichen Regionen noch bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhundert.
An Gymnasien begann die Entwicklung zur modernen Halbtagsschule in Hamburg (ca. 1865) und Berlin (ca. 1867), da manche Kinder einen weiten Schulweg zweimal zurücklegen mussten. Andere größere Städte in Preußen folgten schrittweise. Bayern übrigens nicht. Auch das Königreich Sachsen wies Anträge von Gymnasien in Dresden und Leipzig vorerst zurück. (vergl. Guido Seelmann-Eggebert, Ganztagsschule oder Halbtagsschule? Sachsen) Es wurden von Psychologen und Psychiatern schwerwiegende Bedenken gegen einen durchgehenden Unterricht geäußert. Man befürchtete eine Überforderung der Schüler durch den zusammengedrängten Unterricht und einen Rückgang des Bildungsniveaus. Erst als der Kaiser Wilhelm II 1890 sich deutlich für die Abschaffung des Nachmittagsunterrichts äußerte, damit Kinder und Jugendliche sich nachmittags sportlich betätigen und Kriegsspiele üben sollten, kippte die Stimmung vor allem unter den Schulleitern, die sich bis dahin dieser neueren Entwicklung hin zum Vormittagsunterricht eher entgegenstellten. Die vielen Unterrichtsstunden verhinderten noch Anfang des 20. Jahrhunderts die vollstände Abschaffung des Nachmittagsunterrichts. Erst 1911 wurde in Preußen für alle Gymnasien die 45-Minuten-Stunde eingeführt, damit man nun den Nachmittagsunterricht vollständig am Vormittag unterbringen konnte. Der Verlust an Unterrichtszeit durch die Einführung der 45-Minuten-Stunde führt schnell zur Unzufriedenheit bei Schulleitern.
Die Forderung nach dem ungeteilten Unterricht nach ca. 600 Jahren Erfahrung mit der Ganztagsschule an Lateinschulen und später an Gymnasien entstand aus einer Notsituation. Nach Einführung von Straßenbahnen in den Städten hätte man diesen Notbehelf auch wieder beenden können. Aber inzwischen erkannte vor allem die Lehrerschaft die Vorteile des ungeteilten Unterrichts mit unterrichtsfreien Nachmittagen und setzte sich massiv dafür ein.