In den vergangenen Tagen erhielt die Bundesregierung die Ergebnisse des sogenannten Staatenberichtsverfahrens zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Deutschland. In diesem Verfahren prüfte ein Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen zum zweiten Mal, inwieweit Deutschland die 2009 unterzeichnete UN-Behindertenrechtskonvention bisher umgesetzt hat. In seinen „Abschließenden Bemerkungen“ formuliert der Fachausschuss explizit seine Besorgnis, dass Deutschland die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention nicht konsequent genug vorantreibt. Das gilt für alle Lebensbereiche – gerade für die schulische Bildung, denn der Ausbau der Inklusion an deutschen Schulen tritt seit Jahren mehr oder weniger auf der Stelle. In unserer heute startenden Themenwoche zur inklusiven Schulbildung auf Schule21 nehmen wir gemeinsam mit Expert:innen den Stand der Dinge in den Blick. Eines zeigt sich dabei sehr deutlich: Auch mehr als 14 Jahre nach dem Beitritt Deutschlands zur UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen kommt der Ausbau des inklusiven Unterrichts an allgemeinen Schulen kaum voran. Im Gegenteil, in einigen Bundesländern ist die Entwicklung sogar rückläufig. Dass die schulische Inklusion in Deutschland weiterhin stagniert, verdeutlichen auch die aktuellen empirischen Daten zum Schuljahr 2021/22, darunter die regelmäßig veröffentlichten Statistiken der Kultusministerkonferenz (KMK), die wir gemeinsam mit Klaus Klemm in einem Factsheet zusammengestellt haben.

Inklusiver Unterricht in Deutschland: Status Quo

Im Schuljahr 2021/22 wurden insgesamt 579.054 Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Schulen in Deutschland unterrichtet. Um eine Aussage über den Stand der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland treffen zu können, gilt die Exklusionsquote als wichtigster Indikator. Die Exklusionsquote beschreibt den Anteil der Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf, der separiert in Förderschulen unterrichtet wird, an allen Schüler:innen mit Vollzeitschulpflicht (je nach Bundesland die Jahrgangsstufen 1 bis 9 bzw. 10). Diese Quote beziffert, inwieweit sich Deutschland und die Bundesländer dem Ziel annähern, „Kinder mit Behinderungen nicht (…) vom unentgeltlichen obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen auszuschließen“ (UN-BRK, Artikel 24, Absatz 2). Mithilfe der öffentlich zugänglichen Schulstatistik lässt sich überprüfen, inwiefern Deutschland diesem Entwicklungsauftrag nachkommt. Im Schuljahr 2021/22 wurden insgesamt 4,3 Prozent aller Kinder und Jugendlichen der Jahrgangsstufen 1 bis 9 bzw. 10 in Förderschulen unterrichtet. Zum Vergleich: Im Schuljahr 2008/09, also in dem Jahr, in dem Deutschland der UN-Behindertenrechtskonvention beigetreten ist und sich gesetzlich verpflichtet hat, ein inklusives Bildungssystem zu gewährleisten, lag die Exklusionsquote bei 4,8 Prozent. Mit anderen Worten: In 14 Jahren ist die Exklusionsquote insgesamt um lediglich einen halben Prozentpunkt gesunken – mit deutlichen Unterschieden zwischen den Bundesländern. Je nach Land schwanken die aktuellen Exklusionsquoten zwischen 0,8 und 6,6 Prozent und auch in den Entwicklungen über die Zeit gibt es erhebliche Differenzen zwischen den Ländern. Trotz einheitlicher gesetzlicher Verankerung in ihren Schulgesetzen nähern sich die 16 Bundesländer in sehr unterschiedlicher Weise und Geschwindigkeit der tatsächlichen Umsetzung eines inklusiven Schulsystems an. Dabei spielen Faktoren wie Ressourcenvorbehalte, die Entscheidung für oder gegen den Abbau von Doppelstrukturen (inklusive Beschulung an allgemeinen Schulen vs. Beschulung an Förderschulen) und vor allem gezielte Investitionen in die Qualität inklusiver Schulen eine wesentliche Rolle.

So ist es nicht verwunderlich, dass die Qualität von inklusivem Unterricht häufig in Frage gestellt wird. Dies liegt vor allem daran, dass allgemeine Schulen und ihre Ausstattung in der Regel zu wenig auf die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf ausgerichtet sind. In Zeiten des Lehrermangels und des (je nach Region) Erhalts von Förderschulen fehlen außerdem die Fachkräfte, um Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen Lernausgangslagen (von leistungsschwach bis leistungsstark) in Schule und Unterricht adäquat fördern zu können.

Debatte um schulische Inklusion

Die politische Unklarheit in den Maßnahmen und Entscheidungen spiegelt interessanterweise nicht die gesellschaftlichen Sichtweisen wider. Umfragen der letzten Jahre zeigen, dass eine große Mehrheit der Deutschen sowohl die soziale Inklusion als auch das gemeinsame Lernen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung befürwortet (vgl. dazu auch Klemm, 2021). Auch mit Blick auf die wichtige Gruppe der Eltern zeigt sich eine grundsätzliche Akzeptanz des inklusiven Unterrichts (vgl. z. B. Bertelsmann Stiftung, 2015, 2020; Klemm 2021). Zieht man die wenigen vorliegenden empirischen Befunde aus Grundschulstudien zu Auswirkungen der Inklusion auf den Lernerfolg heran, lassen sich keine Nachteile oder negativen Effekte auf Leistungen von Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf beobachten. Der Studienlage zufolge erzielen Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in inklusiven Klassen im Durchschnitt tendenziell bessere Leistungen und erreichen häufiger den Hauptschulabschluss als Kinder und Jugendliche, die in Förderschulen unterrichtet werden. Gleichzeitig lassen sich nach den vorliegenden Studien keine systematischen Nachteile des gemeinsamen Unterrichts für das fachliche Lernen von Schüler:innen ohne Förderbedarf feststellen (vgl. zusammenfassend z. B. Klemm, 2021). Das alles könnte Rückenwind sein, um auch in Deutschland die von den Vereinten Nationen angemahnte Trendwende einzuleiten und den Ausbau des inklusiven Unterrichts sowohl qualitativ als auch quantitativ entschieden zu beschleunigen.

Was müsste also passieren, um die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen? Aus unserer Sicht müssten sich die Bundesländer stärker im Entwicklungsprozess abstimmen und verbindliche Ziele setzen, damit allen Schüler:innen, die inklusiv lernen möchten, dies auch ermöglicht wird. Ein wichtiger Erfolgsfaktor dafür ist zweifellos, dass Lehrer:innen sich in ihrer Aus- und Weiterbildung besser auf den inklusiven Unterricht vorbereiten können und sie auch in den Schulen vor Ort besser unterstützt werden. Darüber hinaus ist darüber nachzudenken, wie die sachlichen und personellen Ressourcen der Förderschulen für die Weiterentwicklung eines qualitätsvollen inklusiven Unterrichts an allgemeinen Schulen genutzt werden können. Je nachdem in welches Bundesland man hier schaut, zeigen sich unterschiedliche Modelle, die sich in den vergangenen Jahren bewährt haben. Die entscheidende Voraussetzung für das Gelingen der Inklusion ist und bleibt aber der gemeinsame Wille von Politik und Schulverwaltung.

 


Ausblick auf Blog-Themenwoche

Im Rahmen der Themenwoche Inklusion werden Beiträge von Interessensvertreter:innen mit ganz unterschiedlichen Blickwinkeln auf das Thema schulische Inklusion folgen. Dr. Susann Kroworsch (Deutsches Institut für Menschenrechte), Dr. Angela Ehlers (Verband Sonderpädagogik e. V.), Mark Rackles (ehem. Staatssekretär für Bildung in Berlin) und Eva-Maria Thoms (mittendrin e. V.) werden Einblicke in die Debatte geben und ihre Position vorstellen. Wir freuen uns auf eine spannende Woche, an der Sie sich hoffentlich auch beteiligen: Lassen Sie uns gerne einen Kommentar zukommen.

 


Zum Literaturverzeichnis

 

 

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