Anne Sliwka ist Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Heidelberg und beschäftigt sich unter anderem mit Schulsystementwicklung und Innovation. Wir haben mit Anne Sliwka darüber gesprochen, wie die Entwicklung hin zu einem modernen und zukunftsfähigen Schulsystem Ihrer Meinung nach gelingen könnte.

Liebe Frau Sliwka, das deutsche Schulsystem wird immer häufiger als nicht mehr zeitgemäß und nicht zukunftsfähig beschrieben. Teilen Sie diese Diagnose?

Ja, da kann ich in weiten Teilen zustimmen. Die Welt, in der sich Schule befindet, hat sich stark verändert. Auch die Kindheit und Jugend hat sich durch die technologische Transformation, die seit vielen Jahren stattfindet und durch künstliche Intelligenz stark an Fahrt aufgenommen hat, verändert. Zum Beispiel prägt die Verfügbarkeit von Mobiltelefonen das Erwachsenwerden schon seit langer Zeit. Dies ist eine der technologischen Veränderungen, die für den Schulkontext relevant sind. Gleichzeitig zeigen die internationalen Well-Being-Daten einen deutlichen Rückgang. Wir dachten zwar eine Zeit lang, das gesunkene Wohlbefinden junger Menschen sei auf die Pandemie zurückzuführen, aber die Daten zeigen, dass dieser Rückgang schon etwa zehn Jahre vorher begonnen hat. Die Pandemie hat diese Entwicklung also nur beschleunigt oder verstärkt. Die Lebenswelt hat sich dahingehend geändert, dass Jugend oder Aufwachsen heute in einer Welt stattfindet, die stark von den VUCA-Prinzipien (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit) geprägt ist. Das bedeutet, dass Schulen mit schnellen Veränderungen und Krisen umgehen müssen. Weitere Herausforderungen sind der demografische Wandel, Migrationsbewegungen und der Lehrkräftemangel – eine Reihe von externen Faktoren, die auf Schulen Einfluss nehmen. Meine Wahrnehmung ist, dass Schulen nicht schnell und adaptiv genug auf diese tiefgreifenden Veränderungen reagieren können. Auch fehlt es Schulen an internen Kapazitäten, um transformativ zu agieren.

Ich führe das darauf zurück, dass die Art und Weise, wie die Schulen vor Ort und der Unterricht in den Klassen, also das „Frontend“ gesteuert wird, immer noch stark von der Verwaltungslogik des 19. Jahrhunderts geprägt ist. Die unter anderem aus den preußischen Staatsreformen entspringende öffentlichen Verwaltung war damals eine echte Errungenschaft, weil sie durch Verwaltungshandeln eine flächendeckende Bildungsgrundversorgung ermöglichte und eine bestimmte Mindestqualität garantierte. Heute stellt sich dieses System jedoch als zu starr heraus. Es wird immer mehr zu einem Problem, dass Schulen entweder nicht den Mut haben, sich zu verändern oder sie tatsächlich nicht die Möglichkeit dazu haben, etwas anders zu machen. Das ist oft ein fließender Übergang. Wenn man jedoch mit den Minister:innen spricht, befürworten viele, dass die Schulen einfach mal machen sollen. Es ist also mehr möglich, als viele glauben. Ich schließe daraus, dass in den Schulen selbst die systemische Kapazität zur Veränderung fehlt, das heißt die Bereitschaft der Menschen, sich zu verändern und Neues auszuprobieren, aber auch die Ressourcen und die Zeit, im Team zu arbeiten, um über Veränderungen zu sprechen und diese anzustoßen. In der Schulpraxis haben viele Lehrkräfte das Gefühl, im Hamsterrad eines alten Modells zu laufen, das nicht mehr passt und ihren eigenen Bedürfnissen nach Lernen und Entwicklung nicht gerecht wird. Dies gilt auch für viele Kinder und Jugendliche. Wir haben empirische Evidenz dafür, dass es nicht rund läuft. Wenn wir Risikogruppen von 25-30 % der Schüler:innen haben, die nicht einmal die Mindeststandards erreichen, dann stimmt etwas im System nicht. Es ist an der Zeit, um “outside the box” zu denken und einen Paradigmenwechsel zu vollziehen, vom verwalteten hin zum lernenden Schulsystem.

Gibt es denn schon eine Idee dazu, wie dieser Paradigmenwechsel im Schulsystem gelingen könnte? Was und wen braucht es dafür?

Eine vollständige Einigkeit gibt es nicht, dafür ist die Schullandschaft auch zu groß. Es sind sehr viele Menschen in Schulen tätig, allein die Anzahl der Lehrkräfte liegt bei knapp über 800.000 in Deutschland. Allerdings ist es zunehmend so, dass sich Gruppen und Strukturen sowie Vernetzungen rund um verschiedene Innovations- und Change-Themen in Schule bilden. Es ist eine erhebliche Unruhe in das System gekommen, der schlafende Riese wacht langsam auf. Viele Bewegungen gleichen zwar noch Grassroots, aber es bilden sich allmählich auch überregionale Vernetzungsstrukturen rund um die Transformation von Schule und Schulsystem. Was man sich jetzt wünschen würde, ist, dass die Kräfte vor Ort an den Schulen, die bereits etwas Neues wagen und stärker vernetzt agieren, in ihrem Bemühen um eine zukunftsorientierte Bildung durch das System selbst systemisch unterstützt werden. Sie sollten mit diesen kreativen Suchbewegungen und den explorativen Denk- und Handlungsprozessen nicht allein gelassen werden. Man sollte diese Schulen begleiten und sie noch besser vernetzen.

Schule sollte als “Frontend” mit dem Schulsystem über mehrere Ebenen zusammengedacht werden, mit der Frage: Wie kann das System diese Kapazität für zukunftsorientierte Veränderungen systemisch unterstützen? Ein Ansatz wäre, dass das Schulsystem bewusst Räume für Lernen schafft und Daten bereitstellt, die den Schulen und dem Schulsystem zeigen, wo sie aktuell stehen. Derzeit werden Daten, die den Schulen und dem Schulsystem einen Spiegel vorhalten, fast ausschließlich von außerschulischen Akteuren, wie z. B. Stiftungen, geleistet. Für mich ist klar: Das System selbst muss Daten regelmäßig erheben, um sich im Spiegel anzuschauen und Diskursräume zu eröffnen: Was lernen wir aus den Daten? Was wollen wir verändern? Und welche Ziele haben wir in diesem Veränderungsprozess?

Gibt es Schulen oder Schulsysteme, vielleicht auch im Ausland, die bereits so arbeiten und von denen Deutschland lernen könnte?

Ich habe versucht, besser zu verstehen, was eigentlich die Schulsysteme auszeichnet, die in der PISA-Studie sehr gut abgeschnitten haben. Das sind Länder wie Singapur, Estland oder Kanada, die in ihren Gegebenheiten allerdings sehr unterschiedlich sind: Singapur ist ein Stadtstaat in Asien, Estland ein kleines Land im Baltikum und Kanada hat ein föderal organisiertes Bildungssystem, ähnlich wie in Deutschland. Es sind Länder mit sehr unterschiedlicher Größe, ethnischer Zusammensetzung und Governancestruktur. Trotzdem verbindet sie alle, dass sie aus meiner Sicht „lernende und lernfähige“ Systeme sind. Die Schulsysteme dort erheben alle seit geraumer Zeit systematisch Daten, um den aktuellen Zustand zu verstehen sich ambitionierte Ziele zu setzen und diese bis auf die Einzelschulebene herunterzubrechen.

In Kanada ist es zum Beispiel so, dass die Schulen sich für ihre Entwicklung datengestützt Jahresziele für den Zeitraum von einem und von drei Jahren setzen. Sie werden für die Erreichung dieser Ziele dann auch vom Schulsystem bzw. den sogenannten Schoolboards aus Schulaufsicht und der Provinz unterstützt. Diese Unterstützung kann von gezielter Ressourcenzuweisung über Vernetzungsangebote bis hin zu speziellen Fortbildungsangeboten reichen, die zu dem Bedarf der Schule passen. Die Prozesse sind alle darauf ausgerichtet, Lernen und Entwicklung kontinuierlich zu institutionalisieren und die Logik des Lernens zu einer festen, dauerhaften Logik zu machen. Eben nicht im Sinne von Krisenbewältigung, sondern als dauerhafter Modus des systemischen Lernens in einem Dreiklang aus Zielen, Daten und auch kooperativer Professionalität. Alle drei Systeme Kanada, Island, Singapur verbindet trotz der ganzen Unterschiedlichkeit, dass sie lernende Systeme sind.

Wie ist die Situation in Deutschland? Haben wir ein lernendes Schulsystem oder anders gefragt, wie kommen wir dahin, eine systemische Qualität des Lernens zu erreichen?

In Deutschland gibt es eine Reihe von Schulen, die durch Schulentwicklung zu modernen, zukunftsorientierten Lernorten geworden sind. Diese Transformation beginnt oft mit wenigen Veränderungen und weitet sich über die Jahre aus, getragen von charismatischen Schulleitungen, die visionär und engagiert arbeiten. Ein Kritikpunkt ist, dass diese Fortschritte meist auf einzelne Schulen begrenzt bleiben und neue Ungerechtigkeiten schaffen: So profitieren einige Kinder von innovativen Lernumgebungen, während andere Schulen kaum Fortschritte machen. Um echte Chancengerechtigkeit und systemische Lernfähigkeit zu erreichen, reicht die Einzelschule als Entwicklungseinheit also nicht aus. Es braucht eine stärkere Unterstützung durch die mittlere Ebene – Schulaufsicht und Ministerien – die als “Backend” die Schulen im “Frontend” gezielt begleiten. Entscheidend ist, dass das gesamte System datenbasiert arbeitet und gemeinsam Kapazitäten aufbaut, um Schule flächendeckend so zu gestalten, dass sie für alle Kinder und Jugendliche funktioniert. Einzelinitiativen können gute Vorbilder sein, aber da müssen wir das alte Schulmodell hinter uns lassen, um systemisches Lernen und dadurch Bildungserfolge für alle zu ermöglichen.

In welchen Bereichen könnten die Entwicklungsziele von Schulen liegen?

Ein Ziel ist sicher, und zwar, dass alle Kinder erstmal die Basiskompetenzen erreichen sollten, und damit ein Bildungsminimum, das ihnen überhaupt Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht. Es geht auch darum, die Leistungsspitze zu verbreitern, denn wenn wir wirtschaftlich international mithalten wollen, brauchen wir Innovationstreiber.

Auf der anderen Seite ist das Thema Chancengerechtigkeit eine Dauerbaustelle in Deutschland. Die Entkopplung von sozio-ökonomischer Herkunft und Schulerfolg, vor allem auch die Reduktion bzw. das starke Zurückfahren der Schulabbrecherquote sind in dem Zusammenhang wichtige Ziele.

Darüber hinaus werden die Themen Wohlbefinden und psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen immer wichtiger, das hat auch die Stellungnahme  der Leopoldina der Nationalen Akademie der Wissenschaften gezeigt. Schule muss ein Ort sein, an dem Selbstregulation, Wohlbefinden und Persönlichkeitsentwicklung noch stärker in den Blick genommen werden und so Resilienz erzeugt und gefördert wird. Das alles kann aber Schule nicht allein leisten, ebensowenig einzelne Lehrkräfte. Das wäre eine völlige Überfrachtung der Erwartungen an Einzelschulen und der in Schule tätigen Personen. Schule muss in dieser transformativen Aufgabe vom gesamten Schulsystem systemisch und systematisch unterstützt werden. Durch Vernetzungsmöglichkeiten, durch Daten, die das System bereitstellt, so dass die Lehrkräfte und die Schulleitung, die nicht selbst zusammensammeln müssen.

Wie zeigt sich das in der Schulpraxis vor Ort?

Es gibt Schulen, die inzwischen vorbildlich mit Daten arbeiten, allerdings muss die Schulleitung diese teilweise selbst einpflegen. Im Kontrast dazu bietet Kanada den Schulen die Möglichkeit, Daten in hochmodernen, digitalen Dashboards automatisch abzurufen. Im Dashboard loggen sich die Schulen per Kennwort ein und haben die Zugriffsrechte für die Daten, alles ist schon so aufbereitet, dass man es ganz intuitiv verstehen kann. Und auch die Vernetzungsstrukturen, die sind in diesen Systemen schon so aufgestellt, dass Schulen zum Beispiel gar nicht mehr in Konkurrenz zueinander arbeiten, was ja hier in Deutschland immer noch oft noch der Fall ist, sondern dass sich die Schulen auch untereinander unterstützen, kollaborativ arbeiten und auch ihre Erfahrungen und Learnings teilen. Über dieses System erfolgt auch die Ressourcenzuweisung, indem sie dann zwar auch immer wieder mit Zielvereinbarungen und auch mit Rechenschaftslegung konfrontiert werden. Trotzdem haben die Schulen somit die Möglichkeit, Ressourcen für die Zielerreichung einzusetzen und zu nutzen.

Gibt es aus Ihrer Sicht Dinge, die Schulen und dem Schulsystem helfen, Veränderungsprozesse anzufangen, dranzubleiben und zu gestalten?

Eine entscheidende Erkenntnis liefert die TALIS-Studie der OECD. Sie hat gezeigt, dass durch Kooperation und professionelles Vertrauen auch Entlastung kommt. Den Menschen im System Schule kann man in anderen Worten also sagen: Je enger ihr zusammenarbeitet, je mehr Synergieeffekte ihr nutzt und je besser sich das Sozialkapital im System entwickelt, desto größer wird auf mittlere Sicht die Entlastung für alle Beteiligten sein. Im Moment geht in diesem System zu viel Energie dadurch verloren, dass so viele Menschen versuchen, die Probleme allein zu bewältigen. Es ist deshalb entscheidend, gemeinsam zu arbeiten und kontinuierlich im Austausch zu bleiben, um echte Ko-Konstruktion zu ermöglichen. Das sollte außerdem am besten über mehrere Ebenen geschehen, sodass nicht nur an der Schule zusammengearbeitet wird, sondern z. B. auch Schulaufsicht und Schulträger viel besser als bisher zusammenarbeiten.

Die Schulaufsicht als untergeordnete Behörde des Landes und kommunale Schulträger sind in Deutschland zwei völlig getrennte Institutionen und haben in der Vergangenheit viel zu wenig zusammengearbeitet, um Schule systematisch zu unterstützen. Wenn man da überall Zusammenarbeitsstrukturen systematisch stärkt und auch das Lernen zwischen Schulen in der Region, dann wird es für alle einfacher. So entwickeln das Schulsystem und die Einzelschule aus sich selbst heraus eine innere Resilienz gegen die Stürme unserer Zeit. Schule wird dann auch wieder handlungs- und gestaltungsfähig und kann Bildungsangebote so verändern, dass sie für die Kinder und Jugendliche in der heutigen Zeit mit den Herausforderungen wieder passen.

Liebe Frau Sliwka, wenn Sie einen Wunsch für das Schulsystem frei hätten: Welcher wäre das?

Wir sehen in der Wissenschaft, dass Schulentwicklung sehr viel Spaß machen kann und eine tolle und sehr befriedigende Aufgabe ist. Die Zeiten, in denen wir leben, sind nicht einfach und es gibt viele Belastungsfaktoren, aber Schulentwicklung ist an sich eine sehr hoffnungsvolle Arbeit. Und das betrifft nicht nur die Lehrkräfte, die im Team oder zusammen mit der Schulleitung arbeiten, sondern das kann man noch weiterdenken: Wo Schulentwicklung so stattfindet, dass ganz viele Gruppen und Ebenen ineinandergreifen und gemeinsam Schule weiterdenken, da liegt auch eine Keimzelle für Zukunft und Hoffnung. Schule ist ein sehr guter Ort, um sich zu engagieren, wenn man im Kleinen Zukunft gestalten will. Und sie ist auch ein Ort, wo man schnell Selbstwirksamkeit erfährt und Erfolge sichtbar sind. Dies gilt nicht nur für diejenigen, die direkt vor Ort in der Schule arbeiten, sondern auch für Menschen in der Schulaufsicht, in Behörden, Ministerien oder bei Schulträgern. Ebenso können auch Ehrenamtliche, die sich in der Schule engagieren möchten, an dieser Stelle mitarbeiten und mitgestalten.

Vielen Dank für das Gespräch, liebe Frau Sliwka.