Die aktuellen Ergebnisse der Bertelsmann-Studie „Demokratisierung des Lernens in Schule“ zeigen, dass die Partizipation in der Unterrichtsgestaltung stark ausbaufähig ist. Woran liegt das? Alexander Gröschner, Inhaber des Lehrstuhls für Schulpädagogik und Unterrichtsforschung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, hat einige Erklärungen.

Herr Gröschner, was sind die wichtigsten pädagogischen Argumente für Partizipation von Schüler:innen im Unterricht?

Kurz gesagt: Wenn Schüler:innen die Gestaltung von Unterricht umfassend mitbestimmen und daran teilhaben, wirkt sich das positiv auf ihre Motivation, die Lernfreude, die Selbstwirksamkeit und ihr Selbstkonzept aus. Und das kann auch Motor für die Lernleistung sein.

Die vorliegende Studie „Demokratisierung des Lernens in Schule“ kommt zu der Erkenntnis, dass Partizipation oft eher symbolisch ist und selten tief in die inhaltliche Unterrichtsgestaltung hineinreicht. Wird hier Potenzial verschenkt?

Auf jeden Fall. Bei der Demokratisierung des Lernens in der Schule denkt man oft zunächst an Dinge wie die Einrichtung eines Klassenrats. Auf das Verständnis tatsächlicher Partizipation im Unterricht trifft man sehr selten, also, dass Schüler:innen bei der Planung, bei der Gestaltung und bei der Reflexion vom Unterricht mitwirken. Schüler:innen haben das Gefühl, sich zwar irgendwie äußern zu dürfen, aber meist bei Dingen, die nicht nah am Unterricht sind oder mit dem Lernen zu tun haben.

Woran liegt das?

Viele Lehrkräfte haben noch nicht das Verständnis dafür, mehr an die Schüler:innen abzugeben. In der Regel haben sie hohe Redeanteile und das Gefühl, sie müssen anleiten, kleinschrittig vorgehen und sehr zentriert unterrichten, um die Fäden in der Hand zu halten. Darin liegt natürlich auch viel Freiheit der Lehrkräfte und ein Gefühl der Macht. Sie haben die Hoheit in der Interaktion. Neuere Forschung zur Unterrichtsqualität weist aber darauf hin, dass Lehrkräfte mehr an Schüler:innen abgeben sollten.

Wie genau sollten sie das tun?

Ganz klassische Dinge wie Anschreiben oder auch Aufrufen kann man delegieren. Und leistungsstärkere Schüler:innen können in bestimmten Phasen leistungsschwächere unterstützen. Man bringt sich selbst aus der Rolle der Person heraus, die alles steuern muss. Lehrkräfte können so ein Erlebnis von Partizipation, Mitbestimmung und Mitwirkung erzeugen. Natürlich kommt es auch auf die Lernvoraussetzungen der Schüler:innen an. Aber wenn man Schüler:innen mehr Möglichkeiten der Partizipation bietet und das über eine Weile gut organisiert, dann können sie das. Das ist dann eine neue Form der Demokratisierung von Unterricht. Und diese Tatsache der Gestaltung sollte man dann auch als solche, quasi auf der Meta-Ebene, mit den Schüler:innen thematisieren. So findet Demokratiebildung im Unterrichtsalltag statt.

Ein klares Classroom-Management, also eine überzeugende, gut strukturierte Klassenführung, korrespondiert Studien zufolge mit Lernerfolgen. Passt dazu eine verstärkte Partizipation von Schüler:innen?

Die Frage ist, wer das Classroom Management festlegt. Es sollten nicht die Regeln der Lehrkraft allein sein, die hier durchgesetzt werden, sondern es sollten die Regeln der Klasse sein. Wie wollen sich Lehrkräfte und Klassen austauschen? Es geht dabei ums Zuhören, um Bezugnahme untereinander, das Einhalten von sozialen Regeln. Es wird zum Beispiel über niemanden gelacht, der gerade etwas Falsches sagt. Classroom Management ist für die Unterrichtsqualität relevant, und eine Art Voraussetzung, damit überhaupt Lernen und Austausch gut stattfinden können. Das ist kein Widerspruch: Ein gut gemachter, offener und partizipativer Unterricht hat sehr starke Regeln und ist hochgradig strukturiert.

Sie selbst sind in einer Meta-Studie zu dem Schluss gekommen, dass sich Unterricht, der stärker schüler:innenzentriert ist, positiv auf die Lernmotivation auswirkt. Beim Leistungszuwachs ist das eher nicht der Fall.

Ja, beim Wissenserwerb zeigen sich weniger positive, zum Teil sogar nachteilige Effekte gegenüber dem klassischen Instruktionsunterricht. Es ist aber meines Erachtens wichtig, die Designs der Studien, die wir in den Blick genommen haben, richtig einzuordnen. Über einen begrenzten Zeitraum wurden dabei gewohnte, lehrer:innenzentrierte Unterrichtseinheiten mit neu eingeführten, offeneren Unterrichtseinheiten verglichen, die eben nicht routinisiert oder ritualisiert sind. Das braucht seine Zeit. Wenn eine Lehrkraft etwa das Aufrufen an die Schüler:innen abgibt, diese sich also selbst gegenseitig aufrufen sollen, bringt das erstmal Irritation. Auch das Einbinden der Schüler:innen in die Themenauswahl oder in die Frage von Präsentationsformen kostet Einübungszeit.

Überraschen Sie die niedrigen Mitbestimmungswerte, die die Schüler:innen angeben, nicht?

Doch, das tun sie. Sie zeigen, wie viel Lehrer:innenzentrierung wir in der Unterrichtsgestaltung finden. Gerade auch in der Altersgruppe der 12- bis 16-Jährigen. Das ist in der Grundschule schon anders. Aber auch da dominiert die Lehrkraft bei 50 bis 60 Prozent Gesprächsanteil oft.

Bei Prüfungsmodalitäten können Schüler:innen nur sehr selten mitbestimmen. Wie ordnen Sie das ein?

Das überrascht mich nicht. Lehrer:innengemachte Prüfungen dominieren. Dabei sind viele Alternativen zum Gewohnten denkbar: So ließe sich festlegen, einen Test erst dann zu schreiben, wenn Schüler:innen das Gefühl haben, die Inhalte verstanden zu haben. Und wenn Lehrkräfte dann noch Fehler finden, thematisieren sie das. Auch das Prüfungsformat lässt sich variieren. Manche sind im Sprechen besser, manche im Schreiben. Die Entscheidung über das Format kann man durchaus in die Hände der einzelnen Schüler:innen legen. Grundlegend ist, die Anforderungen, die ich an die Schüler:innen stelle, sehr transparent zu machen.

Wieso fällt es Lehrkräften schwer, sich zurückzunehmen und stärker auf partizipative Elemente zu setzen?

Ein Grund könnte sein, dass die Ausbildung von Lehrkräften von einer Bewertungskultur geprägt ist statt einer wertschätzenden Rückmeldekultur. Oftmals sind angehende Lehrkräfte selbst schon früh in einer Bewertungssituation gefangen. Bei Unterrichtsbesuchen werden beispielsweise von Referendar:innen häufig immer noch Showstunden präsentiert, damit alles passt und man gut durchkommt. Die erreichte Note ist wichtig, und die durch die Fachleiter:innen wahrgenommenen Defizite stehen eher im Vordergrund, als eine konstruktive Reflexion der Stunde. Das verhindert oft, dass Lehrkräfte dann im Berufseinstieg offen sind für Kooperation und die gemeinsame Unterrichtsentwicklung.

Welchen Wert kann Feedback in der Schule haben?

Wir wissen, dass die Feedback-Kultur an viele Schulen aus Schüler:innensicht wenig ausgeprägt ist. Typisch ist ein Daumen-Feedback, oder Schüler:innen äußern sich in einer Mentimeter-Umfrage. Aber das hilft wenig für die nächste Stunde. Oder Lehrkräfte fragen, ob die Schüler:innen Inhalte verstanden haben, und es traut sich oft keiner, etwas zu sagen. Oft verkennen Lehrkräfte, dass sie von Schüler:innen durchaus erwarten können, eine Rückmeldung zum Unterricht zu erhalten. Schüler:innen haben differenzierte Ansichten. Wenn Lehrkräfte diese Feedback-Kultur etablieren, wirkt sich das positiv auf das Klima in der Klasse und die Lehrkräfte-Schüler:innen-Beziehung aus.

Gerade an Gymnasien sehen Schüler:innen ihre Möglichkeiten der Mitbestimmung eingeschränkt. Wie erklären Sie sich das?

An Gymnasien ist die Lehrer:innenzentrierung besonders stark. Die Diskussionskultur ist zwar ausgeprägter, weil die Schüler:innen das kognitive und motivationale Leistungsvermögen mitbringen, sich einzubringen und sich auch zu komplexen Themen zu äußern. Das gibt Gestaltungsmöglichkeiten für den Unterricht. Aber die Diskussionskultur steht auf einem anderen Blatt als die Möglichkeit, Schüler:innen tatsächlich bei Lerninhalten mitgestalten zu lassen. Die Lehrkräfte beanspruchen eine Fachhoheit für sich und dadurch auch die Auswahl der Inhalte und die Vorgabe der Prüfungsmodalitäten. Es gibt noch viel Potenzial, wo Lehrkräfte an Gymnasien mehr abgeben könnten, um eine stärkere Partizipationskultur im Unterricht zu erreichen.

Wie bewerten Sie, dass die Mitbestimmungsmöglichkeiten an Schulen mit Ganztagsangebot aus Sicht der Schüler:innen deutlich höher sind.

Ich würde differenzieren nach teilgebundenem Ganztag und gebundenem Ganztag. Wenn ich einen gebundenen Ganztag habe, dann lege ich Lerninhalte oft auch in Ganztagsarbeitsphasen. Und das bringt mehr Möglichkeiten und Räume mit sich. Die Schüler:innen sind länger in der Schule, und das schulische Personal kann vielfältigere Angebote für Schüler:innen gestalten oder koordinieren, die sich stärker an ihren Interessen orientieren und nicht allein an deren Leistungsvermögen und curricularen Vorgaben.

Kann damit auch die Beziehung von Lehrkräften und Schüler:innen gestärkt werden?

Wenn ich mehr Gelegenheiten habe und nutze, mit Schüler:innen ins Gespräch zu kommen, wird das auch wertschätzend wahrgenommen: Die Lehrkraft interessiert sich für meine Bedürfnisse. So kann ein Vertrauensverhältnis entstehen, ein beidseitiges Zutrauen.

Kann eine stärkere Partizipation von Schüler:innen auch zu mehr Bildungsgerechtigkeit beitragen?

Ja, ich glaube, Bildungsgerechtigkeit kann durch eine Form der Demokratisierung der Schulen gefördert werden. Wenn Lehrkräfte und Schulen ihre Schüler:innen ernst nehmen und interessiert sind an deren Bildungsbiografien, loten sie Wege aus, Kinder und Jugendliche besser zu unterstützen und zum Lernerfolg zu bringen. Dazu müssen sie mit den einzelnen jungen Menschen ins Gespräch kommen. Und das hat viel mit einer partizipativen Unterrichts- und Schulkultur zu tun.

Das Interview wurde von Holger Schleper vom Bildungsdossier
Kuhn + Schleper geführt.