Preisverleihung im Bremer Rathaus
Preisverleihung im Bremer Rathaus

60 Einzelschulen und fünf Verbünde mit insgesamt über 400 beteiligten Institutionen hatten sich beworben. Ausgezeichnet wurden am 27. Mai bei der Preisverleihung im Bremer Rathaus die Waldorfschule Emmendingen in Baden-Württemberg, die Kinderschule in Bremen und die Grundschule Ernst-Moritz-Arndt im ostwestfälischen Espelkamp und als Schulverbund das Landesförderzentrum Sehen in Schleswig, das Schüler in ganz Schleswig-Holstein wohnortnah unterstützt. Alle vier Preisträger überzeugten die Jury mit ihren inklusiven Konzepten. 
An der Kinderschule in Bremen steht gemeinsames Lernen im Mittelpunkt. In vielen Phasen der Freiarbeit entscheiden die Kinder selbst, an welchen Aufgabenstellungen in den Bereichen Mathe und Deutsch sie arbeiten und bestimmen auch deren Reihenfolge. Dabei gilt immer der Anspruch, dass alle Kinder die Möglichkeit haben, alles zu lernen. Dafür begleiten pädagogische Mitarbeiter die Kinder im Unterricht. An der Kinderschule gilt der Grundsatz, die Kinder „so viel wie nötig und so wenig wie möglich“ zu unterstützen. Die Selbstständigkeit wird so gefördert und die Kinder entwickeln ein gesundes Selbstbild.
Im Mittelpunkt der Arbeit an der Kinderschule steht die Lust am eigenen Lernen, Entdecken und Gestalten. Lehrkräfte und pädagogische Mitarbeiter der Kinderschule organisieren die Inhalte aller Fächer – außer Mathe und Deutsch –  in Form von Angeboten. Angebote finden täglich von 11 Uhr bis 12.10 oder 12.40 statt. Hier gibt es z.B.  den „Leseclub“, die „Zeitforscher“, „die Stadterkundung“, „Fußball“, „Theater“, „Film“, „Garten“, „Ackern und Rackern“ (Gartenbau auf der schuleigenen Parzelle), „Graffiti“ und vieles mehr. An jedem Wochentag gibt es andere Angebote. Der lockere, vertrauensvolle und gleichzeitig respektvolle Umgang aller Schüler und Beteiligten miteinander ist hierfür kennzeichnend.
Inklusion im Unterricht
Inklusion im Unterricht

Der vertrauensvolle Umgang kennzeichnet auch die Waldorfschule Emmendingen. Waldorflehrer und Heilpädagogen führen ihre Klasse als Team gemeinsam acht Schuljahre lang. Die Klassen 9-12 werden vom Oberstufenteam betreut. Die neunte Klasse übernimmt jeweils die Patenschaft für die neue erste Klasse. Insgesamt lernen die Schüler 12 Jahre zusammen, von der ersten Klasse bis zum Waldorfabschluss. Es gibt keine Noten und keine Versetzungsfragen: jede Klasse bleibt vom ersten bis zum zwölften Jahr zusammen. Stattdessen kann sich jedes Kind  in seinem Tempo entwickeln. Die Entwicklung des einzelnen, nicht ein Klassenziel, stehen im Vordergrund. Dabei wird, im Sinne der Waldorfpädagogik, immer das ganze Kind mit allen seinen Sinnen angesprochen: Bewegungsspiele, Gartenbau, Werken, Handarbeit, Theater, aber auch lange Praktika gehören ganz selbstverständlich zum Stunden- und Jahresplan.
In der Unterstufe beginnt jeder Tag mit dem rhythmisierten Anfang, mit gemeinsamem Aufsagen von Sprüchen, Singen, Bewegungsspielen, Rätseln, häufig mit Bezug  zum Jahreskreis. In der Mittelstufe gehen die Bedürfnisse der Schüler stärker auseinander. Bei den einen steht Zielorientierung und Selbstfindung an, bei den anderen geht es um Mobilität im Alltag oder lebenspraktisches Training. Verschiedene Praktika begleiten die Schülerinnen und Schüler auf ihrem Weg durch die Oberstufe: in der 9. Klasse ein Landwirtschaftspraktikum, in der 10. Klasse ein Betriebspraktikum und Feldmesspraktikum, und in der 11. Klasse das Sozialpraktikum. Alle Schüler schließen ihre Schulzeit am Ende der 12. Klasse mit dem Waldorfabschluss ab. Im Anschluss an das 12. Schuljahr kann in einem 13. Schuljahr in Kooperation mit einer benachbarten Waldorfschule das Abitur erworben werden.
Inklusion geht nur im Team. An der Grundschule Ernst-Moritz-Arndt (EMA) in Espelkamp leitet ein Team aus Grundschullehrer, Sonderpädagogen und Schulbegleiter jede Klasse. In fast allen Stunden sind zwei Kräfte anwesend. Die  Klassenteams haben montags im Stundenplan eine feste Teambesprechungszeit, um den Unterricht vorzubereiten und abzustimmen. Um die Beziehung zwischen Lehrern und Kindern zu stärken, verbringen die Klassenteams viel Zeit in der eigenen Klasse. Davon profitieren alle Kinder.
Wie schon die Zusammensetzung der Klassenteams zeigt, ist das Konzept für die Schulbegleiter an der Grundschule Ernst-Moritz-Arndt besonders gut organisiert: alle Schulbegleiter kommen von einem einzigen Träger, der Lebenshilfe. Sie sind im Pool organisiert und sehen sich als Ansprechpartner für alle Kinder. Dadurch, dass sie nicht zu eng an „ihrem“ Kind sind, werden gerade die Kinder mit Förderbedarf selbständiger und können sich besser in der Gemeinschaft entwickeln, als das sonst oft der Fall ist. Und alle Kinder profitieren davon, noch einen Ansprechpartner in der Klasse zu haben, der für ihre Fragen und Bedürfnisse offen ist. Zum Konzept der EMA gehört auch, Unterricht und Therapie eng miteinander zu verbinden. Die Schule arbeitet mit einer logopädischen Praxis zusammen, stellt Räume zur Verfügung, stimmt Stundenpläne mit Therapieplänen ab und informiert die Logopäden über die Themen, die im Deutschunterricht behandelt werden. So  können die Kinder  gezielt an ihrem Wortschatz arbeiten. Diese enge Zusammenarbeit entlastet Eltern und Kinder und trägt dazu bei, dass die Kinder schnell große Fortschritte machen können.
 
Der vierte Preisträger, das Landesförderzentrum Sehen in Schleswig (LFS), unterstützt mit seinen rund 70 Lehrkräften und 10 Verwaltungsmitarbeitern knapp 1000 Kinder und Jugendliche in ganz Schleswig-Holstein. Im LFS allerdings trifft man die eher selten –  wenn, dann im zugehörigen Kurshaus nebenan, weil einer von 40 jährlichen Kursen stattfindet. Denn das LFS ist seit seiner Gründung eine Schule ohne Schüler – die nämlich besuchen die Kita oder die Schule vor Ort. Lehrkräfte trifft man am Landesförderzentrum schon eher. Alle vierzehn Tage trifft sich hier das gesamte Kollegium zum „Schleswig-Dienstag“. Zusammen mit der Teamstruktur bilden diese Tage das Herzstück der Arbeit des LFS.
An den „Schleswig-Dienstagen“ besprechen die Lehrkräfte in ihren Teams Fallbeispiele, klären inhaltliche Fragen, fördern die eigene Expertise und entscheiden über die Zuständigkeit für einzelne Kinder oder Jugendliche. Im Vierwochenrhythmus ist der Nachmittag des „Schleswig-Dienstages“ einer Gesamtkonferenz gewidmet, in der sich das gesamte Kollegium austauscht. In der Kombination bedeutet das: Jedes Team verfügt damit über eine umfangreiche professionelle Ressource, auf die wiederum jedes Teammitglied zugreifen, sich austauschen und beraten kann. Damit bleibt die hohe Professionalität erhalten, weil durch diesen kollegialen Austausch vermieden wird, dass es zu Vereinzelung in der Arbeit vor Ort kommt. Ist kein „Schleswig-Dienstag“, so unterstützen und beraten die Lehrkräfte „ihre“ Kinder und Jugendlichen zuhause, in der Kita, der Schule oder im Übergang zum Beruf. Jeder Kollege ist für bestimmte Kinder und Jugendliche zuständig. Durch die Kombination aus dezentraler und zentraler Organisation, dem intensiven professionellen Austausch und der Expertisenentwicklung an den „Schleswig-Dienstagen“, ebenso wie durch die enge Kooperation mit den Lehrkräften vor Ort, wird Inklusion im besten Sinne möglich:  Die Schüler besuchen eine allgemeine Schule und bleiben in ihrem gewohnten Umfeld.
Die Preisträgerschulen des Jakob Muth-Preises 2015 zeigen, dass sich durch Inklusion eine neue Lernkultur entwickeln kann, die konsequent am Prinzip individueller Förderung ausgerichtet ist und das Potenzial aller Schülerinnen und Schüler besser entfaltet. Eine inklusive Schule hat dabei die Bedürfnisse aller Kinder im Blick und begreift die Vielfalt der Kinder als Chance.
 
Informationen zur Bewerbung:
Ab sofort können sich inklusive Schulen um den Jakob Muth-Preis 2016 unter http://www.jakobmuthpreis.de/bewerbung/ bewerben. Bewerbungsschluss ist der 15. Dezember 2015.