Eine Schule der offenen Türen und offenen Herzen

Dieser Beitrag wurde verfasst von: Sina Nordsiek.

In der Grund- und Mittelschule Thalmässing sind alle Kinder „Inklusionskinder“. Das Motto „Stärken stärken durch eigenverantwortliches Arbeiten“ durchzieht alle Jahrgangsstufen und spiegelt sich im Handeln aller beteiligten Akteure wider. Derzeit lernen an der Schule 310 Schüler der ersten bis neunten Klasse gemeinsam, darunter 32 Kinder mit unterschiedlichen Förderbedarfen. Alle Kinder werden dabei in ihrer Einzigartigkeit mit ihren jeweiligen Stärken und Schwächen als gleichwertig anerkannt. Die Kinder lernen von klein auf, dass Vielfalt etwas Wertvolles ist. 75 Prozent der Kinder erhalten nach der vierten Klasse eine Realschul- oder Gymnasialempfehlung und verlassen die Schule mit einem gestärkten Selbstbewusstsein.
Wir betreten das Schulgebäude und nehmen sofort die einladende und offene Atmosphäre wahr, die uns hier begegnet. Die Kinder sind aufgeschlossen und interessiert und möchten auch gleich den Anlass für unseren Besuch erfahren. Wir bekommen von Lehrerin Elke Moder einen Übersichtsplan, um uns ein Bild davon zu machen, wann und wo an diesem Tag welcher Unterricht stattfindet. Anschließend werden wir ermuntert, uns frei durch das Schulgebäude zu bewegen. Es gibt keinen vorgegebenen Ablauf, wir erhalten lediglich Besuchsangebote für mögliche interessante Hospitationen. Bereits bei einem ersten Blick durch die Gänge wird deutlich: Die Schule lebt eine Kultur der offenen Klassenzimmer. Alle Türen stehen zu jeder Zeit offen und wir dürfen ohne Vorankündigung überall hinein sehen. Wir sind kaum mehr als 10 Minuten in einem Klassenzimmer, wandern frei durch die Schule und bekommen einen übergeordneten Einblick in die offene Unterrichtspraxis an der Schule. Teilweise haben die Klassen Sitzfenster zum Flur. Lehrkräfte kooperieren viel über die offene Klassenzimmertür hinaus mit anderen Lehrkräften und Klassen. Immer wieder ergeben sich durch diese offene Kultur auch für uns Gesprächsmöglichkeiten mit unterschiedlichen Lehrkräften.
Beim Betreten der Räume fällt gleich auf, dass die Raumaufteilung und -struktur der Schule außergewöhnlich ist: Alle Klassenräume sind als flexible Klassenzimmer gestaltet. So wird die zentrale Tafel durch ein innovatives White-Board an der Rückseite jedes Klassenraumes und durch frei verschiebbare Tafelelemente ersetzt, die auch von Rollstuhlfahrern problemlos genutzt werden können. Die Kinder sitzen an tragbaren Dreieckeinzeltischen, um flexibel reagieren zu können und um immer wieder mit neuen Lernpartnern in Gruppen zusammenarbeiten zu können. Jeder Klassenraum verfügt über sogenannte „Hokkis“, unterschiedlich große, leichte Plastik-Bewegungshocker, die von den Schülerinnen und Schülern problemlos mit auf den Flur zum gemeinsamen Arbeiten getragen werden können. „Flexibel ist ein gutes Wort für unsere Schule. Ich denke, wir verlangen Flexibilität im Kopf der Kollegen, Flexibilität von den Schülern. Unsere Welt braucht Menschen, die flexibel reagieren, auch in den nächsten Jahrzehnten. Und das beginnt von der ersten Klasse an. Das heißt, jeder Schüler muss bereit sein, dort zu arbeiten, wo für ihn gerade ein Lernszenario oder Lernszene darstellt, wo Lehrer etwas bereitstellen zu lernen, dort findet Lernen statt“, sagt Schulleiter Ottmar Misoph.
Im Gespräch mit Herrn Karlheinz Seefeld, Klassenlehrer der zweiten Klasse, erfahren wir, dass die Klassen ihre „freien Lernzeiten“ untereinander gemeinsam abstimmen, damit die Schüler auch jahrgangsübergreifend zusammenarbeiten können. Dass die Schüler von diesem Ansatz in besonderer Weise profitieren, erfahren wir während unseres Schulbesuches: In der freien Lernzeit dürfen sie sich im Schulgebäude frei bewegen und sämtliche Räume der Schule nutzen. Dabei lernen sie gemeinsam auf den Fluren, in den Sitzfenstern der Klassenräume, in der Aula oder in den Computerräumen an individuellen Wochenplänen in ihrem eigenen Tempo. Heute dürfen wir sie dabei begleiten. Die Schule verfügt über mehrere Computerräume, tragbare kleine Laptops und Skool-Pads mit individualisierten Lernprogrammen im IT-System Skool-control, in welchem die Wochenpläne und auch die Schulbücher für jedes Kind online gestellt sind. Diese digitalen Medien können zusätzlich von den Schülern während der freien Lernzeit selbständig genutzt werden.

“Wir üben gemeinsam“: Ältere Schüler unterstützen die Jüngeren in ihrer freien Lernzeit. (Fotograf: Ulfert Engelkes)
“Wir üben gemeinsam“: Ältere Schüler unterstützen die Jüngeren in ihrer freien Lernzeit. (Fotograf: Ulfert Engelkes)

Darüber hinaus werden die Grundschüler während ihrer freien Lernzeit von Schülern aus älteren Klassen unterstützt. Von diesem fest eingerichteten Projekt mit der Bezeichnung „Wir üben gemeinsam!“ profitieren allerdings nicht nur die Jüngeren; auch die älteren Schüler erhalten eine enorme Wertschätzung für ihre Teamarbeit und bekommen auf diese Weise ein gestärktes Selbstbewusstsein. An diesem Tag sind vier Sechstklässler in der 2. Klasse von Herrn Seefeld, um die jüngeren Schüler während des Arbeitsprozesses zu unterstützen. Das Leitbild der Schule: „Stärken stärken durch eigenaktives Lernen“ wird hier besonders erlebbar. Wir beobachten, wie die Kleinen und die Großen zusammenarbeiten. Gerade im Computerraum wird schnell deutlich, dass nicht immer nur die Kleinen etwas von den Älteren lernen können – besonders im medialen Bereich sind die jüngeren unglaublich affin und geben ihr Wissen an die Großen weiter. Damit das gemeinsame Arbeiten besser gelingen kann, stehen in allen Klassen unterschiedlich große Stühle an gleichhohen Tischen zur Verfügung, sodass alle auf Augenhöhe zusammensitzen- und arbeiten können. Auch zwei Eltern unterstützen die Grundschüler an diesem Tag in ihrer freien Lernzeit als Helfer im Unterricht und können auf diese Weise direkt am Schulleben teilnehmen. Im Anschluss an die Freiarbeitsphase treffen sich alle Schüler wieder im Klassenverband und reflektieren gemeinsam mit den Schulpaten, den Eltern und dem Klassenlehrer Herrn Seefeld ihr Arbeits- und Sozialverhalten. Wir sind auch mit dabei. Die älteren Schulpaten geben ihren Patenkindern Lob und Tipps, um ihnen aufzuzeigen, was sie beim nächsten Mal besser machen können.

Gemeinsame Reflexion in der Gruppe am Ende der Unterrichtseinheit. (Fotograf: Ulfert Engelkes)
Gemeinsame Reflexion in der Gruppe am Ende der Unterrichtseinheit. (Fotograf: Ulfert Engelkes)

Herr Seefeld kann zudem auf die Ergebnisse der Schülerinnen und Schüler über das fest integrierte Skool-Control-System zugreifen und diese am Whiteboard visualisieren. Auf diese Weise kann jedem Schüler individuell aufgezeigt werden, an welcher Stelle er noch Schwierigkeiten hat und woran er in der nächsten freien Lernzeit weiterarbeiten kann – der jeweilige individuelle Lernstand aller Kinder kann fortlaufend diagnostiziert werden. Anschließend trägt Herr Seefeld die Ergebnisse der Lernzeit in Tabellen und Schaubildern ein und verknüpft sie mit neuen Aufgaben, auf die jeder Schüler Zugriff hat. Herr Seefeld erzählt uns nach Beendigung der Reflexionsrunde, dass man durch das Skool-Control-System für jeden Schüler je nach Bedarf individuell Funktionen zu- oder abschalten kann, sodass Kinder mit Förderbedarf in der Gruppe nicht mehr auffallen. Jeder arbeitet mit derselben Maske am PC, die freigeschalteten Funktionen sind dabei aber nicht sichtbar. Auf diese Weise können sowohl Kinder mit Hochbegabung als auch Kinder mit Förderbedarfen mit demselben Programm an differenzierten Aufgaben arbeiten – Die individuelle Förderung kommt allen Kindern zugute. Der Stuhlkreis zur Reflexion sei ein festes Ritual: An jedem Schultag und nach jeder Unterrichtseinheit würden sie Freiarbeitsphasen gemeinsam im Stuhlkreis beginnen und beenden, welches Vorgehen den Kindern zum einen Sicherheit und Verlässlichkeit biete zum anderen der Ergebnissicherung und Reflexion diene.
Doch nicht nur in der zweiten Klasse ist das innovative Whiteboard ein wichtiger Bestandteil in der täglichen Arbeit, auch die 8. Klasse nutzt ihr Whiteboard, um den individuellen Lernstand der einzelnen Schüler festzustellen. Das können wir in der nächsten Unterrichtshospitation miterleben: Die Klassenlehrerin Frau Vorth nutzt die sogenannte „Response-Abfrage“ zum Gruppeneinstieg: Sie präsentiert dabei ihren Schülerinnen und Schülern über das Whiteboard 20 Aufgaben zu verschiedenen mathematischen Themenbereichen. Die Schüler sitzen dabei im Halbkreis mit ihrem „Klicker“ in der Hand um das Whiteboard. Jeder Schüler gibt seine individuelle Lösung (a-d) der Fragen in seinem „Klicker“ ein. Am Ende der 15-minütigen Überprüfungen lassen sich die Ergebnisse von Frau Vorth auswerten. Die Ergebnisse werden den Schülern präsentiert. Jeder Schüler bekommt auf diese Weise visualisiert, in welchen Bereichen seine Stärken liegen und woran er in der verbleibenden Unterrichtszeit noch vertiefend arbeiten kann. Anschließend arbeitet jeder Schüler in Gruppenarbeit an den Themenschwerpunkten weiter, in denen er noch Schwierigkeiten hatte. Dazu wurden im Voraus Gruppentische zu den unterschiedlichen Schwerpunkten eingerichtet. Auf diese Weise entsteht kein Vergleichsdruck unter den Schülern. So hat jeder Schüler Bereiche, in denen er noch Defizite hat und an denen er weiterarbeiten kann – das akzeptieren alle gleichermaßen.
Wir wandern weiter durch das Schulgebäude und sehen uns den von Frau Korth empfohlenen Gebärdensprachkurs in ihrer 5. Klasse an. Die Sonderpädagogin, Frau Beate Frank erzählt uns, dass es rituell immer die Aufgabe von Julian sei, jeden Morgen den Wochentag anzusagen und die Lehrer aufzuzählen, die heute im Unterricht mit dabei sind. Das dürfen wir heute miterleben. Julian hat das Down-Syndrom und ist nur schwer zu verstehen. Um die Teilhabe aller Schüler am Unterricht sicherzustellen, bietet Frau Frank aus diesem Grund für die Schüler der fünften Klasse einen Gebärdensprachkurs mit Lautgebärden an, um auf diese Weise eine Verständigung zwischen Julian und den anderen Kindern der Klasse zu ermöglichen. Julian und Frau Frank sind dabei Trainer der gesamten Klasse und alle üben gemeinsam die Lautgebärden richtig durchzuführen und zu artikulieren. Dabei unterstützen sich alle Kinder gegenseitig. Es gibt für die Schülerinnen und Schüler aber auch noch weitere frei wählbare „Neigungsgruppen“, um ihren Vorlieben und Interessen gerecht zu werden. Unterstützt wird die Klasse auch noch von zwei Schulbegleiterinnen. Sie arbeiten als Team mit der Klassenlehrerin und verstehen sich als Unterstützung für alle Schüler, nicht nur für „ihre“ Kinder mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf.
In der 6. Klasse von Frau Krauß können wir den Fachunterricht in Deutsch beobachten. Die Schülerinnen und Schüler haben feste Lesetandems gebildet. Drei- bis viermal machen sie das pro Woche, immer ein lesestarker mit einem leseschwächeren Schüler gemeinsam, erfahren wir von Frau Krauß. Auf diese Weise würden Ängste abgebaut und die Kinder würden sich eher trauen, vor ihrem Tandem-Partner laut vorzulesen, als vor der gesamten Klasse. Um eine möglichst hohe Motivation zu erreichen werden die lesestarken Kinder als „Trainer“ und die leseschwächeren Kinder als „Sportler“ bezeichnet. Auf Zeit liest der „Sportler“ laut seinem Mitschüler, dem „Trainer“, einen Text vor. Der „Trainer“ unterstützt den „Sportler“, indem er laut mitliest, aber im Tempo des Sportlers. Dabei werden Sozialkompetenzen gefördert: Beide müssen beim Lesen aufeinander Rücksicht nehmen, sich aufeinander einstimmen und sich im Anschluss gegenseitig ein Feedback geben. Die Kinder erhalten auf Dauer durch diese Methode so viel Selbstvertrauen, dass sie sich auch mit Leseschwierigkeiten nach längerem Training wieder trauen, laut vor der gesamten Klasse vorzulesen, erzählt uns Frau Krauß.
Bemerkenswert ist auch die Möglichkeit der flexiblen Leistungserbringung ohne Zeitdruck. Von Frau Moder erfahren wir, dass jeder Schüler die Möglichkeit erhält, seine Leistung innerhalb eines Zeitfensters von einer Woche zu erbringen. Dafür stehen ihm verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Diese reichen von klassischen Klassenarbeiten, über digitale Präsentationen bis hin zur „Response-Abfrage“. Darüber hinaus würden die Zwischenzeugnisse durch zwei Zwischenberichte ersetzt, sodass die Schüler durch ein ausführliches individuelles Feedback die Möglichkeit erhalten, sich bis zum Schuljahresende noch weiter zu verbessern. Während unseres Besuches können wir beobachten, wie ein Schüler während einer Klassenarbeit mehr Zeit benötigt, als seine Mitschüler. Alle warten gemeinsam, bis auch der letzte Schüler fertig mit seiner Arbeit ist, um ihm den Stress zu nehmen.
An der Schule ist die Aussage, dass Inklusion nur von allen gemeinsam getragen werden kann keine leere Floskel. Man spürt deutlich, dass alle die gemeinsame Haltung teilen und dass jedes Kind mit seinen individuellen Stärken und Schwächen anerkannt und dementsprechend gefordert wird. Wodurch man zu solch einer guten inklusiven Schule, wie der Grund- und Mittelschule in Thalmässing, wird, fasst Herr Misoph am Ende unseres spannenden Hospitationstages sehr schön zusammen: „Inklusive Schule wird man, wenn sich im Kopf etwas ändert. Inklusive Schule findet im Kopf statt. Denn wenn ich so davon ausgehe, dass ich inklusive Lehr- und Lernmethoden anwende, dann habe ich alle Schüler im Fokus und alle Schüler mit ihren großen und kleinen Hindernissen an Lernen und Teilhabe. Und dann bin ich auf einem Weg, der einfach zwangsweise zu einer Öffnung von Unterricht führt, zu einer Öffnung von Räumen führt, weil ich da einfach näher am Schüler bin und näher an den Schwächen und Stärken der Schüler bin.“ Das nehmen wir sehr eindrücklich aus unserem Schulbesuch mit und sind glücklich, dass wir diese beeindruckende und richtungsweisende Schule besuchen und kennenlernen durften.

Website: www.vs-thalmaessing.de
Sina Nordsiek