Dieser Beitrag wurde verfasst von: Stefanie Rother.

„Früher war alles besser“ – wer kennt diesen Satz nicht. Hört man ihn allerdings im Kontext  der Schulstrukturdebatte, muss eine klare Unterscheidung vorgenommen werden. Während Westdeutschland über Jahrzehnte an einer strengen Gliederung der Schulformen festhielt, verfolgte Ostdeutschland eine für alle Kinder gemeinsam gedachte Schulorganisation vom Kindergarten bis hin zur Universität. Viele derjenigen, die im angeprangerten System der DDR aufwuchsen, halten diese Errungenschaft des gelebten Sozialismus hoch – das einheitliche Schulsystem.
Erst vor wenigen Tagen hatte ich die Möglichkeit, mit einer älteren Dame über ihre Schulgeschichte zu sprechen. Sie berichtete mir von ihren Erfahrungen mit dem Schulsystem der DDR – hier kam sie mit sechs Jahren auf die Polytechnische Oberschule (POS). Diese deckte die Klassenstufen 1 bis 10 ab, verzichtete quasi vollkommen auf Differenzierungen mittels Kurssystem und arbeitete mit einheitlichen Schulbüchern. Nach der zehnten Klasse absolvierten die Schülerinnen und Schüler entweder eine Berufsausbildung oder sie wurden zur Erweiterten Polytechnischen Oberschule (EOS) zugelassen, an der sie nach dem 12. Schuljahr die Abiturprüfung ablegten.

Lehrpläne, Schulbücher, Prüfungen im ganzen Land gleich
Lehrpläne, Schulbücher, Prüfungen im ganzen Land gleich

Das Fazit meiner bildungsinteressierten Gesprächspartnerin war eindeutig: „In der Einheitsschule haben alle Kinder gemeinsam gelernt – und zwar alle das Gleiche. Ein gewisses Maß an Grundbildung muss sein und steht allen Menschen gleichermaßen zu“. Sie erkannte durchaus die Notwendigkeit zur Wahrnehmung und Förderung individueller Besonderheiten an (sie selbst sei ein eher ängstliches Kind gewesen, das als „dumm“ abgestempelt wurde, da es sich nicht traute, laut zu sprechen). Viel wichtiger erschien ihr jedoch die Basis einer gemeinsamen Grundausbildung für alle Schüler, die dem Recht auf gleiche Bildungschance nachkommt und über das vierte Schuljahr hinausreicht. Eine entsprechende Schulstruktur bedeutete für sie auch, Schüler in ihrem Klassenverband zu belassen und nicht entsprechend ihre Begabungen zu sortieren. In diesem Sinne wurden Schülerinnen und Schüler in der POS unabhängig von ihrer Leistungsstärke und ihrem Elternhaus gemeinsam und auf der Grundlage einheitlicher Lehrpläne unterrichtet. Auch das Geschlecht, so die Zeitzeugin, war damals eher unbedeutend. Egal ob Mädchen oder Junge, allen Kindern wurden die gleichen Fähigkeiten zugetraut (z. B. in den natur-wissenschaftlichen Fächern, die gleichzeitig im Westen als männliche Domäne verstanden wurden). Die pädagogische Leitidee „Kein Kind zurückzulassen“, mit der gegenwärtig so manch Politiker den Schulwahlkampf bestreitet, sei keinesfalls neu. Die nette Dame erklärt energisch, dass die Lehrer in der DDR schon damals mit eben diesem Grundprinzip versucht haben, leistungsstarke und -schwache Schüler gleichermaßen mitzunehmen.
Nicht nur das von ihr zuletzt genannte Charakteristikum der DDR-Schule erinnert mich an die „neuen“ Paradigmen, mit denen gegenwärtig das westdeutsche Schulsystem zu reformieren versucht wird. Der Begriff „Einheitsschule“, der in den letzten Monaten vielfach im Mittelpunkt politischer Kampfansagen gegen jede Form integrativer Schulreform stand, hat heute jedoch einen eher unangenehmen Beigeschmack. Einheitlichkeit und das Lernen im Gleichschritt gilt es angesichts einer zunehmend heterogenen Schülergemeinschaft partout zu vermeiden. Differenzierung und Individualisierung sind die Leitbegriffe der Zukunft.
Für meine Gesprächspartnerin steht der Begriff „Einheitsschule“ jedoch unter einem anderen Stern; sie verknüpft mit dem DDR-System vorrangig die Stichwörter „Gemeinschaftlichkeit“ und „Gerechtigkeit“. Mir rufen ihre Ausführungen vor allem das Spannungsfeld ins Gedächtnis, in dem sich die Aufgaben von Schule früher, heute und in aller Zeit bewegen. Die Gleichzeitigkeit der beiden pädagogischen Leitmotive „Gleichberechtigung“ und „Differenz“ bildet das grundlegende Gerüst für das Handeln von Entscheidungsträgern der Bildungspolitik und ebenso von Lehrkräften im Schulalltag. Auf der einen Seite muss dem Recht auf Differenz nachgegangen werden, indem die Selbstständigkeit und Persönlichkeits-entwicklung von Schülern unterstützt wird. Auf der anderen Seite hat jeder Mensch den Anspruch auf eine gleichberechtigte Behandlung bzw. auf faire Bildungschancen.
Wie auch in der Wirtschaft und der Politik wurde den neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung relativ unreflektiert das westdeutsche Bildungssystem übergestülpt. Zu stark wogen die eklatanten Nachteile des Systems (u.a. die eingefrorene Abiturquote auf 12 Prozent und der Ausschluss der Kinder aus religiös gebundenen Familien und Unterschichten von der EOS), die gemeinsam mit dem Sozialismus wie Abfall entsorgt werden sollten.
Im Nachhinein erwies sich dies im Bereich der Bildung offenbar als Schnellschuss. Mehr und mehr kristallisieren sich gegenwärtig die Vorteile der sog. „Einheitsschule“ heraus; die Gemeinschaftsschule, in der ein längeres gemeinsames Lernen erfolgen soll, wird in immer mehr Bundesländern als das Zukunftsmodell diskutiert. Als Vorbild gelten dabei Finnlands Gemeinschaftsschulen, wobei offenbar vergessen wird, dass es einst die Finnen waren, die sich ihr Erfolgskonzept von dem ostdeutschen Schulsystem abschauten.
Nach langjährigen, dogmatischen Debatten, reifen Überlegungen – und nicht zuletzt erschreckender PISA-Ergebnisse des gegliederten Systems – sind die als Altlasten über Bord geworfenen Schulstrukturen der DDR somit unter neuem Namen wieder im Gespräch. Von einer Renaissance des Sozialismus ist die Bundesrepublik allerdings weiter entfernt denn je. Im Schulsystem sollen starres Gleichschalten, rigider Frontalunterricht und Drill definitiv der Vergangenheit angehören. Dennoch lässt sich festhalten, dass bei einem Blick auf die Schullandschaft von morgen die Erfahrungen der vergangenen Generationen nicht vollends unberücksichtigt bleiben sollten. Sie bergen so manch wertvollen Schatz.
Interessante Artikel zum Thema im Netz:
http://www.zeit.de/2009/46/C-DDR-Schule
http://www.n-tv.de/archiv/Schule-in-der-DDR-war-besser-article76049.html
http://www.netzeitung.de/kultur/490410.html
http://www.mdr.de/nachrichten/7967783.html
http://www.welt.de/die-welt/debatte/article8348354/Lob-des-Lehrers.html
http://www2.pms.ifi.lmu.de/erlebt/?p=2887
Stefanie Rother