Dieser Beitrag wurde verfasst von: Katharina Korves.

Tim ist hochbegabt. Lisa hat eine Sehkraft von nur 20 Prozent. Marco hat eine Lese-Rechtschreibschwäche. Marjam ist aus der Türkei und lebt erst seit einem Jahr in Deutschland. Tim, Lisa, Marco und Marjam gehen alle in dieselbe Klasse einer Realschule. Neben 25 anderen Kindern, von denen alle so normal und so individuell sind wie sie…
Dieses authentische Beispiel schilderte mir letzte Woche die Klassenlehrerin, eine ehemalige Kollegin. Es illustriert die gegenwärtige Situation in den Schulklassen, welche bestimmt ist durch Schülerinnen mit unterschiedlichen (Lern)Stärken und (Lern)Schwächen, unterschiedlicher Intelligenz, aus unterschiedlichen Kulturen, mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen und Familienkonstellationen. Fakt ist, dass wir diese Heterogenität anerkennen und im Sinne aller positiv hiermit umgehen müssen. Dies ist insbesondere in Zeiten umso relevanter, in denen in verschiedenen Zusammenhängen von gemeinsamem Lernen gesprochen und dieses auch umgesetzt wird (z. B. Gemeinschaftsschule, Inklusive Schule). Trotz aller beruflichen Herausforderungen, die diese Bedingungen für Lehrerinnen und Lehrer mit sich bringen glaube ich, dass sich hierin ebenso viele Chancen verbergen. Die Frage ist also: Wie kann es gelingen, allen gerecht zu werden? Wie kann es gelingen, die Potentiale und Chancen besser zu erkennen?

Individualisiertes Lernen im Unterricht
Individualisiertes Lernen im Unterricht

Bei den Überlegungen hierzu widme ich mich nicht nur eingehend älterer und neuerer Fachliteratur. Getrieben von meinen eigenen Erfahrungen und den Berichten der Kollegin aus dem obigen Beispiel reflektiere ich vor allen Dingen, was in Schule heute – bei allem äußeren Anspruch – realistisch und „machbar“ ist. Zunächst einmal stelle ich fest, dass der Anspruch des individualisierten Lernens keineswegs neu ist. Insbesondere in reformpädagogischen Zusammenhängen ging und geht es um eine anthropologische, humanistische Sichtweite der Wissensvermittlung. Diese definiert ihren erzieherischen Standpunkt vom Kind aus, stellt die Schülersicht in den Mittelpunkt aller didaktisch-methodischen Überlegungen und richtet den Unterricht hierauf aus. Dies ist natürlich – die Experten werden mir zustimmen – auch etwas, was man in der heutigen Lehrerausbildung lernt. Allerdings gerät es im Alltagstrott und neben vielen weiteren Ansprüchen schnell in den Hintergrund. Meiner Ansicht nach lohnt es sich jedoch über diese anthropologische Sichtweise und seine Schüler nachzudenken. Es ist sicherlich von Vorteil, genau zu überlegen und zu beobachten, wen man eigentlich vor sich hat und wie die Schüler im Einzelnen so „ticken“. Dies erleichtert das individuelle Eingehen auf Stärken und Schwächen, was im lehrerzentrierten Unterricht kaum gelingen kann. Obwohl klar ist, dass eine derartige „Situationsanalyse“ bei 29 oder mehr Kindern in der Klasse eine gewaltige Aufgabe darstellt, entlastet es letztlich das Agieren und Reagieren im Unterricht. Ich bin davon überzeugt, dass sich dies auszahlt.

Mit dieser Herangehensweise ist jedoch noch nicht klar, wie man im Konkreten den Unterricht methodisch individualisieren kann. Diesbezüglich gibt es eine Vielzahl an Konzepten, die sich unter dem Oberbegriff „freies Arbeiten“ zusammenfassen lassen, was weitere Schlagworte wie etwa handlungsorientierter Unterricht, offener Unterricht, selbstgesteuertes Lernen oder entdeckendes Lernen einschließt. Auch die Begriffe Werkstattunterricht und Wochenplanarbeit  tauchen in diesem Zusammenhang in der Fachliteratur auf. Eine ganze Invasion verschiedener Begriffe und Methoden stürzen bei der Recherche auf mich ein und ich sortiere hinsichtlich der Ausgangsfragen,
1. Wie kann individualisiertes Lernen gelingen und
2. Was ist realistisch und machbar?
Ich glaube dass sich in allen diesen Methoden und Konzepten Ideen finden lassen. Entscheidend ist, sich das passende und sinnvollste im Hinblick auf den eigenen Unterrichtsstil, die eigenen Überzeugungen und natürlich die jeweilige Schülerschaft herauszusuchen. Mir persönlich fällt insbesondere das immer wieder genannte Prinzip der Wahlfreiheit auf, welches zumindest innerhalb eines abgesteckten Unterrichtrahmens (z. B. einer vorbereiteten Umgebung, eines definierten Zeitfensters, klaren Absprachen, Regeln und Ritualen) zentral ist. Diese Wahlfreiheit ist wichtig, da sich so jeder Schüler individuell (z. B. hinsichtlich Lerntempo, Lernort, Arbeitsmittel oder Sozialform) mit einem Unterrichtsthema beschäftigen kann. Voraussetzung ist jedoch, den Unterricht sehr gut zu planen, also unterschiedliche Aufgaben (im Hinblick auf den Lehrplan) und Präsentationsmöglichkeiten zu überlegen, Hilfsmittel bereitzustellen, Lernorte (wie etwa Bibliothek, Computerraum) zu organisieren, Regeln und Rituale mit den Schülern vorab festzulegen. Zugegeben, es kostet viele Überlegungen und viel Mut, all dies umzusetzen. Denn die Verantwortlichkeiten werden neu verteilt und die Schüler diesbezüglich mehr eingespannt. Ich selbst habe die Methode der Lernwerkstatt intensiv ausprobiert. Als Vorteil sehe ich, dass man bei genauer Vorbereitung die Klasse beinahe automatisch reflektiert und sich den Stärken, Schwächen und Besonderheiten bewusst wird. Ein weiterer Vorteil ist, dass man sich im Unterricht selbst mehr zurücknehmen kann. Die Rolle des „Belehrers“ weicht stark hinter der Aufgabe des „Beraters“ und „Begleiters“ zurück. So entsteht eine Chance, sich den unterschiedlichen Schwierigkeiten besser zuwenden zu können und die individuellen Kompetenzen der Schüler wirksam werden zu lassen (z. B. zur gegenseitigen Unterstützung). Die weitere Chance besteht darin, die Heterogenität als Gewinn wahrzunehmen und jedem Kind das Gefühl zu geben, nicht nur individuell, sondern auch wichtig zu sein. Für mich ist das eine positive und produktive Art, mit Unterschiedlichkeiten umzugehen.
Als Fazit halte ich fest: Es lohnt sich erstens, den Blickwinkel in Richtung der Schüler zu verschieben, also vom Kind aus zu denken. Es lohnt sich zweitens, individualisierende Methoden zu reflektieren und (wenn auch zunächst in Teilen) auszuprobieren. Klar ist, es gibt keinen Königsweg, denn schließlich sind nicht nur die Schüler, sondern auch wir Lehrer individuell. Aber am Ende motiviert es, den richtigen Weg zu finden. Es treibt voran. Mich und die Schüler.
Katharina Korves