Dieser Beitrag wurde verfasst von: Rieke Bernard.

In jeder Munde
Bildungsgerechtigkeit wird spätestens seit PISA und Co. (wieder) verstärkt diskutiert. Beispiel Internet: Gibt man bei google die Stichwörter „Bildungsgerechtigkeit“ und „Deutschland“ ein, erhält man um die 93.800 Ergebnisse. Engt man die Suche zusätzlich auf „rechtliche Grundlagen“ ein, verringert sich die Trefferquote allerdings auf 7.220 Einträge. Die Einträge stammen von verschiedensten Autoren, Gruppen, Vereinigungen, Verbänden, Wissenschaftlern, Parteien etc. – und alle haben ihre je eigene Perspektive.
Anspruch auf Bildung
Im Grundgesetz verankert sind:

  • das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (GG, Art. 2 Abs.1)
  • das Recht der freien Wahl der Ausbildungsstätte (GG Art. 12 Abs. 1 Satz 1)
  • der allgemeine Gleichheitssatz (GG Art. 2 Abs. 1)
  • das Sozialstaatsgebot

Aus diesen zusammen lässt sich kein „Recht“ auf Bildung ableiten, sondern lediglich ein Anspruch auf gleiche Teilhabe an den vorhandenen öffentlichen Bildungseinrichtungen.
Vorherrschaft von an Leistung und Noten gebundenen sowie wirtschaftlichen Verständnissen von „Recht“ auf Bildung und „Bildungsgerechtigkeit“[1] in Politik und Öffentlichkeit

  • leistungsgerechte Verteilung von Bildungsmöglichkeiten – Bund und Länder sehen sich verantwortlich für die Bereitstellung von Bildungsangeboten. Der Bildungsteilnehmer habe die Verpflichtung diese verantwortungsvoll (und ohne Bildungsmissbrauch) zu nutzen.[2]
  • Mit dem Ausrufen der „Bildungsrepublik“ geht die Bundesregierung „Neue Wege zur Bildungsgerechtigkeit“ (http://www.bundesregierung.de/Webs/Breg/bildungsrepublik/DE/Startseite/startseite.html).

Auf den Seiten des BMBF (http://www.bmbf.de/de/15775.php) finden sich Stellungnahmen, die Bildungsgerechtigkeit folgendermaßen fassen:
=> Aufgabe der Politik sei die Bereitstellung und Schaffung neuer Bildungsangebote. Sie offeriere Bildungschancen und Förderung für Risikogruppen (Schüler mit in Leistungsvergleichstudien ermittelten Kompetenzdefiziten).
=> Die Aufgabe des Bildungsteilnehmers sei dann, diese Chancen zu nutzen, um a) in Selbstbestimmung den je individuellen Lebensweg gehen zu können, und b) den Wohlstand unserer Gesellschaft zu sichern.

  • Der Wettbewerb „Ideen für die Bildungsrepublik“ mit dem „Ziel der „Bildungsidee“ soll mehr Bildung für alle Kinder und Jugendlichen sowie den Einsatz für Bildungsgerechtigkeit vor Ort bewirken www.bmbf.de/de/15989.php.

Zur Problematik der Leistungs- und Verteilungsgerechtigkeit
Vorrangig wird damit Bildungsgerechtigkeit als Verteilungsgerechtigkeit (distributiver Ansatz) verstanden und auf Begabungs- bzw. Leistungsgerechtigkeit reduziert. Unberücksichtigt bleiben dabei Teilhabe- und Anerkennungsgerechtigkeit.[3]

  1. Eine gerechte Verteilung von Bildungsangeboten kann aufgrund gesicherter wissenschaftlicher Forschungsbefunde von systematischer, institutioneller Benachteiligungen – also Bildungsungerechtigkeiten – gegenüber bestimmten Gruppen im deutschen Bildungssystem verneint werden.[4]
  2. Die Risikogruppen werden nicht hinreichend und entsprechend ihrer Ausgangslage durch das Bildungssystem befähigt, um in der Lage zu sein, sich an (weiterführenden) Bildungsangeboten erfolgreich beteiligen zu können.
  3. Die Vielfalt (Heterogenität) der Bildungsteilnehmer (z.B. sozial, ethnisch, leistungs- und begabungsbezogen usw.) wird nicht als Bereicherung anerkannt und wertgeschätzt.
  4. Mit dem Wettbewerb „Ideen für die Bildungsrepublik“ rückt die Politik die Verantwortung pädagogischer und gesellschaftlicher Akteure in den Vordergrund.

Wie kann „Gerechtigkeit“ in Bezug auf Bildung geschaffen werden?
Die Ermöglichung von (zunehmender) Bildungsgerechtigkeit kann m.E. nur auf der Grundlage veränderter Perspektiven auf Bildungsgerechtigkeit und einer Anerkennung und Förderung von Vielfalt erreicht werden.
Die öffentliche Debatte wird seit einiger Zeit um die sozialethische Perspektive auf Bildungsgerechtigkeit bereichert (z.B. Denk-doch-mal.de. Netzwerk Gesellschaftsethik e.V. : A. B. Kunze (2008): Bildungsgerechtigkeit http://www.denk-doch-mal.de/node/207).[5]
Bildung ist aus dieser Sicht zunächst ein eigenständiges Menschenrecht.
Kunze schreibt:

„Das Recht auf Bildung nimmt den Staat in die Pflicht, für eine hinreichende Beteiligung an Bildung zu sorgen und dem Einzelnen ein hinreichendes Maß an Beteiligung durch Bildung zu sichern, es geht also um die Teilhabe an Bildung und die Ausbildung politischer, wirtschaftlicher, sozialer, rechtlicher und kultureller Beitragsfähigkeit durch Bildung. Letzteres Moment ist eine wichtige (wenn auch keineswegs die einzige) Voraussetzung dafür, dass der Einzelne sich als wertgeschätzt und ebenbürtig anerkannt erfahren kann […].“

Vom Ausgangspunkt der Sozialethik könnte ein gesamtgesellschaftlich gemeinsam getragener Konsens über Gerechtigkeit in Bezug auf Bildung und eine Festschreibung der jeweiligen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten für eine gerechtere Bildung und Bildungsbeteiligung auf allen Seiten erreicht werden.
Gleichrangige, aber unterschiedliche Aufgaben und Verantwortlichkeiten
Sozialethisch kommen allen Akteuren bzw. Beteiligten im Bildungssystem gleichrangige Verantwortlichkeiten für die Ermöglichung einer gerechteren Bildungsbeteiligung zu. Deutlich unterschieden werden muss dabei aber zwischen unterschiedlich umfangreichen und inhaltlich different auszugestaltenden Verpflichtungen und Aufgaben. Kunze (2008) nennt diesbezüglich:

  • Staat und (Bildungs)Politik müssen ein positives Menschenrecht auf Bildung im Grundgesetz verankern (Absicherung von Bildung durch juridische Rechte).
  • Oberstes, handlungsleitendes Ziel ist die Subjektbildung und nicht das Ziel gesellschaftlicher Veränderungserfordernisse.
  • Der Staat und Bildungspolitik müssen für eine hinreichende Beteiligung an Bildung sorgen und dem Einzelnen ein hinreichendes Maß an Beteiligung durch Bildung sichern (Teilhabe und Beitragsfähigkeit ermöglichen).
  • Bildungsinstitutionen haben die pädagogische Verantwortung und Verpflichtung, es jedem Einzelnen zu ermöglichen, sein individuelles Lern- und Leistungspotenzial maximal zu entfalten und auszuschöpfen (individuelle Förderung).
  • Schule und Lehrkräfte müssen mit ihrer Didaktik Werteerziehung und Sinnkommunikation realisieren, um Menschenrechtsbildung zu ermöglichen.
  • Der einzelne Bildungsteilnehmer hat „ […] die individuelle Verantwortlichkeit für den eigenen Bildungsprozess und die Motivation, einen möglichst hohen Differenzierungsgrad im eigenen Wollen, Erkennen und Tun zu erstreben […].“
  • Alle beteiligten Akteure müssen miteinander den pädagogischen Bildungsprozess als einen sozialen Aushandlungsprozess gestalten (Beteiligung in Bildung: Sicherung der Freiheit zum Lernen und der Freiheit des Lehrens).

Es ist an der Zeit das bislang vorherrschende und normative Leitbild von Verteilungsgerechtigkeit als unzeitgemäß und ethisch nicht vertretbar zu erkennen und zugunsten eines sozialethischen Leitbildes von Bildungsbeteiligungsgerechtigkeit fallen zu lassen.
Rieke Bernard
[1] Ausführlich dazu s. z.B. Dörpinghaus, Poenitsch & Wigger (2009): Einführung in die Theorie der Bildung. Darmstadt, 3. Auflage.
[2] Aktionsrat Bildung: Bildungsgerechtigkeit. Jahresgutachten 2007. Wiesbaden. / PISA-Studie
[3] vgl. Stojanov, K. (2011): Bildungsgerechtigkeit. Rekonstruktionen eines umkämpften Begriffs. Wiesbaden.

[4] s. z.B.: Diefenbach, H. (2010): Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien im deutschen Bildungssystem. Erklärungen und Befunde. Wiesbaden. 3. Auflage. / Schümer, Gundel (2004): Zur doppelten Benachteiligung von Schülern aus unterprivilegierten Gesellschaftsschichten im deutschen Schulwesen. In: Die Institution Schule und die Lebenswelt der Schüler. Vertiefende Analysen der PISA-2000 Daten zum Kontext von Schülerleistungen. Wiesbaden. S. 73-114
[5] z.B. Heimbach-Steins, M./Kruip, G. & Kunze, A. B. (Hrsg.) (2007): Das Menschenrecht auf Bildung und seine Umsetzung in Deutschland. Diagnosen – Reflexionen – Perspektiven. Bielefeld. / Krappmann, Lob-Hüdepohl, Bohmeyer, Kurzke-Massmeier (Hrsg.) (200): Bildung für junge Flüchtlinge – ein Menschenrecht. Erfahrungen, Grundlagen und Perspektiven: Bielefeld. / Neumann, U. & Karakasoglu, Y. (2011): Anforderungen an die Schule in der Einwanderungsgesellschaft: Integration durch Bildung, Schaffung von Bildungsgerechtigkeit und interkulturelle Öffnung. In: Neumann, U. & Schneider, J. (2011): Schule mit Migrationshintergrund. Münster, New York, München, Berlin. S. 47-59.