Dieser Beitrag wurde verfasst von: Rieke Bernard.

Fiktion homogener Lernklassen

Heterogene Schülerschaft = Heterogene Lerngruppe

In der deutschen Gesellschaft hat sich über Jahrzehnte der Eindruck verfestigt, dass im deutschen Schulsystem Schulklassen in einem hohen Maße homogen zusammengesetzt sind. Er gründet zum einem im historischen Prinzip der Jahrgangsgangsklassen, welches auf der pädagogischen Grundannahme beruhte, dass SchülerInnen gleichen Alters den gleichen Entwicklungsstand aufweisen und deshalb nach Alterskohorten eingeschult werden. Zum anderen ist er auf die frühe jeweils nach Leistung vorgenommene Verteilung auf verschiedene Schulformen der Sekundarstufe II zurückzuführen (Cortina et al. 2005).
Die Realität heterogener Lerngruppen (vgl. Tillmann & Wischer 2006)
Etliche Aspekte verweisen demgegenüber auf eine starke Heterogenität innerhalb von (heutigen) Schulformen und -klassen, wie z.B.

  • Gesamt-, (integrierte) Sekundar- und Stadtteilschulen
  • Zurückstellungen und vorzeitige Einschulungen aufgrund der eingeführten Schuleingangsdiagnose
  • integrative Schulanfangsmodelle
  • jahrgangsübergreifende Gruppen (nicht nur an kleinen Grundschulen)
  • Klassenwiederholungen und Klassenüberspringen
  • demographische Veränderungen
  • soziokulturelle Unterschiede
  • sozioökonomische Unterschiede
  • Genderaspekte
  • Begabungs- bzw. Intelligenzunterschiede
  • Entwicklungsunterschiede
  • unterschiedliche Lerntypen
  • Vorwissen
  • Motivation
  • Metakognition
  • usw.

Das Maß an Heterogenität einer Schülerschaft variiert zudem in Abhängigkeit von der jeweiligen sozialräumlichen Einbettung der Einzelschule. Aspekte wie Erwerbstätigkeit, Bildungsniveau, Urbanisierung und Ausländeranteil sind wichtige Indikatoren.
Beispiel: Die Gertrud-Bäumer-Realschule in Dortmund  –  Eine Brennpunktschule mit stark heterogener Schülerschaft
In einem offenen Interview schildert die Lehrerin Frau Meier (Name geändert) ihre Perspektive und Erfahrungen an dieser Brennpunktschule. Sie arbeitet seit 1985 an dieser Schule und tut dies nach wie vor sehr gern, obwohl Veränderungen im Stadtteil und in der Schule im Laufe der Jahre stattgefunden haben, welche die Arbeit nicht leichter, sondern hoch anspruchsvoll und schwierig machen.
Grundlegend versteht sich die Gertrud-Bäumer-Realschule als eine Schule mit Tradition und Werten, als Ort gemeinsamen Lernens und Lehrens.
Die GBR liegt in der nördlichen Innenstadt, einem multiethnischen Stadtteil und sozialen Brennpunkt, in dem Faktoren wie Prostitution, Gewalt-, Drogen- und jede andere Form von Kriminalität in höchster Konzentration auftreten und auch den Alltag der SchülerInnen mitbestimmen.

So unterschiedlich die gemalten Gesichter sind – so vielfältig ist auch die Schülerschaft!

Die Schülerzahl liegt derzeit bei um die 670 SchülerInnen, die zu 90 Prozent einen Migrationshintergrund haben. Sie selbst, Teile oder ihre ganze Familien stammen überwiegend aus der Türkei und nordafrikanischen Ländern, vor allem Marokko, sowie aus Polen, Albanien und Kroatien. In den letzten Jahren hat sich der Anteil an Kindern aus binationalen (deutsch-türkischen, deutsch-albanischen) Familien erhöht.
Zudem gibt es in dieser an äußeren Kriterien festzumachenden Heterogenität auch eine starke Streuung hinsichtlich kognitiver Merkmale, was insbesondere bei der Sprachkompetenz deutlich wird. Frau Meier spricht hier von der „doppelten Halbsprachigkeit“, die bei Kindern mit nichtdeutscher Herkunftssprache eine sehr verbreitete Sprachauffälligkeit ist (zum Semilingualismus s. z.B. Ucar, A. 2011).
Als Lehrer tätig zu sein bedeutet weit mehr als nur unterrichten
Frau Meier sieht sowohl die multikulturelle Zusammensetzung der Schülerschaft, die extremen Kontextbedingungen des Stadtteils und die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse als Faktoren an, die in höchstem Maße die Arbeit in ihrer Schule prägen. So schätzt sie den Anteil der Erziehungsarbeit im Unterricht auf ca. 50 Prozent ein. Zeit, die statt für den Erwerb von Fach- und Sachkompetenz für die Vermittlung von Sozialkompetenzen und wie sie sagt „Tugenden“ benötigt wird und zunehmend mehr Raum braucht.
Zudem berichtet sie, dass die Schule einen dringenden Bedarf an Unterstützung in Form von Schulsozialarbeit hat und diese auch erhält, da die Lehrkräfte nicht in zunehmendem Maße mit unterschiedlichen Verhaltensauffälligkeiten von SchülerInnen konfrontiert werden. Mindestens zwei SchülerInnen seien pro Klasse davon betroffen, ihre Auffälligkeiten differieren dabei sehr stark und auch die Mitarbeit der Eltern sei sehr verschieden.
Das bedeutet, dass neben der Fachkompetenz der Lehrkräfte u.a. vor allem hohe pädagogische, diagnostische und Beratungskompetenz, starkes Engagement und Kooperation des Kollegiums erforderlich sind, um diese Arbeit zu stemmen. Gerade dieses komplexe Professionsverständnis der Lehrkräfte braucht und ermöglicht es, dass diese Realschule trotz ihrer schwierigen Kontextbedingungen so erfolgreich ist.

Die Vorzüge der GBR
Daneben hebt Frau Meier verschiedene Aspekte hervor, welche die pädagogische und die Unterrichtsarbeit positiv befördern und die Auszeichnung mit dem Gütesiegel Individuelle Förderung im Jahr 2010[i] mit ermöglichten:

  • Die Schule verfügt über doppelte Räumlichkeiten durch eine in den 1990er Jahren vollzogene Zusammenlegung mit einer benachbarten Realschule.
  • Aus Mitteln von Konjunkturpaketen und kommunaler Förderung ist die Schule von Grund auf saniert worden, anfallende Reparaturen werden umgehend ausgeführt.
  • Seit ca. 10 Jahren wird in der Regel bis Klasse 8 im Fach Deutsch nach dem Prinzip der Kopplung mit zwei Lehrkräften unterrichtet. Aufgrund der doppelten Räumlichkeiten können Klassen zudem halbiert und in getrennten Gruppen von ca. 15 SchülerInnen pro Lehrkraft unterrichtet werden.
  • Über Geld statt Stellen arbeiten immer wieder Studierende der Universität für ein halbes Jahr als zweite Lehrkraftbesetzung in den Klassen 5-7, um individuelle Förderung in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch zu ermöglichen.
  • Im Problembereich der Semilingualität greift die Sprachförderung der GBR: Die Lehrer diagnostizieren den Förderbedarf der SchülerInnen und bestimmen 4-5 Kinder pro Klasse, die in Randstunden am Förderunterricht teilnehmen.
  • Die Schule verfügt über ein Konzept zum interreligiösen Dialog im Unterricht und in Form von Veranstaltungen, z.B. einem interreligiösen Gebet am letzten Tag vor den Weihnachtsferien.
  • Die Verbesserung der individuellen Förderung steht zudem auch in Bezug auf innere Differenzierung auf der Agenda. Über eine systematische und systemische Vernetzung im Rahmen von Binnendifferenzierung sollen individuelle Stärken gestärkt und mit der Heterogenität der SchülerInnen innerhalb einer Klasse angemessener umgangen werden können.

Insgesamt konkretisiert die GBR somit in drei Bereichen ihren Umgang mit der Vielfalt der SchülerInnen: 1. innerhalb von Klassen in Form innerer Differenzierung, 2. äußere Differenzierung durch Förderkursangebote und 3. Formen der Lernbegleitung und Beratung durch Elternsprechtage und Schülergespräche.

Auf die Lehrereinstellung und -haltung kommt es an
Trotz der Veränderungen der Schülerschaft in den letzten Jahren, welche die Arbeit an dieser Schule nicht leichter, sondern höchst anspruchsvoll und herausfordernd gemacht haben, sagt Frau X., dass sie sich in hohem Maße mit ihrer Schule und ihren Kindern identifiziere. Wichtig sei die richtige Einstellung und Haltung als Lehrkraft an einer solchen Schule: Man müsse sich zum großen Teil als ErzieherIn verstehen, die Sozialkompetenzen vermittle, um die SchülerInnen dazu zu befähigen, im Leben zurecht zu kommen. Sie spricht dabei von „Tugenden“ wie Pünktlichkeit, Ordnung der Materialien, Kommunikation statt Gewalt usw.
Die Persönlichkeit der Lehrkraft ist aus der Sicht von Frau Meier ein wichtiger Faktor dafür, welches Klima innerhalb einer Klasse herrscht und wie hoch die Akzeptanz der Lehrkraft bei den SchülerInnen ist. Ein routinierter, souveräner und wertschätzender Umgang nicht nur, aber vor allem mit kultureller Vielfalt spiele an dieser Schule eine entscheidende Rolle. Aufgrund ihrer langjährigen Erfahrungen kann sie sagen, dass sich diese Haltung und Einstellung immer wieder bewähre und die SchülerInnen dies auf ihre Art und Weise widerspiegelten.

Die Schulleitung als wichtiger Faktor
Aus der Sicht von Frau Meier kommt der Schulleitung eine wichtige Funktion bei der Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung dieses Bereiches zu: Eine Schule profitiere stark von den Fähigkeiten der Schulleitung und ihre Qualität sei davon abhängig. Wichtig seien der wertschätzende und unterstützende Umgang mit dem Personal, ein professionelles Personalmanagement und ein Angebot von passgenauen Fort- bzw. Weiterbildungen.

Kooperation des Kollegiums als Motor für individuelle Förderung
Frau Meier betont zudem, wie wichtig die kollegiale Kooperation sei. So schildert sie, dass es für sie persönlich sehr wichtig sei, mit anderen KollegInnen zusammen zu arbeiten und sich gegenseitig zu unterstützen, um kontinuierlicher und systematischer innere Differenzierung in den Klassen umsetzen zu können. Dabei weist sie darauf hin, dass man durchaus aber gegenseitig voneinander profitieren könne, auch wenn jeder seinem eigenen „Stil“ tendenziell treu bliebe.

Gelingensprozesse sind einzelschulspezifisch
Die GBR und ihre Lehrkräfte haben ihre individuell passende und flexible Antwort auf die täglichen Herausforderungen gefunden. Sie zeigt beispielhaft, basierend auf den Schilderungen einer langjährigen Lehrkraft, wie individuelle Förderung einer sehr vielfältigen Schülerschaft im Schulalltag trotz schwieriger Rahmenbedingungen gelingen kann.
Dieses Beispiel ist zwar nicht übertragbar, kann aber als Ermunterung dienen, einen Blick auf die eigene Schule und deren Entwicklungsmöglichkeiten für individuelle Förderung zu werfen und ggf. ein erster Anstoß sein, einen neuen Weg einzuschlagen.

Rieke Bernard


Quellen:
Cortina, K.S./Baumert, J./Leschinsky, A./Mayer, K.U./Trommer, L. (Hg.) (2005):Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.
Gertrud-Bäumer-Realschule Dortmund: online: http://gbr-dortmund.de/
Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (2011): NRW Portal zur individuellen Förderung. Karte der Gütesiegelschulen: http://www.chancen-nrw.de/cms/front_content.php?idcat=218&id=162814 [abgerufen am 26.11.2011].
Tillmann, K.-J. und Wischer, B. (2006): Heterogenität in der Schule. Forschungsstand und Konsequenzen. In: Pädagogik 3/2006
Ucar, A. (2011): Sprachliche Entwicklung von deutschen und nichtdeutschen Schulanfängern : online: http://www.lehrer-info.net/kompetenz-portal.php/cat/14/aid/125/title/Sprachliche_Entwicklung_von_deutschen_und_nichtdeutschen_Schulanfaengern [abgerufen am 26.11.2011].