Dieser Beitrag wurde verfasst von: Katharina Korves.

Dieses ist der erste Beitrag der Blog-Reihe „Was Schule bewegt – konkret gefragt“. Absicht ist,  die konkrete Erfahrung und Expertise unterschiedlicher Gesprächspartner zu einem bedeutsamen Bildungs- bzw. Schulthema zu reflektieren. In der ersten Ausgabe steht das Interview mit der Lehrerin Katrin Rehmer (Name geändert) im Fokus. Katrin ist seit Februar mit halber Stundenzahl als eine von ca. 104 Koordinatorinnen und Koordinatoren für Inklusion in NRW abgeordnet. Ihre Tätigkeiten zu Inklusionsfragen im Schulamt sind vielfältig und reichen von Beratung über Moderation bis hin zu Schulung unterschiedlicher Interessenten im Schulumfeld. Eine interessante Gesprächspartnerin, die authentisch und konkret über aktuelle Schwierigkeiten, aber auch über Motivationen und langfristige Chancen des aktuellen Themas Inklusive Schule berichten kann. Lesen Sie ein kritisch konstruktives Gespräch in der Zusammenfassung:
„Sag doch mal, was bedeutet eigentlich genau Inklusion?
So meine Eingangsfrage an Katrin, die ich ihr zu stellen traue, obwohl ich recherchiert habe…

Die Kunst der Inklusion - einbinden statt ausgrenzen
Die Kunst der Inklusion – einbinden statt ausgrenzen

Bei meiner Recherche finde ich heraus, dass das Schlüsselwort Inklusion bereits im Jahr 2009 – seit die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen auch für Deutschland verbindlich ist – zu einem gesellschaftlichen und damit auch bildungspolitischen Top-Thema aufgestiegen ist. Seit dem haben alle Bundesländer die besondere Aufgabe, ihre Schulgesetze entsprechend der neuen gesetzlichen Grundlage weiter zu entwickeln und zu konkretisieren. Während die UN-Konvention ein „inclusive education system“ forderte und fordert, ist in Deutschland zu mindest bis Dato (aber vielerorts auch heute noch) der Begriff integrativer Unterricht im Zusammenhang geläufig gewesen. Allerdings: ein inklusives Bildungssystem ist nicht gleichzusetzen mit einem integrativen System:

  • Die integrative Pädagogik strebt die Eingliederung bzw. Anpassung der Schülerinnen und Schüler mit „Behinderungen“ oder besonderem Förderbedarf  an.
  • Eine inklusive Pädagogik hingegen sortiert erst gar nicht aus, die Verschiedenheit bleibt erhalten und es entsteht Vielfalt.

Doch zurück zum Interview und zur Eingangsfrage…
Katrin erklärt es noch bildlicher und für mich eingängiger:
„Inklusion ist aufzuhören, eine Gesellschaft, die ohnehin bunt ist, einheitlich zu machen.“ Diese allgemeine Definition bezieht Katrin weiter auf den Kontext Schule: „Inklusion ist wirklich individualisierte Schule.“
Aus diesen Aussagen wird deutlich: Der grundsätzliche Anspruch an Schule, den Unterricht individualisiert an die Heterogenität der Schüler anzupassen, geht konform mit der Forderung nach Inklusion:
Inklusiver Unterricht ist, wenn man so will,  individualisierter Unterricht in „Reinform“.
Das bedeutet für Katrin gleichzeitig, dass ausnahmslos „alle Schüler an einer Schule gemäß den individuellen Fähigkeiten und Kompetenzen lernen können und keiner z.B. zur Förderschule gehen muss“. Außerdem stellt sie aus ihrer Erfahrung heraus fest, dass Grundschulen meist inklusiv arbeiten, man denke dabei zum Beispiel an die offenen Eingangsphasen. Diesen Eindruck kann auch ich teilen (ich verweise auf den Blog-Beitrag über den Besuch in der Grundschule Amshausen aus Januar 2012). In der offenen Eingangsphase arbeiten Kinder unterschiedlicher Jahrgänge in einem Raum zusammen und können trotz aller individuellen Unterschiedlichkeit miteinander und voneinander lernen. Auch das ist Inklusion, wird mir nun bewusst.
Ich provoziere etwas mit der Frage:
„Also scheint doch „alles in Butter“ zu sein, wie man so schön sagt, oder?“

Wo Inklusion gelingt
Wo Inklusion gelingt

„Nein“, antwortet Katrin, „Inklusion ist trotz erfolgreicher Umsetzungen immer noch ein schwieriges Thema an vielen Schulen. Das liegt meist daran, dass viele Kolleginnen und Kollegen einfach noch zu wenig hierüber wissen oder Angst haben, dass mit der Forderung nach Inklusion auch eine weitere Arbeitsbelastung hinzukommt, für die man sich nicht ausreichend ausgebildet fühlt. Viele Lehrerinnen und Lehrer sind schlicht und ergreifend nicht ausreichend hierauf vorbereitet. Das verunsichert.“
Katrin hat aus ihrer Lehrerinnenperspektive und aus ihrer Perspektive als Koordinatorin für Inklusion noch weitere Argumente parat, die momentan die Umsetzung eines Inklusiven Systems erschweren:

  1. Aktuell fehlt noch die Gesetzesgrundlage in NRW zur Umsetzung des inklusiven Systems. Von bildungspolitischer Seite sind bis Dato (das Gespräch wurde am 13. April geführt) noch keine verbindlichen Eckpunkte vorgelegt worden.
  2. Ein weiteres Grundproblem: die zu geringen Ressourcen. Es fehlen insbesondere Finanzmittel, um den inklusiven Ansatz stringent zu implementieren.
  3. Des Weiteren fehlen Sonderpädagogen, die den Sekundarschulen auf dem Weg zum inklusiven System als Ansprechpartner und Unterstützer zur Verfügung stehen sollen.

All das führe derzeit auch dazu, dass sozusagen als Übergang erst mal das integrative Konzept ausgebaut werde.  Der inklusive Gedanke werde aktuell vielerorts über die Einrichtung integrativer Klassen aufgenommen, sozusagen als erste Stufe in Richtung Inklusion. Das sei zwar ein Paradoxon, aber momentan verbreitete Praxis.
Ich fasse zusammen: Das Ziel „Inklusive Schule“ hat aktuell noch einige beachtliche Barrieren zu überbrücken…
Mich interessiert also ganz pragmatisch:
„Was meinst du ist für die Lehrer das Erste und Wichtigste, dass sie tun können, um sich auf den „inklusiven Weg“ zu machen?“
Katrin hat diesbezüglich eine klare Vorstellung: „Ganz konkret: es geht so oder so nur über offene,  schüleraktivierende Unterrichtsformen. Von der Vorstellung des Lernens im Gleichschritt können wir uns alle, egal welche Schulform, verabschieden. Wir müssen uns bewusst machen, dass es einfach keine homogenen Klassen mehr gibt. Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass wir der Thomas Gottschalk sind, dem alle gleich gerne zuhören. Das gilt für besonders Begabte ebenso, wie für schwache oder behinderte Kinder. Wer das begreift, hat viel gewonnen. Letztlich ist Inklusion eine Haltungsfrage. Wer inklusiv denkt und sich im wahrsten Sinne des Wortes  hierfür „öffnet“, wird die positiven Effekte für die Leistungen der Kinder und damit auch für das persönliche Gefühl, es gut zu machen, sicherlich erfahren können.“
Ich werfe ein: „Na ja, wenn das mal so einfach wäre…“
„Na klar“, sagt Katrin und ich höre deutlich, dass sie aus persönlicher Erfahrung und Überzeugung spricht „wenn Schulen sich auf den Weg zur Inklusion machen, dann geht das eigentlich nur mit Unterstützung. Von innen und außen. Zunächst einmal ist es hilfreich, wenn die Kollegen einer Schule sich gegenseitig hierbei unter die Arme greifen. Zusätzlich können sich Kollegien von außen beraten oder fortgebildet werden. Zum Beispiel bei uns Koordinatoren für Inklusionsfragen in den Schulämtern oder bei der vom Bund geförderten Fortbildungsinitiative Inklusion. Es ist viel machbar… aber es bedarf auch der inneren ‘inklusiven Haltung´ und Motivation.“ Das Stichwort Motivation ist auch für mich ganz entscheidend, und ich frage Katrin, was sie von Wettbewerben, wie etwa dem Jakob Muth-Preis für inklusive Schule hält. Mich interessiert, ob sie glaubt, dass derartige Auszeichnungen ausreichend motivieren und Schulen zu mehr Engagement bewegen können.
Katrin muss einen Moment überlegen:
„Grundsätzlich finde ich Preise, wie zum Beispiel den Jakob Muth-Preis oder auch das Gütesiegel Individuelle Förderung als Anreiz sehr gut. Aber ich finde es kann nicht sein, dass Schulen diese Siegel ewig behalten und sich nicht mehr hierfür engagieren müssen. Ich fände es besser, wenn Schulen sich zum Beispiel nach fünf Jahren erneut für den Erhalt des Siegels bewerben müssen. Außerdem wäre es gut, wenn man sich auch mit einer tollen Idee bewerben könnte; das motiviert ein Umdenken im Sinne der Schüler und Lehrer.“ Ich greife ihre Worte auf und frage abschließend:
„Wie würdest du also Schulen motivieren, sich auf den Weg der Inklusion zu begeben?“
„Nun, das ist im Grunde gar nicht so schwer. Es geht ja darum, dass alle Kinder, mit welchen individuellen Besonderheiten auch immer, an einer Schule gemeinsam und gleich gut lernen können. Hierbei wäre der erste Schritt, gemeinsam im Team ein Leitbild zu entwickeln, welches die Individualität der Schülerinnen und Schüler in den Mittelpunkt aller pädagogischen Bemühungen stellt. Idealer Weise müssten von der Leitung für diese Teamarbeit Freiräume geschaffen werden, damit die Arbeit am inklusiven Konzept auch konstruktiv gestaltet werden kann und damit vor allen Dingen auch langfristige Motivation hierfür besteht. Wichtig ist, in die Stärken des Teams zu vertrauen und hierauf zu bauen. So entsteht ein Konzept, dass auch von allen akzeptiert und getragen wird. Aus Erfahrung finden sich bei solchen konstruktiven Teamsitzungen viele Potentiale und Möglichkeiten für praktische Umsetzungen. Es geht also zuallererst darum, das pädagogische Selbstverständnis als Ausgangspunkt zu formulieren und dann Ideen für die Praxis und die Schulkultur zu sammeln. Und letztlich geht´s auch noch mal um das inklusive Bewusstsein (…):
Wenn du `ne bunte Gesellschaft versuchst aufzuräumen, geht die Genialität verloren.“
Ich finde, dieser Satz würde sich als Motto in allen Schulen gut machen!
Katharina Korves

Empfehlenswerte Links:
http://www.schulministerium.nrw.de/BP/Inklusion_Gemeinsames_Lernen/
www.jakobmuthpreis.de
http://vimeo.com/37600240