Dieser Beitrag wurde verfasst von: Katharina Korves.

Best Practice-Leseförderung an der Brüder Grimm Schule Sennestadt
Lesen ist aufgrund der hoch literalen Gesellschaft, in der Kinder und Jugendliche aufwachsen, eine der bedeutsamsten Kompetenzen, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können (Drechsel und Artelt 2008). Die Lesekompetenz zu fördern, ist daher ein besonderes Anliegen. Die Brüder Grimm Grundschule in Bielefeld Sennestadt macht dies auf besondere Weise. Im Gespräch mit der Lehrerin Anja Marxen konnte ich allerhand über das Leseförderkonzept „Lesereise“ erfahren. Und ich wurde eingeladen, auf eine Reise ins Leseland…

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Leseförderung an der Brüder Grimm Grundschule

Auf eindrucksvolle Weise findet die Förderung der Lesemotivation und Lesekompetenz an der Brüder Grimm Grundschule in Bielefeld statt. „Leseförderung ist uns ganz  wichtig“ betont Anja Marxen, Lehrerin und Leiterin des Leseförderprojekts Lesereise. „Viele Eltern lesen heute einfach nicht mehr vor und viele Kinder kommen immer weniger mit Büchern in Berührung. Der frühe Kontakt mit Geschichten und das Vorlesen sind unglaublich wichtig für die Kinder. Erstens, um ihnen Lust auf Bücher und Lesen zu machen. Aber auch, damit sie das Zuhören lernen.“
Kinder brauchen Lesevorbilder und freudvollen Kontakt zu Büchern, damit sie selbst zu (kompetenten) Lesern werden.
Deshalb setzt man an der Brüder Grimm Schule bei mehreren Punkten an:

  • Regelmäßig kommen Vorleserinnen zum Geschichtenlesen in die Schule.
  • Es gibt Lesefördergruppen, in denen Kinder mit erhöhtem Förderbedarf in einem kleinen, geschützten Rahmen besonders unterstützt und zum Lesen motiviert werden.
  • Das Projekt Lesereise ist ein regelmäßig stattfindendes „Leseevent“, bei welchem alle Drittklässler selbst zu Vorlesern für Kindergartenkinder werden.

Frau Marxen sieht in der Förderung der Lesemotivation das dringlichste Anliegen, um die Kinder auf die literale Welt vorzubereiten. Kinder sollten gerne Lesen, dann würden sie auch zu kompetenten Lesern werden können. Das Leseförderprojekt „Lesereise“,  welches nun knapp 6 Jahre an der Schule läuft, setzt genau hier an. Gemeinsam mit den Kindergärten des Stadtteils (AWO, Matthias Claudius und Dalbke „Mitten drin“) macht sich die Schule ganz wörtlich genommen auf den Weg, um den Drittklässlern und den zukünftigen Schulkindern ein ganz besonderes Leseabenteuer zu bescheren. Als Buddyprojekt angelegt kooperieren die Schule und die Kindergärten sehr eng miteinander. „Drei Mal im Jahr finden Vorlesetreffen statt, bei denen unsere Drittklässler den Kindergartenkindern, die im folgenden Schuljahr eingeschult werden, etwas vorlesen. Die Treffen sind mal in der Schule, mal im Kindergarten und es ist jedes Mal ein besonderes Ereignis, von dem die Kinder profitieren, aber auch wir Lehrerinnen und die Erzieherinnen.“
„Welche Bücher werden denn ausgewählt und wie wird ausgewählt?“, will ich wissen. Frau Marxen berichtet: „Die Bücherauswahl nehme ich vor. Es hat sich bewährt, ganz gezielt geeignete Bücher auszusuchen. Hierbei spielen verschiedene Aspekte eine Rolle, die die Kinder noch nicht so reflektieren können: zum Beispiel das Bild-Text-Verhältnis, die Lesekompetenz der Schüler und ob der Inhalt für beide Altersgruppen passend ist. Außerdem ist es eher ein gemeinsames Projekt, wenn alle Kinder dasselbe Buch vorbereiten und vorlesen. Jedes Kind erhält aus dem Buch 2-3 Seiten, die es gezielt vorbereitet.“ Das Vorlesen vorzubereiten, sei der zentrale Aspekt, bei welchem die Kinder nicht nur ungeheuer viel Motivation und Engagement zeigen würden, sondern auch wie nebenbei ihre Lesefertigkeiten trainieren könnten. „Ich sage den Kindern immer, ihr müsst das gute Vorlesen üben, denn sonst hören die Kindergartenkinder nicht zu. Ich gebe ihnen den Tipp, möglichst oft ihre 2-3 Buchseiten zu üben und sich die Eltern, Oma, Tante oder alle Teddybären und Puppen als Publikum zu nehmen. Die Kinder machen das in der Regel sehr gern und aus eigenem Antrieb.“
„Die Kinder trainieren zwar das Lesen für diesen bestimmten Zweck, aber sie verbessern ihre Lesekompetenzen dabei nachhaltig.“
Dies sei für die Kolleginnen der Schule, für die Erzieherinnen der Kindergärten und für die Eltern ein deutliches und positives Ergebnis der Lesereise. Frau Marxen berichtet von einem Schüler mit diagnostizierter Leserechtschreibschwäche (LRS), welchem zunächst keiner zutraute, dass er an der Lesereise teilnehmen könnte. „Für dieses Kind war das Vorlesen in der Klasse immer furchtbar. Trotzdem wollte er an der Lesereise teilnehmen. Das war sein Durchbruch. Die Mutter berichtete wie intensiv er übte, um den Kindergartenkindern vorlesen zu können. Am Ende hat er es in seinem Vermögen bestens geschafft. Auch die Mitschüler waren total begeistert. Das Geheimnis war, dass er mal raus kam aus diesem „ich kann´s nicht“. Lesen fand für ihn auf mal in einem völlig anderen und nicht-schulischen Zusammenhang statt und wurde zu einem positiven Erlebnis.“ 
Der Schlüssel der Lesereise ist das „Lesen als positives Erlebnis“, sowohl für die kleinen als auch für die großen Kinder.
Dieses Leseerlebnis will gut organisiert und vorbereitet sein. Frau Marxen berichtet von dem Ablauf, der gemeinsam mit den Schulkindern und in Absprache mit Erzieherinnen und beteiligten Kolleginnen vorbereitet wird. Das Motto „Komm ich nehm´ dich an die Hand und flieg mit dir ins Leseland“ ist dabei leitend. „Die Schulkinder gestalten vorab Ankündigungsplakate für die Kindergartenkinder, basteln Umhängeschildchen für die Gruppenaufteilung (Lesereise_Tierbilder) und so weiter. Am Lesereisetag starten wir zunächst im Sitzkreis mit einem gemeinsamen Begrüßungslied. Wir haben das bekannte Lied „Herschau´n Hallo“ (Lesereise_Ablauf) gewählt und dichten es insofern etwas um, dass die Kinder den Ablauf des Lesevormittags beim Singen erfahren. Danach lesen unsere Schüler den jüngeren Kindern die Geschichte vor. Jedes Schulkind kommt dabei mit seinen 2-3 Seiten dran. Wir stützen den Vortrag mit laminierten Buchseiten. Nach dieser Vorlesephase bilden wir kleine Gruppen mit jeweils drei Schulkindern und drei Kindergartenkindern, hierfür haben die Schulkinder die Umhängeschildchen gebastelt. Die Schulkinder malen und basteln nun gemeinsam mit den Kleinen passend zur gehörten Geschichte. Mal ist es ein Bild, das entsteht, mal ein kleines Büchlein. Wenn die Lesereise bei uns in der Schule stattfindet, dann führen die Drittklässler die zukünftigen Schulkinder im Anschluss auch noch herum und zeigen ihnen die Schule. Das ist gleichfalls eine ganz besondere Form der Vorbereitung auf die Schule. Hemmungen werden abgebaut. Die Kleinen kennen sich später dann schon aus. Und unsere Schulkinder sind unglaublich stolz.“
Den Kindern wird viel zugetraut. Und das schafft Selbstvertrauen.
Abschließend möchte ich von Frau Marxen gern noch wissen, wie aufwendig das Ganze ist und was sie anderen Schulen empfehlen kann. „Es ist eigentlich ganz einfach. Einfach machen, das ist das Geheimnis. Man braucht eigentlich nicht viel: Kindergärten, die bereit sind. Kollegen, die mitziehen. Die Kinder sind schnell überzeugt. Dann wird’s ein Selbstläufer! Und für alle in jeder Hinsicht ein Gewinn!“

Katharina Korves
Die Brüder Grimm Schule Sennestadt stellt folgende Materialien der Lesereise freundlicher Weise zur Verfügung:

Literatur:
Drechsel, Barbara; Artelt, Cordula: Lesekompetenz im Ländervergleich. Münster 2008 (gedruckt; Sammelwerksbeitrag)