Im Schulausschuss des NRW-Landtags wurde einer Debatte neues Leben eingehaucht die vor der letzten Bundestagswahl im Herbst 2013 schon einmal hochkochte, aber leider ins Nichts führte: Kinder und Jugendliche brauchen einen Anspruch auf einen Ganztagsplatz. Damals sprachen sich führende Köpfe von SPD und CDU für einen Rechtsanspruch aus, im Koalitionsvertrag wurde dazu aber nichts vereinbart. Es blieb beim dem schönen, aber folgenlosen Satz in der Präambel: „Ausbau und Qualität von Kitas und Ganztagsschulen verbessern den Bildungserfolg der Kinder.“ Am Rande vermerkt: die Bundes-FDP sprach sich damals gegen einen Rechtsanspruch und eine „einheitliche Ganztagskäseglocke“ (FDP-Bildungspolitiker Meinhardt), die NRW-FDP ist jetzt dafür und hat einen entsprechenden Antrag ins Parlament eingebracht. Politik lernt also dazu und der Kreis der Unterstützer für einen Rechtsanspruch wird parteiübergreifend größer!

Bedarf übersteigt Angebot

Elternbefragungen können helfen, den Bedarf an Ganztagsplätzen abzuschätzen. Nach aktuellen deutschlandweit repräsentativen Elternbefragungen liegt der Bedarf zwischen 65 und 70 Prozent. Im Schuljahr 2013/14 betrug der Anteil der Schüler im Ganztag 35,8 Prozent.  Das ist zwar eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr um 2,7 Prozent. Das bleibt aber unter einem Anstieg von 4,3 Prozent: Der wäre nach Berechnungen von Prof. Klemm jährlich nötig, um eine Bedarfsdeckung in Höhe von 70 Prozent bis 2020 zu erzielen. Im Schuljahr 2014/15 stieg der Anteil nach Angaben der Kultusministerkonferenz zwar weiter auf 37,7 Prozent, was eine Steigerung von 1,9 Prozent bedeutet. Dieser Wert bleibt noch weiter hinter der jährlich erforderlichen Steigerung von 4,3 Prozent zurück. Der Ausbau ist also weiterhin zu langsam.
Ein Recht auf einen Ganztagsschulplatz kann – wie im Kita-Bereich – die Ausbaudynamik beschleunigen. Allerdings muss dieses Recht von einer realistischen Finanzierungsperspektive für Länder und Kommunen für qualitätsvolle Ganztagsschulen flankiert werden.

Geschwindigkeit UND Qualität

Bisher glich der Ausbau der Ganztagsschulen nach Einschätzung von Bildungsforscher Prof. Thomas Rauschenbach einer „Reise in die Zukunft ohne klares Ziel“. Denn er hat bislang höchst unterschiedliche Organisationsformen und Typen hervorgebracht: Offene, gebundene oder teilgebundene Ganztagsschulen, also mit freiwilliger bis verpflichtender Teilnahme, variieren erheblich in Zeitstruktur, Kooperationen, Angeboten und individueller Förderung. Auch die Rahmenbedingungen für Ganztagsschulen divergieren zwischen den Bundesländern stark, sowohl was den Umfang der zusätzlichen Lernzeit als auch die personelle Ausstattung mit Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften angeht. Neben der Herausforderung des beschleunigten quantitativen Ausbaus steht also die Herausforderung, für Qualität bestehender und neuer Ganztagsschulen zu sorgen. Gebraucht werden nicht „irgendwelche“, sondern „gute“ Ganztagsschulen, die unter adäquaten Rahmenbedingungen operieren.
Eine starke Gemeinschaft: die Sonnenblumenklasse

Gemeinsame Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen

Trotz Fortschritten auf dem Weg zu einem leistungsstarken und chancengerechten Schulsystem seit dem PISA-Schock 2001 steht Deutschland derzeit vor enormen Herausforderungen, insbesondere dem qualitativ hochwertigen Ausbau der Ganztagsschulen und der Verankerung von individueller Förderung und Inklusion in allen Schulen. Der Schulerfolg ist in Deutschland weiterhin stark von der sozialen Herkunft abhängig. Der massenhafte Zuzug von Flüchtlingen im letzten Jahr mit schätzungsweise 325.000 schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen verstärkt diese Herausforderung und macht z.B. den zuvor schon existierenden Mangel an Ganztagsschulplätzen umso brisanter. Die Bewältigung dieser Aufgaben benötigt ein konsequentes und koordiniertes Handeln von Bund, Ländern und Kommunen.
Was die Kosten angeht, so würden nach Berechnungen von Prof. Klemm zusätzliche Personalkosten von rund 1,7 Milliarden Euro jährlich anfallen, wenn 70 Prozent aller Schülerinnen und Schüler einen Ganztagsplatz in Anspruch nehmen könnten. Dazu kämen Investitionen für Schulbaumaßnahmen für die Kommunen ebenfalls in Milliardenhöhe. Dabei sind zusätzliche Kosten durch die höheren Schülerzahlen infolge des Flüchtlingszuzugs noch nicht eingerechnet. Viele Kommunen als Schulträger in ihrer Zuständigkeit für Baumaßnahmen und die meisten Länder in ihrer Zuständigkeit für Lehrkräfte sind angesichts bereits heute hoch verschuldeter Haushalte und der künftig greifenden Schuldenbremse mit solchen Summen überfordert. Die Finanzierung des Ganztagsschulausbaus ist nur sicherzustellen, wenn der Bund sich stärker engagiert. Dazu sollte entweder das Kooperationsverbot vollständig fallen oder alternativ die Umsatzsteuer nach Grundgesetz-Artikel 106 umverteilt werden (vgl. das Positionspapier zum Bildungsföderalismus der Bertelsmann Stiftung, Deutsche Telekom Stiftung, Robert Bosch Stiftung von 2014). In den Stellungnahmen zur Anhörung im NRW-Schulausschuss fielen klare Worte (vgl. https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/GB_I/I.1/Ausschuesse/A15_-_Ausschuss_fuer_Schule_und_Weiterbildung/Anhoerungen.jsp). Die Finanzierung der schulischen Bildung in den Ländern befinde sich „in einem prekären Zustand“, so der Verfassungsrechtler Prof. Klaus Gärditz von der Universität Bonn. Notwendig sei eine grundsätzliche Reform der Finanzverfassung, namentlich der Steuerertragsverteilung (Art. 106 GG) und des föderalen Finanzausgleichs (Art. 107 GG). Das Recht auf einen Ganztagsschulplatz würde diese Reform beschleunigen.
So bleibt zu hoffen, dass die Debatte vor der Bundestagswahl im nächsten Jahr wieder Fahrt aufnimmt und 2017 diesmal nicht im Nichts endet.