Dieser Beitrag wurde verfasst von: Malte Strang.

Ein Gespräch mit dem Neurobiologen Roland Brandt über das Lernen im Leben und das Lernen in der Schule

Im September hatte ich das Glück, dem Hirnforscher Roland Brandt von der Universität Osnabrück einige Fragen zum Thema Schule und Lernen stellen zu dürfen. Im Folgenden ein paar Auszüge aus dem Gespräch.

Neurobiologe Prof. Roland Brandt
Neurobiologe Prof. Roland Brandt

Malte Strang:  Lieber Prof. Brandt, gehen wir mal von einer ganz normalen Unterrichtsstunde aus. Ich erarbeite in Englisch das Simple Past. Da werden Beispielsätze vorgestellt, es folgen Regeln, die daraus resultieren. Dann wird vielleicht ein Leitsatz formuliert, an dem ich mich orientieren kann. Danach werden Übungen durchgeführt und so weiter. Können Sie, ohne genau zu wissen wer unter welchen Umständen da sitzt, einschätzen, was da im Gehirn eines Schülers passiert? Wieviel formelles Lernen findet statt, wieviel informelles? Ist es eher emotional oder eher rational? Ist es das, was wir uns eigentlich wünschen oder vorstellen, wenn wir an „Bildung“ denken?
Roland Brandt: Ich möchte auf Ihre Frage sehr allgemein antworten. Sie haben ständig Hirnaktivitäten, selbst nachts, wenn Sie träumen ausgesprochen stark in bestimmten Hirnregionen. Und es findet ein permanenter Umbau statt. Sie haben hundert Milliarden Nervenzellen. Jede einzelne Nervenzelle in Ihrem Gehirn hat etwa tausend synaptische Verbindungen. Das heißt wir sprechen dort von hundert Billionen Orten, an denen neurobiologisch gesehen Lernen stattfinden kann. Und dort wird ständig umgebaut. Das macht letztlich auch Ihre Persönlichkeit aus. So wie Sie Ihr Gehirn verschaltet haben, das sind Sie. Und diese Verschaltung, die ändert sich abhängig von den Einflüssen, denen Sie ausgesetzt werden, in Kombination mit einer genetischen Basis. Das Produkt von beidem ist dann die Veränderung, mit der Sie zum Beispiel aus einer Unterrichtseinheit hervorgehen. Das aber als formales Lernen zu interpretieren, damit tue ich mich schwer. Dazu würde ich an die Empirische Pädagogik verweisen, die dann überprüfen kann: Was ist tatsächlich noch vorhanden? Was wurde gelernt in dem gewünschten Sinne?
MS: Aber bei normalen Klassenarbeiten handelt es sich ja zu achtzig, neunzig Prozent um Wiedergabe von Informationen. Bestimmtes Vokabular muss wiedergegeben werden, die Schüler müssen die richtige Verbform in die entsprechende Lücke eintragen. Das wäre dann auch schon Lernen, aber vielleicht nicht Bedeutungslernen. Hingegen, eine Regel zu verstehen wäre ja Bedeutungslernen. Dann kann ich in verschiedenen Kontexten diese Regel anwenden. Ich habe aber, zumindest im Englischen, oft das Gefühl, dass viele Schüler dieses learning for the test wirklich perfektioniert haben. Die können die richtigen Formen einsetzen oder wissen, was da kommt. Aber sobald eine kleine Änderung vorliegt oder ein Sonderfall, also etwas das man mit dem Schema, das sie gebildet haben, nicht bearbeiten kann, dann versagen sie. Sie sind also praktisch in der Lage, das Richtige einzusetzen. Aber Verstehen im Sinne von: Ich verstehe die Sprache, ich kann sie flexibel anwenden und so weiter, dazu gehört ja eine gewisse Flexibilität.
RB: Es stellt sich eben die Frage, was man unter Verstehen versteht. Mein Vorschlag wäre, Verstehen als die Reduktion unabhängiger Variablen zu verstehen.
MS: Können Sie dafür ein Beispiel geben?
RB: Nehmen wir an, ich möchte das Verhalten von Zellen in einem Organismus untersuchen. Wenn ich die Position von jeder einzelnen Zelle beschreibe, dann habe ich sehr viele unabhängige Variablen, mit denen ich bestimmte Aspekte von jeder einzelnen Zelle in Raum und Zeit analysiere. Verstehen in diesem Zusammenhang würde bedeuten, zu erkennen, dass bestimmte Punkte, bestimmte Zellen miteinander zusammenhängen, dass z.B. eine Zelle nicht alleine vorliegt, sondern dass sie sich in einem Gewebe befindet. Dann brauche ich die Position der Zellen nicht mehr zu beschreiben, indem ich zu jedem Zeitpunkt jede Zelle an jedem Ort beschreibe, sondern ich kann sagen, „Wir haben hier eine Population von Zellen und hier eine andere, und die interagieren miteinander“. Ich bin dann in der Lage Interaktionen zu beschreiben. Dabei handelt es sich um eine höhere Ebene, die Systemcharakter hat. Wenn man Lernen so begreift, geht es also nicht bloß darum, einen Vorgang oder eine Sache deskriptiv zu schildern oder nachbilden zu können. Zentral ist dann, dass man Relationen verstanden hat. Und wenn man die Zusammenhänge verstanden hat, kann man damit arbeiten. Wir bewegen uns jetzt auf einer anderen Ebene, wo ich bewusst als Neurobiologe nicht mehr viel dazu sagen kann. Ich kann Ihnen lediglich als Universitätslehrer etwas dazu sagen, übrigens auch als ehemaliger Armeeangehöriger. Denn das Standardlernen bei der Armee ist Vormachen, nachmachen. Das ist auch das Standardlernen bei einem Kind. Vormachen, nachmachen.
MS: Modelllernen.
RB: Ganz genau. Und ich bin nach wie vor der Meinung, dass das durchaus eine effektive Art des Lernens ist. Dieses einfache Lernen halte ich auch für wichtig, wenn man sich mit naturwissenschaftlichen Sachverhalten beschäftigt. Dabei ist der erste Schritt das Lernen eines Vokabulars nach dem Muster des Vormachens und Nachmachens. Es geht mir in diesem ersten Schritt gar nicht so sehr um das Transferwissen, das die Studierenden haben und wenn man dann konkret nachfragt, ist keine begriffliche Grundlage da. Sondern für mich geht es auch darum, eine Definitionsmacht zu entwickeln. Wenn ich Ihnen sage, „Was ist eine Synapse? Was ist eine Nervenzelle? Was ist ein Axon? Was ist ein Dendrit?“, dass Sie mir präzise darauf antworten können. Das ist ein sehr wichtiger Aspekt. Insofern sind die Naturwissenschaften gar nicht so verschieden von den Fremdsprachen. In Englisch lernen Sie ein Vokabular. In der Neurobiologie lernen Sie auch ein Vokabular. In der Genetik lernen Sie auch ein Vokabular. Das muss in gewissem Sinne eingeübt werden. Und dieses Einüben ist mühsam. Es ist vielleicht mühsamer als nur Sachen immer in einem neuen Kontext anzuwenden oder Projektlernen zu betreiben. Aber das ist genau das, was mir manchmal bei den Studierenden fehlt. Dass sie die Präzision der Argumentation, die Präzision des Denkens und das Hintergrundwissen, durchaus auch Faktenwissen, haben. Und dann überrascht es mich natürlich, wenn ich mit Lehrern spreche, die mir sagen: „Ja! Das haben wir doch alles behandelt. Die wissen doch alle, was eine Synapse ist.“ Und dann kommen die hier zu uns und ich frage: Jetzt sagen Sie mir mal, was eine Synapse ist. Und da kommt bei fünfzig Prozent der Studierenden nichts.

Zeichung einer Nervenzelle
Zeichung einer Nervenzelle. Quelle: Pixabay. CC0 Public Domain

MS: Ja, das klingt ein bisschen nach teaching for the test. Ich glaube, die wussten das, wo sie die Abiturarbeit geschrieben haben, schon. Aber dann-
RB: Nicht wirklich.
MS: Meinen Sie nicht?
RB: Ich denke, man lernt am besten, wenn man mit Leuten spricht, wenn man mit Kollegen spricht und nicht nur Sachen liest. Man liest ein Buch und denkt: Okay, habe ich alles verstanden. Und dann sagt jemand: Na, erklär es mir mal. Und dann plötzlich: „Oh, da sehe ich jetzt doch den Zusammenhang nicht.“ Also auch viel kommunizieren, damit arbeiten, aufschreiben. Auch häufig wiederholen und auswendig lernen. Ich habe immer noch ein gewisses Repertoire an Formeln, an Vokabular aus meiner Schulzeit, das auch jetzt noch manchmal wichtig ist, um schnell Abschätzungen zu machen. Und das fehlt mir bei vielen einfach. Die sagen: „Das musste ich nicht mehr lernen. Dafür hat man doch eine Formelsammlung…
MS: …oder ein Wörterbuch…
RB: Nein. Ein gewisser Grundstock muss da sein. Man muss jemanden nachts aufwecken können und sagen: „Wie berechnet man das Kugelvolumen?“ Und der muss sagen: „4/3 𠳓. Oder man muss ihn um zwei Uhr aufwecken und sagen: „Jetzt sag mir mal, was eine Synapse ist.“ Und das muss da sein. (lacht)
MS: Also, das ist bei den Sprachen wirklich auch evident. Da gibt es eine Art Handwerkszeug, das man benötigt, um sich überhaupt der Sprache bedienen zu können. Was mir als Lehrer oft schwer fällt, ich denke es fällt meinen Kollegen auch schwer, ist, dass mir von den Schülern und interessanterweise noch mehr von den Eltern die Erwartungshaltung entgegengebracht wird: „Dafür sind Sie doch da, ihm in den Hintern zu treten, das zu lernen.“ Dieser Drill, der kommt ja nicht von alleine. Bei den wenigsten jedenfalls. Gerade in dem Alter hat man das nicht. Ich fühle mich so extrem wenig dafür zuständig, die dazu zu bringen. Nicht nur, weil ich das kraftraubend finde. Bringen Sie mal dreißig Kinder dazu…
RB: Ja, ich weiß.
MS: …solche Sachen by heart zu lernen. Da würde ich mir halt auch wünschen, dass die Eltern mehr dahinter sind, denn das entzieht sich meinen Möglichkeiten. Ich meine, ich sehe die Kinder drei, manchmal vier Stunden pro Woche. Die Eltern sehen sie, glaube ich, schon öfter. Das überfordert mich einfach in einer Klassensituation.
RB: Klar. Aber ich denke, was man immer machen kann, was ich auch versuche zu tun, ist die Bedeutung von etwas herauszustellen.
MS: Und meinen Sie nicht, es ist vielleicht so, dass Ihren Studenten ein Stück weit die Strategien fehlen? Es ist ja auch eine Strategiefrage: Mit welchen Lernstrategien pauke ich? Das ist ja ein Wort, was man kaum noch benutzen darf. Aber da fehlen, glaube ich, auch manchmal die Mnemotechniken.
RB: Ja.
MS: Manche wissen gar nicht, wie sie das tun sollen. Also: „Soll ich mir das jetzt immer wieder durchlesen – Buch auf, Buch zu, Buch auf, Buch zu?“ Wir haben das Thema zum Beispiel in Englisch mit den Vokabeln. Viele arbeiten mit Vokabelkästen, weil sie das gut finden. Andere haben noch nie etwas vom Vokabelkasten gehört. Da muss ich dann erst mal anfangen zu erklären, was das überhaupt ist und wie man damit lernt. Oder mittlerweile gibt es ja auch Apps, mit denen man lernen kann. Das muss jeder für sich selbst rausfinden.
RB: (nickt)
MS: Herr Brandt, ich habe noch eine Frage zur Systemtheorie Humberto Maturanas. Maturana hebt hervor, dass es nicht darum geht, dass die Dinge um uns herum sind, sondern dass wir sie mit unserem Nervensystem aktiv erzeugen. Wir erzeugen die Welt, die wir vorfinden, selbst. Und wir sind Teil der Welt. Denn wir tun das immer in Abhängigkeit und im Austausch mit unserer Umwelt. Ich will jetzt mal versuchen, das auf die pädagogische Ebene zu übertragen: Ist es vergebene Liebesmüh, Wissen von einem Kopf in einen anderen zu transferieren? Können wir immer nur eine Einladung machen, ein Angebot setzen für Lerner sich mit den Fragen, die uns vorschweben, auseinanderzusetzen, synaptische Verbindungen herzustellen und Strukturen zu modifizieren? Würden Sie sagen, dass die Systemtheorie bzw. das empirische Fundament, das dahintersteht, zwangsläufig zu dieser Schlussfolgerung im Rahmen von Pädagogik führen muss?
RB: Ich denke, wenn man eine Vorstellung davon hat, wie das Gehirn arbeitet, dann entwickelt man auch eine Vorstellung, wie es bei Schülern arbeitet, wenn ein entsprechender Unterricht abläuft. Wenn man davon ausgeht, dass letztlich das, was im Gehirn ankommt, eine Interpretation von dem ist, was die Außenwelt darstellt, dann trifft das natürlich auch für die Lernsituation zu. Wenn Sie als Lehrer einen Sachverhalt erklären, dann ist das, was bei dem Schüler letztlich im Gehirn ankommt und abgespeichert wird, die Interpretation, die er diesem Sachverhalt gibt. Und man kann jetzt sagen: „Gut, die Gehirne von Personen sind relativ ähnlich aufgebaut. Insofern kann man davon ausgehen, die Interpretation von A wird vielleicht nicht identisch, aber zumindest ähnlich sein wie die, die Sie haben.“ Aber eine Garantie, eine philosophische oder erkenntnistheoretische, gibt es dafür nicht. Im Prinzip wäre das etwas, was man in der Prüfungssituation testen müsste.
MS: Und dann ist da noch der blinde Fleck der Bewertung. Im Grunde kann ich nie genau wissen, was der oder die Schülerin gelernt hat. Ich kann immer nur Performances messen, in Form von Tests oder anderen Überprüfungen. Aber was wirklich passiert, was der Schüler zu Hause erzählt oder – nehmen wir ein moralisches Dilemma: Ob Hänschen am Ende der alten Frau, die auf der Straße hinfällt, wirklich hilft, das weiß ich im Grunde genommen nie.
RB: Auch da wieder ein schönes Beispiel. Interessant ist die Neurobiologie auch deswegen, weil wir hier sehr viele Personen mit neurologischen Störungen anziehen. Autisten, Menschen mit Asperger-Syndrom und so weiter. Die landen häufig in der Neurobiologie. Vielleicht auch mit dem Hintergedanken, ein bißchen was über ihre Krankheit zu erfahren. Einmal hatten wir eine Dame mit Asperger-Syndrom, einer relativ milden Form von Autismus, die in schriftlichen Prüfungssituationen immer hervorragend abgeschnitten hat, in mündlichen aber massive Schwierigkeiten hatte. Es gab damals eine Frage, die sie partout nicht beantworten konnte. Und dann wollte sie wissen, was ich denn vorher erzählt hatte. Sie hatte also völlig chronologisch gelernt. Sie hatte, ohne inhaltlichen Zusammenhang, einfach die zeitliche Abfolge abgebildet. Ich habe zu ihr gesagt: „Davor haben wir über die Präsynapsen gesprochen…“ Und dann kam es! Dann konnte sie den Film ablaufen lassen. Da hab ich den Eindruck gehabt: Hoppla, die Interpretation oder das, was sie abgespeichert hat in ihrem Gehirn, das was sie gelernt hat, ist etwas völlig anderes als das, was ich eigentlich von der Konzeption her in meiner Vorlesung hatte. Dort hatte ich versucht, Zusammenhänge zwischen Sachverhalten zu generieren, die wir früher gemacht hatten und danach gemacht haben. Aber das hat bei ihr nicht funktioniert. Das ist für mich ein deutliches Beispiel dafür, dass wir tatsächlich nicht kontrollieren können, was Menschen letztlich lernen oder was die Kinder lernen. Und wir können natürlich erst recht nicht wissen, was sie damit machen. Und das ist möglicherweise auch belastend, ob sie zum Beispiel das Wissen, was sie im Chemieunterricht erlernen dafür nutzen, um in die Industrie zu gehen oder um eine Bombe zu basteln. Also das ist etwas, was sich dem Lehrer oder der unterrichtenden Person entzieht. Und das gilt im Grunde auch dafür, Einfluss darauf zu nehmen, in welcher Form abgespeichert oder interpretiert wird.
MS: Welche allgemeinen Rahmenbedingungen, würden Sie denn sagen, können das Lernen erleichtern oder können begünstigen, dass Schüler die Einladung zum Lernen annehmen? Gibt es allgemeine Bedingungen, die man aus Sicht der Hirnforschung einfordern kann?
RB: Auch da wäre ich mit Aussagen sehr vorsichtig, weil die sehr biologistisch ausfallen könnten. Was in jedem Fall unterstützend wirken kann, sind Emotionen. Aus dem Grund, weil sich das emotionale System auch evolutionär entwickelt hat, um Sachverhalte, die einen hohen Bedeutungswert haben, besser und nachhaltiger zu erinnern. Und wenn ich John Hattie richtig verstanden habe, dann ist es weniger die Form, sondern die Persönlichkeit des Lehrers, die über guten Unterricht entscheidet. Das kann ich vor dem Hintergrund meiner Lernerfahrungen auch bestätigen. Aber wie gesagt: Unser Gehirn, unser Nervensystem, das Lernen ist letztlich darauf ausgerichtet, optimal zwischen einem ankommenden Reiz und einer Reaktion zu vermitteln, durchaus auch indirekt. Und das heißt, dass die Ausbildung eben auch dazu dienen soll, dass der Betreffende am Ende erfolgreich eine bestimmte Tätigkeit ausüben kann. Oder dass es zumindest Leute sind, die ihren Beruf gut machen. Und insofern ist das auch ein Ziel des Lernprozesses. Also auch dort wieder viele Aspekte – Faktenwissen, Methodenwissen, prozedurales Wissen: Wie gehe ich an eine Fragestellung heran? Wo schaue ich nach? Aber durchaus auch einen gewissen Grundstock, um Faktenwissen und Sachverhalte schnell einordnen zu können.
MS: Herr Brandt, vielen Dank für das Gespräch.
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