Professor Dr. habil. Christoph Igel ist Wissenschaftlicher Direktor des Educational Technology Lab des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) und Sprecher des DFKI Berlin. Er ist Professor für Bildungstechnologien an Fakultät für Informatik der TU Chemnitz und Visiting Professor an der Shanghai Jiao Tong University in China. Zugleich engagiert er sich in Fachinitiativen und Netzwerken, so z.B. in der Expertengruppe „Intelligente Bildungsnetze“ des Nationalen Digital-Gipfels, im ddn Netzwerk der Initiative Neue Qualität der Arbeit, in der Charta Digitale Vernetzung und für das Nationale MINT-Forum.

Ulrich Schmid hat für digitalisierung-bildung.de mit Christoph Igel gesprochen.

Derzeit wird an vielen Stellen über Schul-Clouds nachgedacht und manche haben auch schon konkrete Angebote. Was müsste eine Schulcloud aus Ihrer Sicht leisten und worin lägen konkrete Vorteile für Schulen, Schüler, Lehrer, Eltern?  

Bildungstechnologien müssen dem Primat der Didaktik folgen und Diversität unterstützen. Jedwede Anwendung, jeder Dienst und jeder Service hat den Lehr- und Lernprozess zu unterstützen. In allen nur denkbaren formalen und non-formalen Bildungsszenarien, für Informationsmanagement, kognitive Lernprozesse und für den Erwerb meta-kognitiver Kompetenzen. Insofern erachte ich die Diskussionen um eine oder mehrere Schul-Clouds in Deutschland für deutlich zu kurz gesprungen. Dies gilt im Übrigen ebenso für aktuelle Überlegungen zu einer Hochschul-Cloud oder Cloud-Angeboten für die berufliche Bildung. Wir haben eine Bildungs-Cloud, die weltweit verfügbar ist, mit Inhalten gefüttert wird, zugänglich für nahezu alle Menschen ist, und die gerade für Lehr- und Lern-Prozesse ein nahezu unerschöpfliches Reservoir bereithält: das Internet.

Will man die Diskussion über eine Schul-Cloud hinsichtlich der notwendigen Basistechniken führen, könnte ein Blick auf das Deutsche Forschungsnetz hilfreich sein, das eine hervorragende Infrastruktur mit vielen Anwendungen, Diensten und Services für Hochschulen in Deutschland zur Verfügung stellt. Diese zu nutzen wäre ein pragmatischer Weg und meines Erachtens ein effizientes und effektives Vorgehen. Unabhängig davon: die Diskussion um eine Schul-Cloud erinnert mich an die 1990er Jahre, als Learning Content Management Systeme in Schulen und Hochschulen eingeführt wurden, die letztlich nichts anderes waren als Verweisserver mit lexikalischem Charakter. Als wolle man also heute mit der Schul-Cloud wieder versuchen, Ansätze, Modelle und Lösungen aus dieser Dekade in die Jetzt-Zeit zu übertragen. Das geht meines Erachtens nicht weit genug, und ich finde es auch zu wenig ambitioniert. Wo ist unser Mut, wo wäre der Schritt nach vorne?

Die Unterstützung von Heterogenität und Diversität in der Bildung, in Training und Qualifizierung und nicht zuletzt das Primat der Didaktik erfordern vielmehr intelligente Bildungsnetze. Also ein Meta-Netz von Bildungsangeboten, von Werkzeugen, von Systemen, von Diensten bis hin zu digitalen Inhalten im Internet. Derartige Meta-Netze müssen Unterstützung in zumindest vier Segmenten bieten:

  • Suchen und Finden von Inhalten,
  • Kommunikations- und Kollaborationswerkzeuge,
  • intelligente Funktionen unter Nutzung von Künstlicher Intelligenz und Education Analytics sowie
  • eine Governance Strategie.

Und natürlich bedarf es attraktiver Schnittstellen zum Menschen, zum Lernenden, zu den Lehrenden: Multimodal, für beliebige Endgeräte, offen für zukünftige Entwicklungen wie Brain-Computer-Interfaces.

Facebook, Apple und Google werden gerade im Bildungsbereich eher kritisch bis ablehnend betrachtet. Man sorgt sich um deren Marktmacht und fehlende Sensibilität für den Umgang mit persönlichen Daten. Sind diese Bedenken aus Ihrer Sicht berechtigt – und wenn ja: hätten wir in Deutschland Alternativen zu diesen Anbietern, gerade auch mit Blick auf die Digitalisierung der Schule?

Früher war es das Unternehmen Microsoft, vor dem man sich fürchtete, heute ist es Amazon, aktuell gerade Facebook. Apple gehört irgendwie zu den Guten auf dieser Welt und Google, tja, irgendwie cool, aber zugleich auch eine Daten-Krake. Wenn ich in die Praxis von Schulen, von Hochschulen und Unternehmen schaue: was würde geschehen, wenn wir die Angebote der IT- und Digital-Giganten nicht mehr nutzen würden? Ich höre diese Frage immer wieder, oftmals vorgebracht von Verantwortlichen in der Schulverwaltung, in Ministerien und in der Politik. Oftmals auch von solchen Berufspädagoginnen und Berufspädagogen, die dem Einsatz von Bildungstechnologien im Unterricht kritisch gegenüberstehen.

Nochmals der Blick in die Praxis: haben diese Unternehmen einen beträchtlichen Marktanteil? Zweifelsohne. Mangelt es uns in Deutschland an der Sensibilität im Umgang mit personenbezogenen Daten? Die Frage kann sich jeder selbst beantworten, der nach dem Datenskandal bei Facebook noch immer in sozialen Netzwerken aktiv ist. Bedarf es eines Umdenkens? Ja, mehr Aufklärung wäre prima, mehr Bewusstsein in Institutionen, aber auch und vor allem bei jedem und jeder Einzelnen. Auf der re:publica wurde in diesem Jahr darüber diskutiert, dass es einer Bundesbehörde bedarf, die derartige Fragen bitte schön regeln soll. Am besten international. Wäre dies realistisch? Ich bin skeptisch. Individuelle Selbstbestimmtheit ist für mich der Schlüssel zu diesen Fragen. Kein Gesetz, keine Verordnung wird diese Fragen effektiv und nachhaltig lösen können.

Die Innovations- und Markt-Dynamik in Sachen Education Technology kommt meist aus den USA. Muss man Europa und Deutschland inzwischen als bildungstechnologisch abgehängt betrachten?

Die Innovations- und Marktdynamik ist weltweit zu beobachten. Ein Blick nach Asien ist zu empfehlen, auch Russland investiert umfänglich in Educational Technologies, ebenso der arabische Raum. Traditionell weist man sicherlich – und dies auch zu recht – den USA eine gewisse Vorreiterrolle zu. Ich selbst erlebe gerade in China ein hohes Innovationspotenzial, ein großes Interesse an Educational Technologies – und eine bemerkenswerte Bereitschaft bei Lernenden und Lehrenden über alle Bildungssegmente hinweg, diese zu nutzen. Europa, insbesondere Deutschland, wird immer mehr zum Vertriebsraum der global agierenden Bildungsanbieter.

Nun habe ich aber auch nicht den Eindruck, dass dieses schon seit Jahren bekannte Faktum irgendjemanden ernsthaft nervös macht. Warum auch? Die Amerikaner und die Chinesen entwickeln die Technologien und wir nutzen sie – und die besten Ideen aus Deutschland wandern dann wieder in die USA ab. Es hilft nun nichts zu hadern oder zu klagen über den verlorenen Wettbewerb im Digitalen: der Impuls für diese Entwicklungen wurde vor vielen Jahren gelegt. Wir müssen nach vorne blicken und hart daran arbeiten, dass die nächste Generation intelligenter Bildungstechnologien aus Deutschland und Europa kommt. EdTech und Künstliche Intelligenz: das muss unser Fokus sein.

Der DigitalPakt soll kommen – und mit ihm viel Geld für die Digitalisierung der Schulen und Berufsschulen. Wird das endlich den Durchbruch für das digitale Lernen an deutschen Schulen bringen und was braucht es, damit diese Ressourcen sinnvoll und nachhaltig Wirkung entfalten?     

Haltung. Mindset. Willen. Wenn dies vorhanden ist, bei Entscheidern und Lehrenden in Schule, Hochschule und beruflicher Bildung, dann könnte es etwas werden mit dem Innovationsschub. Der digitale Transformationsprozess muss in den Bildungseinrichtungen gestaltet werden. Schulen als „Digitale Bildungs-Startups“ zu verstehen, könnte dabei helfen. Essentiell scheint mir aber ein Punkt zu sein: der DigitalPakt muss ein Bildungsinnovationspakt werden. Wenn wir dies nicht hinbekommen, die Kultur in der Schule zu gestalten, zu verändern, aus sich heraus, mit externen Partnern, gemeinsam, werden wir mittelfristig scheitern. Und selbstredend: die Eltern müssen diese Veränderung in den Schulen wollen. Mehr Leistung, mehr Innovation, mehr Haltung, so könnte es klappen.

Ein ergänzender Punkt liegt mir noch am Herzen: es ist offensichtlich, warum der DigitalPakt die Schule fokussiert. Was aber ist mit der non-formalen Bildung, in Kitas, in Sportvereinen, der VHS, den Gewerkschaften, der freiwilligen Feuerwehr? Und wann kommt der DigitalPakt Hochschule und der DigitalPakt Berufliche Bildung? Es liegt noch ein langer Weg vor uns, vielleicht klappt es ja mit einem Ruck durch Deutschland.