Prof. Dr. Michael Kerres ist Inhaber des Lehrstuhls für Mediendidaktik und Wissensmanagement und leitet das Learning Lab der Universität Duisburg-Essen. Er studierte und promovierte in Psychologie an der Ruhr-Universität in Bochum. Nach Habilitation an der Pädagogischen Hochschule Freiburg wechselte er vom Fachbereich Medieninformatik der Hochschule Furtwangen auf eine Professur für Pädagogische Psychologie an die Ruhr-Universität Bochum. 2001 folgte er dem Ruf auf eine Professur für Erziehungswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen.

Ulrich Schmid hat für digitalisierung-bildung.de mit Prof. Kerres gesprochen.

Herr Professor Kerres, Sie forschen und lehren seit vielen Jahren zur Digitalen Bildung und leiten mit dem Learning Lab an der Uni Duisburg-Essen eines der führenden bildungs- und medienwissenschaftlichen Institute in Deutschland: Wie sehen Sie vor dem Hintergrund des Digitalpakts Schule die Rolle der Lehrenden: Sind die Lehrkräfte an den deutschen Schulen in der Breite dazu in der Lage, sinnvollen Unterricht mit digitalen Lehr- und Lernmaterialien zu gestalten – wenn dann die entsprechende Ausstattung vorhanden ist?

Ich würde das Thema eher aus einer organisationalen Sicht angehen. Die Idee, man müsste nun tausende Lehrkräfte zu Schulungen schicken, und dann hätte man das Problem gelöst, greift zu kurz. Unser Ansatz am Learning Lab besteht darin, mit Bildungseinrichtungen die Frage anzugehen, wie wollen wir mit der Digitalisierung umgehen? Was sind unsere Chancen und Herausforderungen? Was sind unsere Lösungen und Wege? Und dann wird man auch über Weiterbildung sprechen. Und auch die Idee, erst Technik beschaffen, dann Schulungen durchführen, erweist sich dabei als wenig zielführend. Wir beobachten dies eher als einen Prozess, bei dem ein Kollegium technische Lösungen ausprobiert, evaluiert und nächste Schritte der Ausstattung plant.

Stichwort Schulcloud: Das Potsdamer HPI hat im Auftrag der Bundesregierung bzw. des BMBF eine DSGVO-konforme Schulcloud-Lösung entwickelt und an etlichen MINT-Schulen in verschiedenen Bundesländern im Einsatz. Manche Bundesländer sehen diese Lösung jedoch skeptisch und bauen mit unterschiedlichem Erfolg eigene Systeme und Plattformen. Auch NRW hat mit Logineo eine eigene Plattform entwickelt. Brauchen wir in Deutschland wirklich 16 verschiedene Plattformlösungen oder Clouds für den digitalen Unterricht?

In meiner Wahrnehmung hat das BMBF diese Initiative ohne Einbindung der Player auf Landesebene betrieben und losgelöst von seit Jahren laufenden Bemühungen, in denen bereits hohe Summen investiert wurden. Die Landeslösungen binden dabei in der Regel vorliegende Standards und Lösungen zusammen, wenn sie z.B. eine sichere Umgebung für den Betrieb von Moodle an Schulen vorhalten. Die Hürde war dabei etwa in NRW meines Wissens nicht die Technik, sondern das Veto der Personalräte von Lehrpersonen, das die Einführung der fertigen Lösung um Jahre verzögert hat.

Die Frage ist meines Erachtens eine ganz andere: Kann eine staatlich gesteuerte Softwareentwicklung nachhaltig betrieben werden? Das sehe ich nicht. Zumal die erforderlichen Lösungen ja bereits existieren und weltweit erfolgreich eingesetzt werden. Es gibt nur zwei Wege: Wir können auf Open-Source Lösungen setzen, die nationalen und internationalen Rückhalt haben, wie Moodle oder auch OwnCloud, das die Grundlage der etablierten Cloud für die NRW-Hochschulen darstellt. Hier können wir auch Einfluss auf die konkrete Gestaltung nehmen. Oder wir finden kommerzielle Anbieter, die bereit sind, unsere Standards an Datensicherheit zu garantieren. Hier sind meines Erachtens international die Lösungen von Microsoft und Google etabliert, die an vielen Bildungseinrichtungen erfolgreich genutzt werden.

Bleibt das Problem mit den 16 verschiedenen Bundesländern und ihren jeweiligen Systemen.

Ja, wir brauchen national Lösungen, wie Bildungsinhalte übergreifend verfügbar gemacht werden. Dabei geht es um die Föderation unterschiedlicher Systeme unterschiedlicher Anbieter mit offenen Standards, die den Austausch von Inhalten über die Plattformen hinweg ermöglichen. Das gilt auch über die Landesserver hinaus, für die Schnittstellen zu Hochschulen, Verlagen, Stiftungen oder anderen Content-Anbietern.

Was wir also national benötigen, ist eine Antwort auf die Frage, wie wir den Austausch von offenen Inhalten ermöglichen: ein Hub, der diese Ressourcen zusammenführt und den angeschlossenen Servern wieder bereitstellt – und dabei auch die Schnittstellen zu anderen europäischen Anbietern im Auge hat.

Eine solche Lösung ist übrigens – Schlagwort Elexier – technisch bereits am Deutschen Bildungsserver für den Schulbereich grundsätzlich realisiert) und wir arbeiten am Learning Lab gerade in einem BMBF-Projekt, das eine solche Lösung für den Hochschulbereich mit mehreren Leibniz-Instituten und Landesserver erprobt. Im Ergebnis heißt dies: Es gibt Aufgaben sowohl auf Landes- wie auf nationaler Ebene, aber wir müssen genau klären, was wo stattfindet.

Sie leiten derzeit ein großes Metaprojekt zur Bildungsforschung in Deutschland („Metavorhaben: Digitalisierung im Bildungsbereich“). Im Rahmen dieses Programms werden rund 50 Projekte bzw. Teilprojekte durchgeführt, etwa zur Lernortkooperation, Inklusion oder zum datenbasierten Unterricht. Auf welche Ergebnisse sind Sie dabei besonders gespannt? Und wovon versprechen Sie sich am meisten?

Das übergreifende Ziel besteht darin, neue Wege zu finden, Bildungsforschung und Bildungspraxis in einen noch engeren Dialog zu bringen. Wie kann Bildungsforschung dazu beitragen, Herausforderungen an die Bildung im Kontext der Digitalisierung zu bearbeiten? Die Antwort auf diese Frage ist keineswegs offensichtlich, jedenfalls erweist sich eine rein beobachtend-analytische Perspektive auf die Phänomene der Digitalisierung als nicht ausreichend. Die Geschwindigkeit der technischen Entwicklungen erschwert es beispielsweise, die Phänomene einer gründlichen Forschung zu unterziehen. Interessant erscheinen mir deswegen vor allem die Gestaltungsprozesse und -praktiken, wie wir neue Lösungen des Lernens in den Bildungssektoren entwickeln. Es geht also darum, über solche Fragen einer gestaltungsorientierten Bildungsforschung mit Forschungsprojekten und der Bildungspraxis zu sprechen und gemeinsam voranzutreiben.

Derzeit scheinen die Themen Künstliche Intelligenz (KI) und Blockchain auch den Bildungsbereich mächtig zu „infizieren“: Das damit verbundene Leitbild heißt: „Individualisiertes Lernen“. Wie schätzen Sie die Potenziale hierfür ein? Wo ist aus Ihrer Sicht eher Skepsis als Optimismus angebracht?  

Ich komme jetzt in ein Alter, in dem ich feststelle: Ja, die Geschichte wiederholt sich. Skinner und die Versprechungen des Behaviorismus sind vor 50 Jahren durchdiskutiert worden. Ich frage mich: Haben wir die Probleme eines fremdgesteuerten Lernens nicht lange genug diskutiert? Haben wir nicht klar die Limitationen eines solchen Ansatzes einer KI-gesteuerten „Individualisierung“ erkannt? Die Mediendidaktik könnte hier meines Erachtens sehr viel beitragen und den absehbaren Desillusionierungen vorbeugen. Es geht darum, digitale Räume zu schaffen, in denen Eigentätigkeit, Selbststeuerung, Handlung, Reflexion, Bildung möglich werden. In einem solchen Rahmen müssen wir die KI einordnen. Es erscheint mir wichtig, diese neuen Technologien für die Gestaltung von Lehr- und Lernräumen zu nutzen, aber eben nicht für eine „optimierte Lernprozessregulierung“, die dem Motto des „surveillance capitalism“ folgt. Wir müssen KI auf die Chancen für expansives Lernen beziehen, das die Freiräume des Einzelnen erweitert statt einengt.

Derzeit wird an vielen Stellen –über neue Bildungsplattformen nachgedacht. Es werden Machbarkeitsstudien angefertigt und weitreichende Visionen wie das CDU-Konzept MILLA ausgearbeitet. Lassen Sie uns wissen, wie Sie darüber denken: Brauchen wir, neben YouTube und Google öffentlich geförderte Plattformen für digitale Bildungsinhalte – und wenn ja, wo und wofür?

 In dieser Zeit des Umbruchs sehen wir viele Initiativen, von denen sich vermutlich eher wenige erfolgreich durchsetzen können. Unklar erscheint mir vor allem, wer was machen soll. Unsicherheit besteht gerade auf staatlicher Seite: Man will die Prozesse unterstützen, man sieht Desiderate im Bereich der digitalen Bildung. Aber leider fehlt ein klares Bild von den Rollen der Akteure.

Bei manchen Vorschlägen bin ich dann überrascht: Ich kann keine namhaften Akteure erkennen, die ernsthaft eine nationale Plattform für die Erwachsenenbildung empfehlen oder fordern würden. Der Vorschlag der CDU-Fraktion ist ohne jede Beteiligung dieser Akteure entstanden und von Experten ablehnend kommentiert worden. Die Verantwortung des Staates ist in dem Feld sehr hoch, aber ich sehe sie indirekter: Rahmenbedingen schaffen, dass Bildung sich im Internet als öffentliches Gut entwickeln kann, dass offene Bildungsressourcen verfügbar und ausgetauscht werden, dass sich Standards etablieren und Konsortien bilden, die die Aufgabe gemeinsam angehen, dass Abrechnungs- und Strukturmodelle weiterentwickelt werden, die auf digitale Angeboten basieren. Ok, eine neue Plattform in Berlin freizugeben, ist vielleicht öffentlichkeitswirksamer, aber nutzlos.