Am 22. Februar startete Kanzlerin Merkel die „Initiative digitale Bildung“. Doch das Bestehende zu ergänzen, reicht nicht mehr: Das deutsche Bildungssystem ist reif für einen grundsätzlichen Umbau. 

Die Bundeskanzlerin und die Bundesbildungsministerin haben am 22. Februar einen Online-Dialog zu digitaler Bildung und digitalen Kompetenzen eingeläutet. Zwar ist es grundsätzlich gut, dass diese Themen – nicht zuletzt Corona-bedingt – mehr Aufmerksamkeit erfahren. Doch zu oft geht es in der Debatte nur um zusätzliche Digitalisierung und neue Kompetenzen. Was wir jedoch brauchen, ist der Blick auf die Zukunftsfähigkeit des deutschen Schulsystems als Ganzes.

Für eine moderne, qualitativ gute und chancengerechte Schulbildung reicht es nicht mehr, immer nur das Bestehende zu ergänzen. Unser Bildungssystem ist schließlich kein Dachsbau, in dem man ein neues Zimmer gräbt, wenn ein neues Familienmitglied dazu kommt. Und das am Ende eine etwas wilde und willkürliche Struktur hat. Corona muss jetzt der Auslöser sein, ein neues Bildungshaus zu bauen. Eines, in dem die neuen Entwicklungen nicht nur Beiwerk, sondern tragende Strukturen sind.

Diese bisherige „Ergänzeritis“ lässt sich gut an der deutschen Ganztagsschule beobachten. Der Vormittag steht weiter im Zeichen des klassischen Unterrichts, während der Nachmittag für Betreuung, Hausaufgabenhilfe, Sport und AGs vorgesehen ist. Ein Durchbrechen dieser starren Teilung im Sinne eines effektiveren und besseren Lernens steht bislang nicht zur Disposition.

Ähnlich sieht es bei der Inklusion aus: Statt mehr individuelle Förderung für alle zu ermöglichen, wird die alte Regelschule ergänzt durch besondere Angebote für „Kinder mit Förderbedarf“.

Und eben auch in puncto Digitalisierung fehlt dem deutschen Bildungssystem ein ganzheitlicher Ansatz. Das Arbeitsblatt im PDF-Format und der Unterricht per Zoom sind in Homeschooling-Zeiten unumgänglich, stellen aber oft nur die Fortsetzung einer veralteten Pädagogik in neuen Kanälen dar. Das Potenzial digitaler Medien für personalisiertes Lernens wird so nicht gehoben.

Die fehlende Ganzheitlichkeit betrifft auch das Lernen an sich. Es erfolgt nach wie vor einzeln und separiert nach Schulfächern, bei Prüfungen sind die Schüler:innen auf sich allein gestellt. Doch im Berufsleben brauchen wir zunehmend übergreifende Kompetenzen und arbeiten in interdisziplinären Projekten. Und am Ende zählt der Erfolg eines Teams mehr als der eines Einzelkämpfers.

Für „New Work“ brauchen wir „New Learning“

Schule soll unsere Kinder bestmöglich auf die Zukunft vorbereiten. Dazu muss sie mehr sein als Unterricht plus Nachmittagsbetreuung, als Regelschule plus Kinder mit Förderbedarf, als gedruckte Bücher plus PDFs, als Kernfächer plus neue Fächer wie „Glück“.

Ganztagsschule, Inklusion, Digitalisierung und Zukunftskompetenzen können die Leistungsfähigkeit und Chancengerechtigkeit des deutschen Schulsystems nur dann auf ein wirklich neues Level heben, wenn sie sich als Eckpfeiler einer ganzheitlichen Bildungsstrategie wiederfinden. Deren Ziel darin besteht, die Art und Weise des Lernens nachhaltig zu transformieren. Denn für „New Work“, die neue Arbeitswelt, brauchen wir dringend ein „New Learning“.

Was bedeutet das für den Unterricht, der zunehmend im Ganztag stattfinden wird? Er muss flexibler organisiert sein und unterschiedliche Formen des Lernens besser über den Tag verteilen. Klassische Unterrichtszeiten sollten sich stärker mit Spiel- und Erholungsphasen abwechseln, die Grenzen zwischen schulischem und außerschulischem Lernen fließender werden. Das wäre ein Paradigmenwechsel, denn dann stände im Mittelpunkt der Pädagogik nicht länger das im klassischen Unterricht vermittelte Pauschalangebot für alle im Gleichschritt, sondern die individuelle Förderung jedes Einzelnen – mit dem Ziel, jeder Schülerin und jedem Schüler faire Chancen auf Teilhabe zu ermöglichen.

Im Sinne der Chancengerechtigkeit ist es daher konsequent, die Inklusion als pädagogisches Leitprinzip an allen Schulen umzusetzen. Schließlich sind alle Kinder so unterschiedlich, dass sie von einem inklusiven Unterricht profitieren: das hochbegabte Kind ebenso wie eines mit Förderbedarf. Damit das in der Praxis gelingt, braucht es multiprofessionelle Teams aus Sonderpädagogen, Sozialarbeiter:innen und Erzieher:innen, um die Lehrkräfte stärker zu unterstützen.

Digitalisierung ermöglicht individuelle Förderung

Wie aber kann es gelingen, flächendeckenden inklusiven Unterricht und individuelle Förderung zu verbinden, ohne Lehrpersonal und Schülerschaft zu überfordern? Der Schlüssel liegt in einer konsequenten Digitalisierung.

Digitale Lernsoftware kann Lehrkräfte bei der Planung des Unterrichts unterstützen, indem sie das jeweilige Kompetenzniveau aller Schüler:innen erfasst und sichtbar macht. Das erleichtert Lehrkräften den Umgang mit der natürlichen Vielfalt im Klassenzimmer, denn sie können gezielter denjenigen in der Klasse helfen, die den größten Bedarf haben. Digitales Lernen ermöglicht zudem, dass die Schüler:innen viele der Zukunftskompetenzen automatisch miterwerben: Sie werden sicherer im Umgang mit Medien, steigern ihre Kreativität und machen mehr Erfahrungen in der kollaborativen Zusammenarbeit.

Es braucht eine Aus- und Weiterbildungsoffensive

So unterschiedlich die Aufgaben in den jeweiligen Handlungsfeldern sind – zusammengedacht führen sie (endlich!) zu einem grundlegenden Umbau des Schulsystems. Und sie unterliegen einer übergreifenden Herausforderung, die nach politischen Antworten verlangt: die Ausstattung mit ausreichendem und gut ausgebildetem Personal. Der gravierende Mangel an Lehrkräften wird in den nächsten zehn Jahren die bildungspolitische Debatte in Deutschland prägen.

Es müssen, beispielsweise mit Quereinsteigerprogrammen, deutlich mehr Lehrer:innen gewonnen werden, um die wachsenden Lücken zu schließen oder zumindest zu verringern. Zugleich gilt es, die vorhandenen Lehrkräfte so weiterzubilden, dass sie die neue Art des Lernens in ihrem Unterricht umsetzen können und selbstverständlicher mit Kolleg:innen aus der Lehrerschaft als auch mit weiteren Fachkräften zusammenarbeiten. Bildung für die Bildung heißt also die Kurzformel: eine Aus- und Weiterbildungsoffensive der Lehrer:innen.

Corona als Chance für Reformen

Die Erweiterung eines Dachsbaus gerät früher oder später immer an den Punkt, an dem die Übersichtlichkeit verloren geht. Den Lehrer:innen und Schüler:innen darf es mit dem Bildungssystem nicht genauso ergehen. Corona sollte nicht nur Treiber der Digitalisierung sein, sondern ein Auslöser für eine wirkliche Erneuerung des Schulsystems.

In einer Zeit, in der immer mehr Bereiche unseres Lebens integrativer gedacht und gemacht werden, darf Schule als der Grundstein für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft nicht in überholten Mustern verharren. Mit der Überwindung der Corona-Pandemie und der allmählichen Rückkehr zum Regelbetrieb an den Schulen bietet sich eine große Chance, das deutsche Bildungssystem auf das individuelle Lernen auszurichten und damit auf ein neues Fundament zu stellen.

Am Ende dieses Weges, so er konsequent beschritten wird, steht die inklusive Ganztagsschule: als passender Rahmen für ein digital unterstütztes, personalisiertes Lernen, bei dem alle Schüler:innen wie selbstverständlich die Kompetenzen für das 21. Jahrhundert erwerben. Gelingt das nicht, blieben trotz großer Anstrengungen alle Reformen nur Beiwerk.


Diesesr Gastbeitrag ist am 22. Februar 2021 auf dem Blog von Jan-Martin Wiarda erschien.