Die vollständige Rückkehr der Kinder in Grundschule und Ganztag im Sommer 2021 und die Perspektive auf schrittweise Aufhebung der Coronamaßnahmen sollen zum Anlass genommen werden, die Studie „Ganztag aus der Perspektive von Kindern im Grundschulalter[1] vorzustellen, in der der Frage nachgegangen wurde, was aus Kindersicht einen guten Ganztag ausmacht. Es soll zudem darüber nachgedacht werden, welche Impulse aus ihr für die Zukunft nach Corona abgeleitet werden können.

Für die Studie hat das Forschungsteam um Prof. Dr. Iris Nentwig-Gesemann bis zum Beginn der Schulschließungen im Frühjahr 2020 in sechs sehr unterschiedlichen Ganztagseinrichtungen in verschiedenen deutschen Bundesländern mit einer Vielzahl an Methoden mit Kindern geforscht. Die Kinder konnten in Gruppendiskussionen ihre Erfahrungen schildern, sie konnten Fotos von ihnen wichtigen oder schönen Orten ebenso machen, wie von Orten, die ihnen nicht gefallen und dies erläutern. Sie konnten Bilder zu ihrem Ganztag malen oder Beschwerden, Lob und Wünsche in einer Briefbox sammeln. Bestimmte Situationen, wie das Freispiel, Mahlzeiten und die Hausaufgabenbetreuung, wurden zudem teilnehmend beobachtet.

Der Alltag in den letzten Monaten war jedoch ein anderer als der, an dem wir teilnehmen konnten. Die Grundschulkinder blieben die meiste Zeit zuhause, pflegten nur wenige Kontakte in der realen Welt und verbrachten mehr Zeit als zuvor mit digitalen Medien. Sie konnten nur eingeschränkt Freunde und Freundinnen sehen, mussten viel mehr Hausaufgaben machen und durften kaum den gewohnten Freizeitaktivitäten und Angeboten nachgehen. Der Ganztag war bis auf eine Notbetreuung weitestgehend geschlossen, die Rollen von pädagogischen Lehr- und Fachkräfte wurden zum Teil auf die Eltern übertragen.  Wenn die Kinder in die Schulen gehen konnten, waren auch dort die Kontakte und die Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Die Lehr- und Fachkräfte begegneten ihnen zudem nun auch in der Rolle der Hygienebeauftragten – insgesamt war der Alltag also fremdbestimmter und eingeschränkter als vorher.

All diese Veränderungen stehen im Kontrast zu den Qualitätsdimensionen, die sich in der Studie „Ganztag aus der Perspektive von Kindern im Grundschulalter“ als für die Kinder besonders wichtig herauskristallisierten: Kinder brauchen im Ganztag vor allem die Peers als Gegenüber, mit denen sie einerseits ‚wild‘ und körperbetont spielen und sich messen und sich andererseits auch zurückziehen, unterhalten und soziale Rollen verhandeln wollen. Oft suchen sie Orte, wie mit Kissen und Decken ausgestattete Spielräume, Nischen in Hecken oder im Gebüsch und Klettergerüste oder -bäume, die sie sich als ihre Orte aneignen und an denen sie sich in Fantasiespiele vertiefen. Schließlich kann die Bedeutung von Freunden und Freundinnen nicht hoch genug eingeschätzt werden: Kinder müssen täglich Freundschaft erleben und die Erfahrung machen, dass sie sich auf ihre Freunde bzw. Freundinnen verlassen können. Diese starke Orientierung der Kinder an sozialen Kontakten zu Gleichaltrigen, von uns als „Gestaltung einer positiven Peer-Kultur“ bezeichnet, wurde durch die pandemiebedingen Restriktionen besonders blockiert und konnte nur sehr eingeschränkt, beispielsweise über soziale Medien und einzelne private Kontakte, aufgefangen werden.

Die Studie zeigt zudem, dass Kinder es am Ganztag schätzen, positive Beziehungen zu den pädagogischen Fachkräften zu unterhalten. Keines der 165 an der Studie beteiligten Kinder hat zum Ausdruck gebracht, dass konventionelle Hausaufgabenbetreuungssettings zu seinen Lieblingsaktivitäten gehörten, aber dennoch freuen sie sich, wenn sie von Pädagoginnen und Pädagogen unterstützt zu werden, die aufmerksam und respektvoll an ihre Interessen und Bedarfe anknüpfen. Dass eine solche Begleitung in Zeiten von „Homeschooling“ gewährleistet werden konnte, darf bezweifelt werden. Wenn es vor allem um die Aufrechterhaltung einer Grundversorgung geht und Kontinuität nicht gewährleistet ist, ist das, was Kinder an Pädagog*innen im Ganztag schätzen, gefährdet: von Vertrauen, Emotionalität und Ebenbürtigkeit geprägte Beziehungen, Unterstützung bei der Konfliktlösung und partizipative Projekte.

Das Recht auf Gehör, auf Mitsprache, Mitwirkung und Mitbestimmung von Kindern in Schule und Ganztag geriet in der Krisenbewältigung immer wieder in Vergessenheit. Die Perspektiven der Kinder, ihre Vorschläge zum Umgang mit den pandemiebedingten Herausforderungen wurden kaum berücksichtigt.

Auch die folgenden Dimensionen, die in der Studie „Ganztag aus der Perspektive von Kindern im Grundschulalter“ herausgearbeitet wurden, blieben – so ist zumindest zu vermuten – in der Corona-Krise nicht unberührt:

Kindern ist es wichtig, im Setting des Ganztags Themen und Aufgaben der mittleren und späten Kindheit produktiv bearbeiten zu können. Dazu gehört zum Beispiel, auch einmal etwas Verbotenes auszuprobieren, Regeln zu brechen und Grenzen auszutesten. Themen wie Sexualität, Drogen, Identität und Macht sind Kindern im Ganztag gegenwärtig und sie suchen nach Gelegenheiten, sich damit spielerisch oder in intensiven Gesprächen zu beschäftigen. Zudem wollen Kinder sich langanhaltend und verlässlich in praktische Aktivitäten vertiefen und sich in Situationen mit Ernstcharakter bewähren, wie z.B. sich um einen Garten zu kümmern, etwas zu bauen oder in einer AG mitzuarbeiten. Schließlich wollen sie auch Pausen haben, in denen sie sich gemeinsam unterhaltsamen und entspannenden Tätigkeiten hingeben können.

Zudem schätzen Kinder Ausflüge in die unmittelbare Umgebung und die Natur, aber auch in Zoos, Freizeitparks, Kinos und Museen und mögen es, wenn die Außenwelt – beispielsweise in Form von Menschen mit ganz unterschiedlichen Berufen, die Angebote und AGs veranstalten – in den Ganztag hineingeholt werden. Ausflüge, kulturelle und sportliche Angebote sowie die Begegnung mit Menschen waren in der Corona-Zeit zwar kaum möglich, das Draußensein, Bewegungsaktivitäten im Freien und der Aufenthalt in der Natur waren allerdings ausdrücklich erwünscht und sind, so wäre zu hoffen, ausgiebig realisiert worden.

Kurz- und mittelfristig müssen nun in Schule und Ganztag zunächst die Erfahrungen der Coronakrise gemeinsam mit den Kindern verarbeitet, Beziehungen belebt und Regeln, Abläufe sowie Gepflogenheiten wieder etabliert werden. Die „Lernförderung“, die in den Ferien und darüber hinaus verstärkt angeboten werden soll und dafür vom Bildungsministerium mit einer Milliarde Euro gefördert wird, ist für viele Kinder ein wichtiges Angebot, um Lücken zu schließen, Kompetenzen zu sichern und damit Bildungsgerechtigkeit abzusichern. Dennoch sollte das Nachholen ausgefallenen Unterrichts in Form von unterrichtsnahen Settings in pädagogischen Einrichtungen nicht vollends zulasten ebenso wichtiger Bildungs- und Lebenserfahrungen durchgeführt werden, die Kinder als Pendant zum konventionellen Unterricht schätzen. Die Kinder brauchen auch Zeit, (wieder) eine positive Peer-Kultur zu entwickeln, sie müssen die vertrauensvollen Beziehungen zu den Fachkräften wieder reaktivieren, Lebenserfahrungen machen, die in ihrem Alter anstehen, Gespräche über Erlebtes führen und den Radius ihrer Lebensraumerkundung wieder wesentlich erweitern.

Die Coronakrise hat die Bedeutung von Ganztag deutlich aufgezeigt und unterstrichen. Was für Eltern ein notwendiges Betreuungssetting ist, ist für Kinder ein Lebens- und Bildungsort.

Langfristig gilt es daher, das Potenzial des Ganztages für Bildungs- und Lernerfahrungen zu nutzen, die sich für Kinder ergeben, wenn sie sich dort über längere Zeit in projektbezogenes Lernen vertiefen, demokratische Kompetenzen erwerben und selbstständig Beziehungen ausgestalten können. Dafür müssen nicht-pädagogisierte Frei- und Aktionsräume, anregende Angebote und Bewegungsmöglichkeiten geschaffen und erhalten werden. Vor allem aber sollten Kinder sowohl bei der Bewältigung der Coronakrise als auch bei der langfristigen Gestaltung einer zunehmend institutionalisierten Kindheit im Ganztag einbezogen und ernst genommen werden – dieses Recht steht ihnen laut UN-Kinderrechtskonvention selbstverständlich zu. Eine Orientierung an den Rechten der Kinder darf in Schule und Ganztag, wie überhaupt in der Gesellschaft, kein ‚Luxus‘ sein, für den in Krisenzeiten kein Platz mehr ist. Im Gegenteil erweist sich eine glaubwürdige Orientierung an den Perspektiven und Rechen von Kindern dann, wenn Herausforderungen zu bewältigen sind, zu deren Lösung auch Kinder einen wesentlichen Beitrag leisten können.

 


[1] Walther, Bastian, Nentwig-Gesemann, Iris & Fried, Florian (2021). Ganztag aus der Perspektive von Kindern im Grundschulalter. Eine Rekonstruktion von Qualitätsbereichen und -dimensionen. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung