Das Konzept der Student Agency erkennt an: Schüler:innen bringen Fähigkeiten und Willen mit. Aus meiner Praxis als Lehrkraft und Fortbildner im Bereich Musik-Tanz-Sprache skizziere ich im Folgenden, wie Schüler:innen student agency entwickeln können, wenn Lehrende ihnen schöpferische Aktivitäten ermöglichen, die implizit folgenden Fragen folgen: Wie entdecke und erprobe ich meine Gestaltungskraft? Wie vertiefe ich die Erfahrung und die Gewissheit, dass ich – auch gemeinsam mit anderen – gestaltungsfähig bin? Wie entsteht für mich und andere durch schöpferische Aktivitäten mit Musik-Tanz-Sprache Bedeutung/Sinn?

Schöpferische Aktivität

Vorneweg skizziere ich vier Grundannahmen, die ermöglichen, dass schöpferische Aktivitäten Erfahrungen der Selbstwirksamkeit und Sinnhaftigkeit bewirken können.

Schöpferische Aktivität (mit Musik-Tanz-Sprache)

  • beginnt voraussetzungsfrei und barrierefrei bei dem, was Schüler:innen bereits tun und wissen, wie sie sprechen, sich bewegen und klingen. Die momentane Wahrnehmungsfähigkeit, Ausdruckskraft und Interaktionsmöglichkeit der Schüler:innen ist der beste Startpunkt für Explorations- und Gestaltungsprozesse. Lehrende beginnen also mit Zuhören und Hinschauen. Sie verzichten zunächst auf instruktives Vermitteln und Lehren.
  • beruht auf weiten Begriffen von Musik und Tanz: Akustische Ereignisse, die bewusst wahrgenommen oder erzeugt werden, sind musikalische Aktivität. Bewegungen, die bewusst wahrgenommen oder ausgeführt werden, sind tänzerische Aktivität.
    Lehrende bewerten zunächst nicht mit „richtig/falsch“. Sie anerkennen: Ausdruck ist Ausdruck.
  • gibt Schüler:innen die Chance, eigene Musik, eigenen Tanz, eigenes Sprechen zu entwickeln.
    Lehrende initiieren dadurch Erstmaligkeit. Alles was Schüler:innen gestalten, ist ihr Werk und immer „Welturaufführung“. Erst in möglichen Wiederholungen entsteht Repertoire.
  • überschreitet Themen- und Fachgrenzen. Schüler:innen integrieren Erlebtes und Erlerntes im schöpferischen Gestalten. Lehrende nutzen dies, unabhängig vom Fach, das sie unterrichten.

Eine Momentaufnahme aus dem Unterricht

Die Schüler:innen stellen selbstgewählte Texte vor (Gedicht, Zeitungsartikel, Tweet, Abschnitt aus dem Biologiebuch etc.). Anschließend entscheiden sie, wer mit welchem Text weiterarbeiten möchte und bilden Kleingruppen.

Manche Kleingruppen beschäftigen sich damit, wie der Text gelesen werden kann. Sie explorieren Stimmklang, Sprechtempo und -melodie oder verändern die grammatikale Ordnung. Der Text beginnt zu klingen, vielleicht zu grooven. Und die Schüler:innen beschäftigen sich mit der Wirkung ihres Sprechens: Wie beeinflusst die Art des Sprechens die Bedeutungshorizonte des Textes?

Andere Gruppen explorieren mit Alltagsgegenständen und Musikinstrumenten, um Geräusch- und Klanglandschaften zu gestalten, die sie diesem Text „zur-Seite-stellen“ wollen. Sie testen, wie Klangbilder und Rhythmen mit dem Text resonieren und beschäftigen sich mit der Wirkung von Klang und Rhythmus: Welche Bedeutungen entstehen, wenn verbale Sprache mit klanglichem Ausdruck konfrontiert wird?

Weitere Gruppen fokussieren sich darauf, Bewegungen zu erforschen, die sie als ihre „Antwort“ auf diesen Text verstehen. Sie transformieren Geschriebenes in körperlichen Ausdruck und beschäftigen sich mit nonverbaler Ausdruckskraft: Welche Bedeutungen entstehen, wenn verbale Sprache über Bewegung in den Körper und Raum „eingeschrieben“ wird?

Alle Schüler:innen stellen sich, auf unterschiedlichen „Wegen“, in ihren Kleingruppen derselben Aufgabe: Zum Ausdruck bringen, was der gewählte Text für sie bedeuten könnte.

Nachdem die Gruppen sich gegenseitig ihre ersten Ergebnisse gezeigt haben, finden sich jeweils zwei Gruppen zusammen: „Sprache trifft Musik“, „Tanz trifft Sprache“, „Musik trifft Tanz“.
In diesen erweiterten Gruppen explorieren die Schüler:innen, wie sich Musik, Tanz, Sprache als Ausdrucksmedien verstärken, ergänzen, „widersprechen“ können, was deren jeweils spezifische Ausdruckspotenziale sind und wie sie selbst Bedeutungen entwickeln und schöpferisch zum Ausdruck bringen. Es entstehen Performance-Miniaturen.

Diese Momentaufnahme aus dem Unterricht beschreibt, unabhängig vom Alter der Schüler:innen, einen Handlungsrahmen. Die Komplexität der gewählten Texte, der Explorations- und Gestaltungsideen, der Reflexion ist abhängig von den Schüler:innen. Die Lehrenden stimmen ihre Begleitung auf die beteiligten Persönlichkeiten und deren Handlungsmöglichkeiten ab.

Partizipative Prozesse ermöglichen

Auf einer ersten Ebene entsteht Partizipation, wenn Lehrende beim Explorieren und Gestalten mit Musik-Tanz-Sprache Entscheidungsspielraum geben. In der beschriebenen Momentaufnahme wählen Schüler:innen unter selbst mitgebrachten Texten einen aus, finden sich selbstbestimmt zu einem Text und einem Ausdrucksmedium in einer Kleingruppe zusammen.
Diese Möglichkeit zu partizipieren, wird von den Lehrenden geplant, gewährt und kann jederzeit auch rückgängig gemacht werden. Partizipation ist hier eine von den Entscheidungsmächtigen gewählte „Methode“. Schüler:innen müssen dies nicht unbedingt als partizipative Beteiligung erleben. Es kann auch als Verpflichtung („sich-jetzt-mit-einem-(selbstgewählten)-Text-schöpferisch-auseinandersetzen-zu-müssen“) erlebt werden.

Eine zweite Ebene der Partizipation entsteht, wenn Lehrende den momentanen Ausdruck der Schüler:innen als „Wegweiser“ für schöpferische Prozesse nutzen.
Im obigen Beispiel könnte sich dies konkret so zeigen:
Nur acht Texte wurden mitgebracht. Oder Schüler:innen lesen ihre Texte sehr unterschiedlich vor. Oder bei der Auswahl der Texte, wird lautstark und gleichzeitig geredet.
Lehrende können bereits solche Ereignisse als schöpferischen Akt zum Anlass nehmen, den weiteren Explorations- und Gestaltungsprozess anzuregen:
Beispielsweise mit Fragen: „Wer von denen, die keinen Text mitgebracht haben, wird jetzt selbst einen Text entwickeln (mit oder ohne Musik/Tanz)?
Oder über Resonanz: „Als M. das Gedicht gelesen hat, habe ich die Stimme leise empfunden. Für mich könnte das nach Geheimnis oder Müdigkeit klingen. Wer will heute mit Leise-sprechen forschen und dazu Musik/Tanz entwickeln?“
Oder die lautstarke Diskussion bei der Textauswahl wird selbst zum „Text“: „Erinnert euch an euren zuletzt ausgesprochenen Satz. Beginnt damit zu improvisieren.“
Auf dieser Ebene der Partizipation können alle Beteiligten erfahren, dass ihre Art, präsent zu sein, andere inspiriert und Anlass für nächste Explorationen und Gestaltungen ist.
Lehrende lassen sich hier von der Beteiligung der Schüler:innen inspirieren – noch bevor oder während sie Aufgaben aussprechen.
Lehrende, die sich auf diese Form der Partizipation einlassen, erfahren: Diese kann weder gewährt noch weggenommen werden, denn allein durch ihre Präsenz beeinflussen Schüler:innen die Ausdrucks- und Interaktionsprozesse. Lehrende können diese Form der Partizipation allerhöchstens vermeiden, indem sie für die Ausdruckspräsenz von Schüler:innen nicht aufnahmebereit sind, sie bewusst ausblenden oder für momentan unangemessen erklären.

Beinahe zwangsläufig entsteht aus der zweiten eine dritte Ebene der Partizipation.
Ernstgenommene Teilhabe und Teilgabe der Schüler:innen verändert den Unterrichtsrahmen.
Oben beschriebene Reaktionen der Lehrenden führen mit großer Sicherheit dazu, dass z.B. die räumliche Organisation des Explorierens und Gestaltens verändert wird. Vielleicht braucht eine Kleingruppe eine stille Umgebung für ihre weitere Forschung? Vielleicht macht es Sinn, Musik-Tanz-Sprach-Exploration an verschiedenen Orten auszuführen? Vielleicht ist es wichtig, dass Kleingruppen unterschiedlich groß sind (von drei bis neun Schüler:innen)?

…..und zurück zur Student Agency

Lehrende, die schöpferische Aktivitäten anregen, die Schüler:innen dabei begleiten, ihre eigenen Musik-Tanz-Sprach-Werke zu kreieren, die bereit sind, sich auf den Ausdruck der Schüler:innen – und damit auf die zweite Ebene der Partizipation – einzulassen, öffnen über ihre Aufmerksamkeit für das Wahrnehmen und Handeln der Schüler:innen diesen ein weites Feld für Erfahrungen, der (Selbst-)Wirksamkeit, der Resonanz, der Anerkennung und Inspiration. Sie unterstützen sie dabei, ästhetisch-schöpferische Ausdruckskraft und Interaktionspotenziale individuell auszudifferenzieren.

… und bevor ich‘s vergesse: Im geschützten Rahmen ästhetisch-schöpferischen Explorierens und Gestaltens ist alles erlaubt, was nicht willentlich die Würde anderer beschädigt. Eine wunderbare Chance, die Notwendigkeit von Verantwortungsübernahme und deren (individuelle) Stile ästhetisch-schöpferisch zu erforschen und (individuell) auszuprägen.