Heinz-Elmar Tenorth im Gespräch mit Schule 21

Lieber Herr Tenorth, schon seit längerem wird national wie international eine breite Debatte um die sogenannten “21st century skills”, “Transversale Kompetenzen” oder auch „Zukunftskompetenzen“ geführt. Was genau ist das für Sie und welche Bedeutung messen Sie diesen Kompetenzen – auch in Relation zu fachlichen Kompetenzen – bei? 

Von dieser Debatte halte ich nicht viel, vor allem, weil es keine exklusiv auf „Zukunft“ zielende Kompetenzen gibt. Kompetenzen stellen nämlich immer von der Ursprungssituation abgelöste Fähigkeiten und Fertigkeiten dar, die erst nach der Erwerbssituation, also in „Zukunft“ genutzt werden. Dafür sind Kompetenzen nötig, weil sie auch beim Umgang mit Unsicherheiten und unbekannten Anforderungen der Zukunft hilfreich sind. Das ist ja das Problem, das auch die OECD umtreibt, wenn sie fragt: “Wie können wir Lernende auf Arbeitsplätze vorbereiten, die noch nicht existieren? Wie können wir sie befähigen, gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen, die noch nicht absehbar sind, und Technologien zu nutzen, die es noch nicht gibt?“ Das kann man im Detail nicht wissen – aber die bewährte Antwort ist, dass Grundbildung, die Generalisierung von Lernfähigkeit und Bildungsbereitschaft dafür hilfreich und notwendig sind – insofern muss man gar nichts neu erfinden, sondern ganz klassisch bildungstheoretisch antworten.

Das gilt auch für die Frage, wie „Lernende … sich in einer vernetzten Welt zurecht(zu)finden, … verschiedene Perspektiven und Weltanschauungen verstehen und wertschätzen, respektvoll mit anderen interagieren und verantwortungsbewusst für Nachhaltigkeit und kollektives Wohlergehen eintreten sollen? “  – auch hier: alte und bekannte Probleme, auf die das Bildungswesen in der Moderne schon immer antwortet. Und alle technisch-sozialen Veränderungen der letzten 200 Jahre sind ja auch bewältigt worden.

Schließlich, schon immer war im pädagogischen Kontext die Rede von Zukunft eher irreführend, denn dort gibt es für die je aktuell Lernenden immer mehr als eine Zukunft – beruflich, privat, milieuspezifisch (etc.). Auch gesellschaftlich sind die Zukünfte nicht eindeutig definierbar: Selbst Digitalisierung, um ein aktuell gern genutztes Beispiel zu nehmen, definiert Zukunft nicht insgesamt oder gar allein. Migration oder soziale Gerechtigkeit oder gesellschaftlicher Zusammenhalt oder der Klimawandel (etc.) sind Themen und Probleme, die als Gestaltungsaufgabe gleichgewichtig anstehen.

„Fachliche Kompetenzen“ schließlich in einen Gegensatz zu Zukunftskompetenzen zu setzen, ist vollständig irreführend, denn für unser Handeln jenseits des Hier und Jetzt brauchen wir neben der Anerkennung und Achtung der demokratischen Tugenden vor allem fachliche Kompetenzen – wie soll die Gestaltung von Welt sonst gelingen?

Es gibt international verschiedene Konzepte zur Beschreibung von Zukunftskompetenzen – eines davon ist der OECD-Lernkompass. Sie haben sich in einem ausführlichen Gutachten mit diesem Rahmenmodell beschäftigt: Welche Bedeutung hat der Lernkompass aus Ihrer Sicht für die deutsche Bildungslandschaft?

Das für mich Wichtigste am OECD-Lernkompass ist die Tatsache, dass die OECD endlich selbst erkennt, dass ihre Fixierung auf outcome-orientierte Bildungspolitik und eine daran orientierte Steuerung des Bildungswesens falsche Prioritäten gesetzt hat. Das war die zweite Korrektur, nachdem die OECD im Blick auf das deutsche Bildungswesen bereits ihre frühere – und falsche – Präferenz für den Indikator Hochschulzugang aufgegeben und den Wert der beruflichen Bildung und des dualen Systems der Ausbildung endlich anerkannt hat. Es wäre hilfreich, wenn sie jetzt auch die Rhetorik der Zukunftskompetenzen bald korrigieren würde, zusammen mit den fatalen Fehlurteilen über die Lernfähigkeit im deutschen Bildungssystem, das wahrlich mehr kann, als das was ihr die OECD zuschreibt, nämlich „zweitklassige Roboter“ zu bilden.

Auch sonst holt die OECD nur nach, was allgemein gesagt wird, z. B., dass Bildungsprozesse sich auf den gesamten Lebenslauf und auf formale und non-formale, formelle und informelle Lernprozesse beziehen, dass es dafür kein Normalmodell gibt, sondern nur ein semantisch wie systematisch abgestimmtes Angebot der Orientierung für individuell, kulturell, politisch, systemisch und national variable Konzepte der Realisierung. Aber für diese Breite und Vielfalt der Adressaten werden die Erwartungen und Aufgaben im Lernkompass weder prozess- noch aufgabenspezifisch präzise zugeschrieben und konkretisiert.

Bis 2030 bedarf es deshalb der Konkretion, hoffentlich wirklich in Kooperation mit den je lokal entscheidenden Akteuren, angefangen bei Lehrern, Eltern und Lernenden. Die Anerkennung der nationalen und kulturellen Varianz, Stärkung der Kompetenzen der Einzelschule gehört dazu, die Notwendigkeit, Prioritäten zu setzen und die Einsicht, dass die Sicherung der Grundbildung die erste Priorität haben muss. Man kann die Akzentuierung von „core foundations“ im Lernkompass so sehen, aber noch fehlt die curricular hinreichende Absicherung und die klare Einsicht in die notwendige Sequenzierung grundlegender und spezieller, berufsfachlicher und akademischer Bildung. Mit der Rede von „Schlüsselkompetenzen“ war und ist man nicht hinreichend gegen den Irrtum geschützt, fachliche Kompetenzen oder bildungssysteminterne Differenzierung und Graduierung von Curricula, Lerngelegenheiten und Bildungsgänge abzuwerten.

Wenn Sie an die Zukunft des deutschen Bildungssystems denken: Brauchen wir aus Ihrer Sicht eine Weiterentwicklung von Curricula und neue Lernformate? Warum?

Für die Sicherung der Zukunft des deutschen Bildungswesens sind Curricula und Lernformate wichtige, aber nicht die allein zentralen Gestaltungselemente. Organisatorisch ist es unbedingt erforderlich, Ganztagsangebote durchgehend für alle Schularten verlässlich sicherzustellen. Schon das aktuell vorgesehene Jahr 2025 als Zeitpunkt der obligatorischen Einführung, dann auch nur für die Grundschulen, dokumentiert nur noch das Versagen vor dringenden Aufgaben, die Vertagung der Entscheidung durch den Bundesrat* macht das Dilemma komplett. Hier muss zuerst nachgebessert werden, dann kann man curriculare und didaktische Fragen aufgreifen. Sinnvoll zu modernisieren sind die aber erst, wenn die Handlungsautonomie der Einzelschule deutlich gesteigert wird, denn erst auf der Ebene des konkreten Unterrichtswissens und erweiterter Lernformate, nicht nur mit Digitalisierung, entscheiden sich Lernprozesse. Alle diese Programme bleiben aber folgenlose Propaganda, wenn die personelle, materielle und finanzielle Ausstattung der Schulen so schlecht und ungleich bleibt, wie sie aktuell ist. Wer z. B. nicht die dramatischen Folgen des drohenden Lehrermangels sieht und Strategien dagegen entwickelt, arbeitet mit ungedeckten Schecks für die Zukunft – denn das kann man wissen, dass ohne Lehrpersonal nichts geht, auch wenn dann nicht alles schon gut ist. Zukunftsrhetorik ist dafür kein Ersatz.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

 

Ein Interview mit Ekkehard Winter, Geschäftsführer der Telekom Stiftung, über die Rolle der Zukunftskompetenzen in der Bildung finden Sie hier.

*Anmerkung der Redaktion: Inzwischen hat nach dem Bundestag nun auch der Bundesrat einem Kompromissvorschlag des Vermittlungsausschusses zum Ganztagsförderungsgesetz zugestimmt. Damit wird ab 2026 der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule schrittweise eingeführt.