Globalisierung und Digitalisierung verbinden Menschen, Städte und Kontinente in einer Weise, die unser individuelles und kollektives Potenzial enorm erweitern. Aber die gleichen Kräfte haben die Welt auch komplexer und unbeständiger gemacht. Wir erleben eine wachsende Kluft zwischen dem unendlichen Wachstumsimperativ und den endlichen Ressourcen unseres Planeten, zwischen der Finanzwirtschaft und der Realwirtschaft, zwischen Armut und Reichtum, zwischen dem Konzept unseres Bruttoinlandsprodukts und dem Wohlbefinden der Menschen, zwischen technologischen Möglichkeiten und sozialen Bedürfnissen sowie zwischen Regierungsführung und wahrgenommener Stimmlosigkeit der Menschen. Niemand sollte Bildung für all dies verantwortlich machen, allerdings sollte auch niemand die Bedeutung von Kompetenzen und Werten bei der Gestaltung unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung unterschätzen.

Neue Lebensumstände und Rahmenbedingungen

Die Herausforderungen werden weiterwachsen. Wir leben in einer Welt, in der Dinge, die leicht zu lernen und zu testen sind, auch leicht digitalisiert und automatisiert werden können. Die Welt belohnt uns nicht mehr allein für das, was wir wissen, denn Google weiß ja schon alles. Wir werden zunehmend nur noch belohnt für das, was wir mit dem, was wir wissen, tun. In der Zukunft geht es darum, die künstliche Intelligenz von Computern mit den kognitiven, sozialen und emotionalen Fähigkeiten und Werten von Menschen zu verknüpfen. Erfolg in der Bildung heißt heute nicht nur Sprachen, Mathematik oder Geschichte zu beherrschen, sondern bedeutet ebenso Identität, Handlungsfähigkeit und Sinnhaftigkeit zu entwickeln. Es geht darum, Neugier und Wissensdurst zu wecken, den Intellekt für Neues zu öffnen. Es geht um Empathie, um die Herzen öffnen zu können. Und es geht um den Mut und die Fähigkeit, unsere kognitiven, sozialen und emotionalen Ressourcen zu mobilisieren. Das werden auch unsere wirksamsten Eigenschaften gegen die größten Bedrohungen unserer Zeit sein:  Ignoranz (der verschlossene Verstand), Hass (das verschlossene Herz) und Angst (der Feind von Handlungsfähigkeit).

Komplexe Probleme erfordern umfassende Lösungen

Wir werden geboren mit dem Gefühl der Zugehörigkeit zu unserer Familie und anderen Menschen, mit denen wir Erfahrungen, kulturelle Normen sowie gemeinsame Ziele oder Bestrebungen teilen. Demgegenüber bedarf es steter bewusster Anstrengung, um die Art von sozialen Kompetenzen zu schaffen, mit denen die wir Erfahrungen und Ideen teilen und ein gemeinsames Verständnis zwischen Gruppen mit unterschiedlichen Erfahrungen und Interessen aufbauen können. Bei der Arbeit, zu Hause und in anderer Gemeinschaft werden Menschen eine große Bereitschaft und die Fähigkeit brauchen, die Perspektive von Menschen mit anderen sozialen oder kulturellen Hintergründen und Erfahrungen anzuhören und sie wertzuschätzen. Sie werden gefordert sein, diese anderen Perspektiven in ihr eigenes Denken und Entscheiden einzubeziehen. Dieses gegenseitige Verständnis ist wiederum Voraussetzung, um unseren Vertrauensradius gegenüber Fremden und Institutionen erweitern zu können.

Gesellschaften, deren Mitgliedern dieses erfolgreich gelingt, haben erwiesenermaßen die besseren Chancen, wirksame Lösungen für komplexe Probleme zu finden. Denn sie können vorbehaltslos auf die besten Talente von überall her zurückgreifen und ihre z. B. gesellschaftlichen, medizinischen und technischen Entwicklungen auf vielfältigen Perspektiven aufbauen. Aus dieser multiperspektivischen Zusammenarbeit entstehen wirkliche Innovationen.

Die Konsequenz von virtuellen Blasen

Die wachsende Komplexität des modernen Lebens bedeutet, dass auch die Lösungen für unsere Probleme komplex sein werden. In einer strukturell unausgeglichenen Welt bedeutet die Notwendigkeit, unterschiedliche Perspektiven und Interessen miteinander in Einklang zu bringen – in einem lokalen Umfeld, aber mit oft globalen Auswirkungen –, dass wir mit Spannungsfeldern und Dilemmata umgehen müssen. Es geht darum, das richtige Gleichgewicht zwischen konkurrierenden Forderungen zu finden – ob Gerechtigkeit und Freiheit, Autonomie und Gemeinschaft, Innovation und Kontinuität oder Effizienz und demokratischer Prozess. Dazu müssen wir in einer stärker integrierenden Weise denken; unsere Fähigkeit, mit Unwägbarkeiten und Mehrdeutigkeiten umzugehen, wird zum Schlüssel.

Die Algorithmen hinter sozialen Medien sortieren uns dagegen in Gruppen von Gleichgesinnten. Sie schaffen virtuelle Blasen, die unsere eigenen Ansichten verstärken, uns aber von divergierenden Perspektiven isolieren; sie homogenisieren Meinungen und polarisieren unsere Gesellschaften. Deshalb müssen die Bildungseinrichtungen von morgen Schüler und Schülerinnen befähigen, selbstständig zu denken und sich anderen mit Empathie zuzuwenden. Sie müssen sie unterstützen, einen starken Sinn für Wahrhaftigkeit und ethisches Handeln zu entwickeln, eine Sensibilität für die Erwartungen anderer an uns und ein Verständnis für die Grenzen individuellen und kollektiven Handelns aufzubauen. Die künstliche Intelligenz kann uns mit dem Wissen der Welt in unserem Handeln unterstützen, unsere Entscheidungen effizienter machen, aber uns nicht abnehmen zwischen richtig und falsch zu unterscheiden.

Werte als Bildungsziele

Das führt uns zu der schwierigsten Frage in der Bildung: Es geht um die Werteorientierung von Bildungsprozessen. Werte waren schon immer von zentraler Bedeutung für die Bildung. Unter den heutigen Rahmenbedingungen ist es aber an der Zeit, dass sie von impliziten Bestrebungen zu expliziten Bildungszielen und -praktiken werden, damit sie uns helfen, uns von situationsbedingten Wertesystemen – „Ich tue, was immer eine Situation mir erlaubt.“ – zu nachhaltigen Wertesystemen zu entwickeln, die Vertrauen und soziale Bindungen stärken.

Die Quintessenz ist, dass wir, wenn wir der technologischen Entwicklung voraus sein wollen, die Qualitäten finden und verfeinern müssen, die einzigartig für uns Menschen sind und die die Fähigkeiten unserer Computer ergänzen und nicht mit ihnen konkurrieren. Die Aufgabe von Bildung ist es, Menschen den Aufbau von Wissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und sozialen Kompetenzen zu ermöglichen. Sie soll keine Roboter zweiter Klasse erzeugen.

Nur, wie schaffen wir das alles? Politiker behaupten gerne, Bildung habe oberste Priorität. Ob sie diesem Anspruch in der Praxis gerecht werden, lässt sich anhand einiger einfacher Fragen klären. Zum Beispiel: Welchen gesellschaftlichen Status hat der Beruf Lehrkraft? Ist das Abschneiden in der Bundesliga oder bei PISA wichtiger?

In Japan oder China investieren Eltern und der Staat sehr hohe Mittel in die Bildung ihrer Kinder und damit in die Zukunft ihres Landes.  In Deutschland haben wir das Geld unserer Kinder bereits für unseren eigenen Konsum ausgegeben. Das müssen wir ändern.

Schulsysteme und Schulen für die Zukunft

Auf die Zukunft ausgerichtete Schulsysteme begegnen den vielfältigen Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen in der Regel mit differenzierten pädagogischen Ansätzen – ohne Abstriche an die Leistungserwartungen. Dort ist man sich bewusst, dass alle Schülerinnen und Schüler außergewöhnliche Talente haben können, die es zu finden und zu fördern gilt.

Nirgendwo ist ein Schulsystem besser als seine Lehrkräfte. Auf die Zukunft ausgerichtete Schulsysteme wählen und bilden ihre Lehrkräfte deshalb sorgfältig aus. Sie sind von administrativer Kontrolle und Rechenschaftslegung zu professionellen Formen der Arbeitsorganisation übergegangen. Sie ermutigen ihre Lehrkräfte dazu, innovativ zu denken und zu handeln, ihre eigenen Fähigkeiten und die ihrer Kollegen weiter zu entwickeln sowie fortlaufend an beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen teilzunehmen, die ihre Unterrichtspraxis verbessern.

Die Verwaltungseinheiten leistungsstarker Schulsysteme richten ihren Blick weniger nach oben. Sie richten ihren Blick nach außen auf die Kolleginnen und Kollegen sowie Konzepte der Schulen nebenan und auf außerschulische Bildungsorte, um eine Kultur der Zusammenarbeit und starke Innovationsnetzwerke zu schaffen. Außerdem setzen sie neue Technologien ein, um Lernen wirksam zu individualisieren und zeitgemäße Lernumgebungen zu schaffen, die die Neugier und Motivation der Schülerinnen und Schüler unterstützen.

Auf die Zukunft ausgerichtete Schulsysteme bieten allen Schülerinnen und Schülern eine qualitativ hochwertige Bildung, sodass jeder exzellenten Unterricht genießt. Hierfür gewinnen sie die besten Schulleitungen für die schwierigsten Schulen und die talentiertesten Lehrkräfte für Schüler und Schülerinnen mit herausfordernden Hintergründen.

Schule muss auf Lebenswirklichkeit vorbereiten

In deutschen Schulen dominiert noch zu oft das Trennende – Lehrkräfte und Lehrinhalte werden auf Fächer aufgeteilt, die Lernenden nach ihren künftigen Berufsaussichten getrennt. In den Schulen bleiben die Schülerinnen und Schüler unter sich und der Rest der Welt außen vor. Es mangelt an Zusammenarbeit mit den Familien. Partnerschaften mit anderen Schulen werden oft mit Vorbehalten gesehen, Zusammenarbeit ist im Zeitbudget nicht vorgesehen.

Unterricht muss zukünftig stärker projektorientiert sein und Erfahrungen vermitteln, die Schülerinnen und Schülern das fächerübergreifende Denken erleichtern, um kreativ an komplexen Problemen arbeiten zu können. Die Schule der Zukunft basiert auf Partnerschaft: Lehrkräfte und Schüler und Schülerinnen werden, auch im Bewusstsein der Bedeutung des multiperspektivischen Denkens und Handelns, gleichermaßen als Wissensquelle anerkannt.

Moderne Lernumgebungen müssen den Blick nach außen auf die Lebenswelt ihrer Schülerinnen und Schüler richten. Sie schaffen Synergien mit außerschulischen Lernorten und öffnen neue Wege, um das berufliche, soziale und kulturelle Kapital zu stärken. Sie nutzen das Potenzial neuer Technologien kreativ, um die Lernenden auf dynamische Weise miteinander zu verbinden und neue Lernwelten zu schaffen.

Die Zukunft ist mit denen, die offen für die Welt sind und bereit, von und mit den leistungsfähigsten Bildungssystemen der Welt zu lernen. Die Herausforderungen sind gewaltig, aber wir haben die Fähigkeit zu gestalten. Die Aufgabe ist nicht, das Unmögliche möglich zu machen, sondern das Mögliche zu realisieren.