Eine Musikwerkstatt öffnet nicht nur einen spannenden und kreativen Erfahrungsraum für junge Menschen – sie vermittelt ihnen auf praktische Weise und auf dem Weg des gemeinsamen Musizierens auch ganz konkrete Zukunftskompetenzen, die weit über den musikalisch-kulturellen Horizont hinausweisen. Ein Bericht aus der Praxis eines musikpädagogischen Angebots in Zusammenarbeit u. a. mit Grundschulen, das Kinder begeistert und sie Selbstwirksamkeit und Gemeinschaft erleben lässt.

Maik horcht auf. Der achtjährige Grundschüler aus Wismar lacht. Er hält seine selbstgebaute Kalimba ans Ohr – die leisen Töne der gezupften Eisstiele, die er eben noch mit viel Eifer und noch mehr Leim auf einem Kantholz montiert hat, klingen nun plötzlich viel lauter. Ich zeige ihm, dass sein Instrument auf seinem Tisch aufgelegt noch besser klingt, und sofort bin ich umgeben von einer Traube von Kindern, die gemeinsam ein kleines Regentropfen-Prelude im Klassenzimmer aufführen. 

Musik begleitet uns in jedem Alter, das ganze Leben lang. Oft nehmen wir sie bewusst wahr, zu oft lassen wir im heutigen multimedialen Zeitalter aber auch Musik nur noch gedankenlos auf uns wirken. Doch was steckt eigentlich hinter Musik? Wie entsteht Klang? Und wie können wir junge Menschen dazu befähigen, sich tiefgründig mit Musik auseinanderzusetzen und ihre Wirkung zu erfahren? Die Kooperation mit einer Mobilen Musikwerkstatt (kurz: MMW) öffnet hier nicht nur einen spannenden und kreativen Erfahrungsraum für junge Menschen – sie vermittelt den Kindern auf praktische Weise und auf dem Weg des gemeinsamen Musizierens ganz konkrete Zukunftskompetenzen, die weit über den musikalisch-kulturellen Horizont hinausreichen. Darüber hinaus setzt die MMW mit ihrem konsequent analogen pädagogischen Ansatz einen willkommenen Kontrapunkt zum Digital-Diskurs an Schulen und anderen Bildungsinstitutionen in Deutschland. Das Hantieren mit Werkzeugen und das handwerkliche Bearbeiten von Materialien schult die haptischen Sinne und die Fingerfertigkeit der Schüler:innen. Sie machen Erfahrungen, die in ihrem Alltag heute allzu oft fehlen, die aber benötigt werden, um sich z. B. die Schuhsenkel binden zu können.

Die Idee der MMW ist nicht neu – der Bau einfacher Klangerzeuger mit Kindern gehört schon lange zum Repertoire besonders engagierter Musiklehrer:innen. Als pädagogisches Projekt wurde sie aber erst 2008 vom Aktionskünstler und Hochschullehrer Professor Peter Ausländer ins Leben gerufen und bis 2021 von der Bertelsmann Stiftung unterstützt. Ein Verbund von deutschlandweiten Regionalgruppen ist aus dieser Initiative hervorgegangen (näheres dazu unter www.mobile-musikwerkstatt.de), als Projektleiter bei der jungen Initiative kultursegel gGmbH bin ich mit der MMW im Mecklenburg-Vorpommern unterwegs.

Unser Angebot in Wismar traf auf offene Ohren: Im Rahmen einiger Projekttage an einer Grundschule bauen wir nun mit den Kindern einfache Musikinstrumente aus Alltagsmaterialien und erfinden und erforschen darauf spielerisch Musik. Das Erfolgsgeheimnis der Mobilen Musikwerkstatt verbirgt sich gerade in dieser einzigartigen Verknüpfung von handwerklicher Tätigkeit, sinnlich-ästhetischer Erfahrung und musikalischer Experimentierfreude. Hier lernen Kinder zunächst, mit Werkzeug umzugehen. In Kleingruppen stehen sie an den Werkbänken und sägen mit Feuereifer an langen Holzlatten. Daraus sollen später Gitarren entstehen, wir wollen zusammen eine Filmmusik zu einem kurzen Animationsfilm erfinden. Am Boden sammelt sich Holzstaub. Und Martha ist komplett aus dem Häuschen: Sie hat einen Tropfen Baumharz entdeckt und hält ihn mir zum Schnuppern unter die Nase.

Die handwerklichen Fertigkeiten der Schüler:innen unterscheiden sich deutlich. Während einige Kinder souverän mit Fuchsschwand und Sägelade hantieren, haben andere Angst sich zu verletzen. Maik erzählt mir, er habe schon oft mit seinem Vater in der Garage zusammengearbeitet. Ich bitte ihn, Martha beim Festspannen der Sägelade behilflich zu sein, und werde überrascht: Maik, der von seiner Lehrkraft als ein eher auffälliger Schüler beschrieben wird, der gerne dazwischenrede, hat plötzlich eine Aufgabe und lässt nicht locker. Zusammen lösen sie die kniffelige Aufgabe schließlich.

Die Konzentration, mit der die Kinder an ihren Instrumenten bauen, ist förmlich zu spüren – aber kaum zu hören. In kürzester Zeit sind die Bauteile (ein Luftballon, eine Hand voll Reißzwecken, ein paar Gummibänder und das Kantholz) montiert und wir versuchen ein paar erste Töne.

Bei unseren Projekten mit der MMW ermöglichen wir den teilnehmenden Kindern stets einen niederschwelligen Zugang zur Musik. Musikspezifische Vorbildung wie Notenlesen oder das Spielen eines Instruments sind für das Mitmachen nicht erforderlich. Nicht die Reproduktion von bereits erlerntem Wissen steht im Fokus, sondern die Entfaltung und Entwicklung der individuellen Kreativität und des eigenen musikalisch-kulturellen Ausdrucksvermögens. Unser Instrumentarium aus selbstgebauten Instrumenten wie Kleiderbügel-Harfen, Maulschlüssel-Metallophonen, Eisstiel-Kalimbas und Gartenschlauch-Hörnern ermöglicht es uns als Pädagog:innen, geführte Improvisationen als ein zentrales Element der MMW zu etablieren. Musikalische Improvisation hat die besondere Qualität, dass sich die Kinder individuell in ihr ausdrücken und spontan auf Ereignisse oder Vorgaben eingehen können. Dabei ist nicht entscheidend, ob die spontan improvisierte Musik besonders außergewöhnlich ist, sondern welche Qualität der musikalische Ausdruck und die Interaktion zwischen den Schüler:innen haben.

Besonders eindrücklich erlebbar wurde das während einer mehrtägigen musikalisch-kulturellen Klassenfahrt, die unser Team begleitet hat: Mit Schüler:innen einer Schweriner Grundschule hatten wir in den ersten Tagen einen Klangkubus gestaltet, ein würfelförmiges Balkengerüst, an dem wir alle unsere Selbstbau-Instrumente befestigt hatten. So war eine Klangskulptur entstanden, die von den Kindern in unterschiedlichen Kontexten bespielt werden konnte. Nach der Mittagspause eroberten sich die Kinder spontan diesen Klangwürfel. Ohne, dass ein Erwachsener sie angestiftet hätte, fingen sie an, mit Musik zu spielen. Sie übernahmen Verantwortung für die Instrumente, organisierten ihr Zusammenspiel, konnten ihre musikalischen Interessen verwirklichen, gaben „Solisten“ Raum und machten nicht nur Klangerfahrungen, sondern erfuhren auch, wie Musikmachen im Team funktionieren kann.

Sind wir mit der MMW in Kindergärten zu Besuch, schaue ich gern einmal ins Bücherregal. In den allermeisten Fällen stehen dort viele Bücher mit Titeln wie „Meine Umwelt und ich“, „Unterwegs zu den Sternen“, „Was lebt im Gemüsebeet“ und „Ferien auf dem Bauernhof“. Dieser Fokus auf naturwissenschaftliche Bildung macht den Einstieg ins gemeinsame Musizieren nicht selbstverständlich. Aber die sinnlich-ästhetische Erfahrung mit Tönen, Klängen, Rhythmen, Geräuschen und Resonanzen wirkt unmittelbar und tiefgreifend – und stillt ein wesentliches Grundbedürfnis der Kinder. Daran ändert sich auch wenig, wenn wir mit Kindern im Grundschulalter oder sogar mit Jugendlichen arbeiten. Etwas mit eigenen Händen zu schaffen, dann selbst zum Klingen zu bringen und schließlich im gemeinsamen Musizieren zur Geltung zu bringen verschafft Heranwachsenden ein ganzheitliches Erlebnis von Selbstwirksamkeit und Selbstbewusstsein.

Weil die Instrumente selbstgebaut sind, entwickeln die Kinder ein besonderes Verhältnis zu ihnen und es fällt ihnen oft leichter, sich auf eine musikalische Gruppenimprovisation einzulassen. Hierfür sind plötzlich andere Fähigkeiten gefragt: aufeinander hören, ausreden lassen, gemeinsam Spielregeln entwickeln und einfordern, kreativ nach neuen Möglichkeiten suchen, andere Standpunkte tolerieren und gelten lassen, für die eigene Idee, den eigenen Vorschlag eintreten, die gemeinsame künstlerische Leistung reflektieren lernen, Feedback geben, sich unterordnen. Das rückt das gemeinsame Musizieren in die Nähe demokratischer Bildung.

Auf den ersten Blick wirkt der musikpädagogisch-handwerkliche Ansatz der MMW schnell aus der Zeit gefallen und seltsam fremd in einer Welt, die sich unter dem Einfluss des Internets, der sozialen Medien und der digitalen Endgeräte so grundlegend wandelt und damit menschliche Kommunikation und gesellschaftlichen Zusammenhalt nachhaltig verändert. Doch auf den zweiten Blick wird klar: Es braucht beides. Um auch in Zukunft kompetent auf eine hochkomplexe Umwelt reagieren zu können und sie aktiv zu gestalten, ist ein hohes Maß an Selbstorganisation, Konzentrationsfähigkeit, Gestaltungswillen, kreativer Neugier und Experimentierfreude erforderlich. Beim Bauen einfacher Instrumente werden diese Fähigkeiten ganz nebenbei gefördert, und das pädagogische Konzept der Mobilen Musikwerkstatt wird damit selbst zu einem Instrument für individuelles Wachstum und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Maik ist das erst einmal egal: Er fragt, wann ich wiederkomme.