„At rejse er at leve“ – Reisen ist Leben, so lautet ein berühmtes Zitat von Hans Christian Andersen, dem bekanntesten Dichter und Schriftsteller Dänemarks. Ein Reisender entdeckt neue Länder, sammelt Erfahrungen und erweitert seinen Horizont. Das Reisen zu anderen Orten ermöglicht die Welt neu wahrzunehmen und in der Begegnung mit der „Fremde“ reflektieren wir über die hiesigen Verhältnisse, wir denken über das „Eigene“ nach. Im Forum Bildung Digitalisierung haben wir es uns unter anderem zur Aufgabe gemacht, gelungene Praxis in die Breite zu tragen – von uns zuhause in Deutschland, aber auch internationale Best Practices. Drei Bildungsreisen haben wir bislang mit Vertreter:innen aus Politik und Zivilgesellschaft unternommen und waren in digitalen Vorreiterländern wie Estland, den Niederlanden oder zuletzt in Dänemark. Dabei treibt uns neben der Neugier auf andere Bildungssysteme vor allem auch das Ziel an, neue und inspirierende Beispiele und Erkenntnisse aus anderen Ländern zu gewinnen und den Perspektivwechsel zu wagen.

Ausgangspunkt dieses Blogbeitrags bildet unsere Bildungsreise nach Dänemark im September 2021. Im Vordergrund steht dabei nicht der ausschließlich bewundernde und manchmal auch etwas verklärte Blick auf das skandinavische Land. Vielmehr geht es mir darum, den Akteuren im deutschen Bildungssystem Mut zu machen, das Bestehende zu reflektieren und zu würdigen – aber auch kritisch zu hinterfragen und neue Ideen für das System Schule zu entwickeln und unbetretene Wege mit den damit einhergehenden Konsequenzen einzuschlagen.

Die Corona-Pandemie als Wegbereiter für Innovationen im System Schule

Die Corona-Pandemie hat den Transformationsprozess im schulischen Bildungsbereich beschleunigt. Wir haben jetzt die Möglichkeit, Schule und Unterricht weiterzudenken und das Momentum für systemische Veränderungen zu nutzen. Seit Beginn der Pandemie haben sich viele Schulen, Bildungsregionen und Länder hierzulande auf die Reise gemacht, kreative digitale Lösungen für den Unterricht sowie zukunftsfähige Konzepte für das digital gestützte Lehren und Lernen entwickelt. Auf der Reise zur digitalen Schulentwicklung müssen wir alle Schulen mitnehmen und unterstützen, unabhängig davon, ob sie erst am Startpunkt, mitten auf dem Weg oder schon am Ziel der Reise angelangt sind. Es geht darum, den Schwung auch in post-pandemische Zeiten mitzunehmen, auch wenn der Krisenmodus aktuell noch andauert: Die vierte Welle hat uns fest im Griff und fordert unsere Schulen noch mehr als ohnehin schon. Das unermüdliche Engagement der Schulleitungen, Lehrkräfte und der pädagogischen Mitarbeiter:innen mit dieser herausfordernden Situation umzugehen, kann gar nicht genug gewürdigt werden.

Offenheit im System und eine ordentliche Portion Mut und Pragmatismus

Um das System Schule in der Kultur der Digitalität ganzheitlich zu entwickeln, braucht es eine veränderte Haltung und ein offenes Mindset. Wenn wir den Blick auf Dänemark richten, sehen wir, dass unser Nachbarland mit Blick auf die Digitalisierung im schulischen Bildungsbereich zu den Pionieren in Europa gehört. Bereits vor 20 Jahren hat sich Dänemark auf den Weg des digitalen Wandels gemacht. Bei unserer Bildungsreise wollten wir uns auf der einen Seite ein Bild über die digitale Ausstattung der dänischen Schulen machen und über die Entwicklung guten Unterrichts austauschen. Auf der anderen Seite wollten wir erfahren, wie Schulentwicklung auf der strukturellen Ebene von Kommunen und staatlichen Akteuren durch gute und passgenaue Begleitung vorangetrieben werden kann. Gemeinsam mit Mitgliedern der Ständigen Konferenz der Kultusminister (KMK) und Vertreter:innen der Mitgliedsstiftungen des Forum Bildung Digitalisierung bereisten wir die Kommune Esbjerg sowie die Stadt Herning, um uns vor Ort mit Akteuren aus der Schulpraxis, Bildungsverwaltung und Lehrkräftebildung auszutauschen und von guten Beispielen zu lernen.

Doch was ist es, was in dem skandinavischen Land anders läuft als bei uns? Es ist vor allem der Mut, sich schwierigen Fragen zu stellen, Bewährtes auf den Prüfstand zu stellen und die Bereitschaft zu experimentieren. In Dänemark wurde viel ausprobiert, einiges auch wieder verworfen – und damit auch sehr viel Geld verbrannt. Letzteres wurde in Kauf genommen, denn Fehler gehören dazu, wenn man innovativ sein will. Diese offene Haltung wünsche ich mir auch für das deutsche Schulsystem: In Dänemark haben wir einen Ausdruck, der verwendet wird, wenn jemand einem Thema eher mit Vorbehalten begegnet. Dann sagen wir: „Zieh bitte die Ja-Mütze an“.
In Deutschland müssen wir die bürokratischen Bedenken ein bisschen beiseitelegen und uns Neues trauen! Die Leichtigkeit, Dinge anzugehen, auch wenn man manchmal nicht weiß, wie man zum Reiseziel kommt, denn: Der Weg ist das Ziel. Um im Bild des Reisens zu bleiben, auch ein:e Pfadfinder:in trägt auf den Exkursionen stets einen Kompass bei sich und nimmt Korrekturanpassungen vor, sollte er:sie vom Weg abkommen. Dieses Bild kann man gut auf die digitale Schulentwicklung übertragen: Gelungene Schulentwicklung ist ganzheitlich und agil zu denken. Um echte Veränderungen in Gang zu setzen, braucht es Überzeugung, Motivation, aber auch Ressourcen wie Zeit und Räume, in denen die Akteure mit Forschergeist, Mut und Pragmatismus experimentieren dürfen. So etwas kann aus den Schulen, den Schulleitungen und Kollegien selbst entstehen. Es braucht aber auch Impulse vonseiten der Politik. Als Praxisbeispiel für solche Freiräume sind die Schulen der Gemeinde Esbjerg zu nennen, die wir während unserer Bildungsreise nach Dänemark näher erkundet haben. Die Kommune ist Teil eines Schulversuches, dem sogenannten Freiheits-Modellversuch „Velfærdsaftaler“ (Deutsch: Wohlfahrtsstaatvereinbarung), bei dem insgesamt vier Kommunen für zunächst drei Jahre von kommunalen und staatlichen Vorgaben befreit sind. So ein Freiheits-Modellversuch ist deshalb möglich, weil ein großes wechselseitiges Vertrauen zwischen den einzelnen Steuerungsebenen herrscht, dass alle Akteure richtig handeln.

Was braucht es für das Gelingen der digitalen Transformation in der schulischen Bildung?

Die digitale Transformation an den Schulen bekommt niemand allein hin und sie gelingt besser, wenn wir auch neue Berufsbilder entwickeln, die die Transformation vor Ort eng begleiten und in das Schulkollegium integrieren. In Dänemark gibt es an den Schulen ein Team von qualifizierten Lehrkräften, die den Kolleg:innen vor Ort als Berater:innen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Dies gilt nicht nur für den Bereich der Digitalisierung und den lernförderlichen Umgang mit Endgeräten, Apps oder Lernplattformen, sondern auch im Bereich der Inklusion und Sonderpädagogik. In der Praxis hat sich das sehr bewährt.

Die Schaffung dieser neuen Berufsbilder und damit auch eine Förderung von multiprofessionellen Teams wünsche ich mir für die Schulen in Deutschland. In Dänemark hat man diese neuen Funktionsstellen in sogenannten Pädagogischen Lernzentren verankert. Ab 2011 wurde die Einrichtung dieser lokalen Bündelung in Kompetenzzentren von Seiten des Staates gefördert. Ein Beispiel dafür, wie es gelingt, die Potenziale digitaler Medien und den Kompetenzaufbau noch stärker in das Profil der Schule zu integrieren, hat uns Hanne Høj, Schulleiterin der Ikast Østre Skole, auf der Bildungsreise in Herning berichtet. Gemeinsam mit engagierten Lehrkräften aus ihrem Kollegium und in enger Kooperation mit dem Center for Undervisningsmidler (CFU) am staatlichen VIA University College, das sich um die Aus-, Fort- und Weiterbildung des pädagogischen Personals kümmert, hat Hanne an ihrer Schule einen umfassenden Veränderungsprozess angestoßen und zeigt damit, wie wichtig es ist, als Schulleitung die entsprechenden Entwicklungsräume für das eigene Kollegium zu schaffen. Mit der Implementierung eines Pädagogischen Lernzentrums an ihrer Schule hat sie einen partizipativen Schulentwicklungsprozess angestoßen, bei dem in der ganzen Schule neue Unterrichtsformate eingeführt wurden, in denen 21st Century Skills sowie eine zielgerichtete Nutzung digitaler Lehr- und Lernmaterialien von der ersten bis zur zehnten Klasse zum Einsatz kommen. Die dänische Schulleiterin hat mit den Berater:innen aus dem Pädagogischen Lernzentrum ein Unterstützungsangebot für das Kollegium eingerichtet, welches auch Teamteaching begünstigt, wodurch interne Fortbildungen ebenso wie eine Kultur des gemeinsamen Lernens zum Alltag gehören.

Das Ziel der Reise fest vor Augen

Das Ziel der Reise sollten wir stets fest vor Augen zu haben: Es geht darum, den Schüler:innen das bestmögliche Lernen in einer digitalen Welt zu ermöglichen. Lehrkräfte und Schulleitungen nehmen dafür eine Schlüsselrolle ein. Dafür spielt eine Lehrkräftebildung, in der fachdidaktische Methoden und digital gestützte Anwendungen noch mehr miteinander verzahnt werden, eine bedeutende Rolle. In Fachdidaktik-Seminaren an den Universitäten sollte die Frage „Wie würdest du den Fachinhalt digital vermitteln?“ zum Standardrepertoire der Dozierenden gehören. In Dänemark ist das schon lange Usus! Obwohl an vielen Universitäten in den Fachdidaktiken bereits pädagogisch gut durchdachte Konzepte zum Einsatz digitaler Medien in der Unterrichtspraxis in die Lehre integriert werden, muss dies noch zum Standard in den Curricula der Hochschulen werden. Und es reicht nicht, dies nur in der Ausbildung zu verankern, Lehrkräfte müssen sich auch on-the-job weiterbilden. Die im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung abermals angedachten Kompetenzzentren für digitales und digital gestütztes Unterrichten in Schule und Weiterbildung sowie die pädagogischen Landesinstitute könnten dabei eine wichtige Rolle einnehmen. Auch die Zukunftskompetenzen, die wir in Dänemark als „Standardprogramm“ erlebt haben, sollten durch innovative Unterrichtsansätze stärker berücksichtigt werden. Design Thinking und Deeper Learning wären hier als zukunftsweisende Konzepte zu nennen. Kollaboratives Arbeiten in fächerübergreifenden Projekten, selbstgesteuertes Lernen – all das sollte mehr in den Vordergrund rücken, denn im Mittelpunkt sollten die Schüler:innen und deren individualisierte Lernprozesse stehen.

Die Corona-Pandemie hat uns gezeigt, dass man nicht nur im Klassenzimmer gut lernen und miteinander arbeiten kann. Die hybriden Formen des Unterrichts bringen zahlreiche Vorteile mit sich. So kann manch ein:e Schüler:in auch gut an außerschulischen Lernorten wie Museen lernen. Gleichzeitig lernen andere Schüler:innen vielleicht besser im Klassenzimmer. Kollaborativ können sie ortsunabhängig an demselben Projekt arbeiten und sind dabei aus meiner Erfahrung viel motivierter und lernen erfolgreicher.
Schlussendlich geht es darum, dass die Schüler:innen in einer Schule, in der digitale Medien zum Alltag gehören, den Lernstoff nicht bloß konsumieren, sondern zu Produzent:innen ihres eigenen Wissens werden. Sie sollen dazu befähigt werden, das Steuer selbst in der Hand zu halten, um sich auf ihrer Lebensreise souverän durch eine vielschichtige, immer komplexer werdende Welt zu navigieren. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es auch Anstrengungen aufseiten von Politik und Verwaltung, die gute Rahmenbedingungen für unsere Schulen schaffen müssen. Bei der digitalen Schulentwicklung brauchen Schulen zwar auf der einen Seite mehr Freiräume, auf der anderen Seite auch auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Unterstützungsangebote. Schulaufsichten und Schulträger nehmen hierbei eine wichtige Rolle ein. Dafür braucht es auch ein Bewusstsein und Einfühlungsvermögen für die unterschiedlichen Voraussetzungen und heterogenen Rahmenbedingungen der jeweiligen Einzelschulen. Denn, und das haben wir in Dänemark auch gesehen, vor Ort in den Kommunen kennen die Verantwortlichen ihre Schulen immer noch am besten und können entsprechend handeln.