Als die Schulen in Deutschland vor den Osterferien 2020 in eine Phase der Schulschließungen gingen, hofften wohl die meisten Eltern, Lehrkräfte und Schulleitungen, dass nach den Osterferien die Pandemie beendet und eine Rückkehr zu einem normalen Unterricht möglich sein würde. Schülerinnen und Schüler waren von der Aussicht auf immerwährende Ferien  zu diesem Zeitpunkt wohl immer noch eher beglückt.  Wie wir im Rückblick wissen, war dem nicht so. Stattdessen dauerten die Schulschließungen bis weit in den Sommer an und gingen dann über in unterschiedlich gestaltete Wechselmodelle. Die Phasen des Distanzunterrichts in dieser Zeit waren gekennzeichnet durch einen großen Digitalisierungsschub: Schulen verlagerten das Unterrichtsgeschehen in den digitalen Raum, das Klassenzimmer wurde durch die Videokonferenz substituiert.

Ich begleite seit langem Schulen und andere Bildungseinrichtungen bei der Gestaltung von Veränderungsprozessen für zeitgemässe Bildungsgestaltung in einer digitalen Welt. So habe ich auch in den Jahren der Pandemie in Workshops, Fortbildungstagen, lokalen und translokalen Netzwerken sowie kontinuierlichen Prozessbegleitungen viele Erfahrungen und Entwicklungen beobachten, reflektieren und verstärken können. Die folgenden Überlegungen basieren auf den vielfältigen Begegnungen in und mit Schulen in pandemischer Zeit.

Ich war überrascht, dass bereits kurz nach den Osterferien sowohl aus der Schulpraxis als auch aus der Wissenschaft erste Analysen über das Lernen in und damit auch nach der Pandemie veröffentlicht wurden. Ich war skeptisch, ob wir das Ende der Pandemie wirklich bereits erreicht hätten und ich fragte mich, ob es schon an der Zeit wäre, ein Resümee zu ziehen. Die Höhen und Tiefen der Folgezeit fand ich dann noch einmal spannend zu beobachten. Das Digitale erwies sich an vielen Stellen doch noch als sehr fragil. Im Wechselunterricht gerieten viele Lernende, die nicht in den Schulen anwesend waren, aus dem Blick. In den Phasen der Präsenz in der Schule wurden die Unzulänglichkeiten der Ausstattung und der didaktischen Kompetenzen sichtbar, und die Freude, sich wieder zu sehen, verdrängte viele neue Ideen wieder. Auf meine Frage an Schülerinnen und Schüler, welchen Unterricht sie sich angesichts ihrer Erfahrungen wünschen würden – kam im Prinzip immer die gleiche, sehr eindeutige Antwort. Felix aus einer 8. Klasse in Norddeutschland fasst sie gut zusammen: “Am liebsten hätte ich einen guten Wechselunterricht. Kleine Gruppen in der Schule. Keine starren A- und B-Wochen. Und wenn ich nicht in der Schule bin, dann bin ich trotzdem nicht vergessen.”

Nach den Sommerferien 2021 fand in vielen Schulen, die wir im learninglab begleiten, eine Veränderung der Fragestellung statt. Es ging nun nicht mehr nur darum zu überlegen, wie können wir die aktuelle Notsituation möglichst gut bewältigen. Stattdessen rückten immer  häufiger Überlegungen danach ins Zentrum, was nach der Pandemie übernommen und weiterentwickelt werden kann. Wie zahlen die Entwicklungen aus der Coronazeit auf einen zukunftsfähigen Unterricht ein? Noch ist es für mich zu früh, hier abschließende Antworten zu geben. Aber es ist an der Zeit, sich auf vielerlei Ebenen Gedanken dazu zu machen – jede Schule für sich selbst, jeder Träger für seine Schulen und jedes System im Ganzen. 

Fragen nach Raum und Zeit

Sind der Klassenraum und die feste Unterrichtsstunde, unabhängig davon wie viele Minuten sie hat, die geeigneten Rahmenbedingungen für das Lernen in der Zukunft? Oder könnte man aus dem Wechselunterricht lernen, dass es hilfreich ist, nur mit einem Teil einer Lerngruppe im Klassenzimmer zu sein, während der andere Teil einer Lerngruppe selbstständig arbeitet? Könnten die Gruppen dabei nicht auch immer wieder neu zusammengesetzt werden: Wer braucht aktuell welchen Input? Wann können die Leistungsstärkeren gefordert und wann andere gefördert werden? Wann können auch Lernende aus beiden Gruppen von der Begegnung profitieren?

Fragen nach Freiheitsgraden in der Selbstregulierung von Lernen 

Irritiert berichteten einige Lehrkräfte in gemeinsamen Reflektionen, dass in Zeiten des Distanzunterrichts Lernende ihre Arbeitsergebnisse spät in der Nacht auf die Lernplattform geladen haben. Gehören die nicht um 23:00, 24:00 Uhr oder später ins Bett? In der Diskussion zwischen Lehrkräften und Lernenden und im Austausch zwischen Lehrkräften wächst die Erkenntnis: Vielleicht passt das späte Arbeiten auch besser zum Biorhythmus von Jugendlichen als die erste Stunde um 7:40 Uhr. Und wenn dem so ist, sollte man dann nicht auch den Lernenden mehr Zeit zur freien Einteilung überlassen? 

Gleichwohl: Nicht allen Lernenden gelingt diese anspruchsvolle Selbststeuerung von Beginn an. Auch das ist eine Erkenntnis der Pandemie: Viele gingen verloren, waren nicht mehr erreichbar. Selbststeuerung ist wohl keine angeborene Gabe, sie kann nur – schrittweise – erlernt werden. Eine Idee: Kann der Grad der Freiheit, den Lernende bekommen, nicht langsam anwachsen? Stundenweise und räumlich: Lernen im Schulgebäude, Lernen an einem verabredeten Ort? Lernen, wann und wo die oder der Lernende möchte? Zum Teil knüpfen Schulen diese zusätzlichen Rechte nicht nur an das verantwortungsvolle Arbeiten und Lernen, sondern auch an das Engagement für die Schule und für andere Lernende, die als Paten begleitet werden. Eine Schule geht sogar soweit, die Grade der Freiheit durch die Klassengemeinschaft und nicht durch eine Lehrkraft vergeben zu lassen. Mitschüler:innen überlegen: Ist jemand “fit” alleine zu lernen – und trauen wir ihm zu, seine Erfahrungen mit uns zu teilen. 

Nachdenklich stimmt eine Frage einer Schülerin: Was sagt es eigentlich aus, wenn die Möglichkeit außerhalb der Schule zu lernen ein Freiheitsgrad ist?

Fragen nach dem Feedback und nach den Prüfungen

“Wie soll das gehen?”, fragten Lehrkräfte in den ersten Lockdowns, als sie aufgefordert waren, allen Lernenden Feedback zu deren Lernprodukten aus dem Homeoffice zu geben. “Wie sollen wir das leisten?” Aber auch nachdenkliche Töne habe ich gehört. Ein Schulleiter berichtet in einer Lerngemeinschaft aus Lehrkräften einer Kommune im Ruhrgebiet, dass ihm die Dankbarkeit von Lernenden für das Feedback, für das er sich im Homeoffice die Zeit genommen hat, gezeigt hat, dass er in der Präsenz vor der Pandemie viel zu oft nur die ganze Klasse und zu selten den einzelnen Menschen gesehen hat. In der Gruppe haben er und einige andere Lehrkräfte dann überlegt: Wie viel Feedback muss sein? Wieviel Feedback ist möglich?  Fragen, die in der Gruppe diskutiert wurden: Muss Feedback immer eine Korrektur einer Arbeit bedeuten? Ist die wertschätzende Kenntnisnahme auch ein Feedback? Muss Feedback für alle Lernenden immer gleich sein? Und bedarf es nicht auch eines Feedbacks in die andere Richtung – von den Lernenden an die Lehrenden?

Weitergedacht stellte sich den Lehrkräften die Frage nach geeigneten Prüfungsformaten – mehr noch aber die Frage nach der Freiheit der Schule, diese Formate zu verändern. Denn die Möglichkeit, Noten anders als durch Klassenarbeiten zu generieren, war in vielen Ländern nur in einer kurzen Phase gegeben. Die Ministerien vollzogen den Weg zurück zum gefühlten Normal schnell wieder.

Fragen nach der Steuerung

Denn auch das ist eine Frage, die viele Schulen bewegt: Immer wieder, so ist die eigene Wahrnehmung, die Schulleitungen und Lehrkräfte mir berichten, haben die Schulen auf wechselnde Anforderungen der Pandemie, mehr noch aber auf wechselnde Anforderungen der Bildungsadministration reagiert. Distanzlernkonzepte mussten entwickelt und genehmigt werden, nur damit der gleiche Prozess erneut in Gang gesetzt wurde für Wechselunterrichtskonzepte, die dann von (vorübergehend) wieder einsetzendem Präsenzunterricht überflüssig gemacht wurden. Selbstwirksamkeit der Akteure in Schulen wurde in der Pandemie immer wieder durch den Versuch einer kurzfristigen und kleinteiligen Steuerung durch die Ministerien unterwandert. Die Tatsache, dass die Kommunikation dabei oft erst über die Presse lief, hat für viele Schulleitungen und Lehrkräfte nicht unbedingt dazu beigetragen, eigenständige Prozesse mutig voranzutreiben. Aber da ist auch die Schulleiterin, die in einer Veranstaltungspause in der Videokonferenz lächelnd anmerkt: “Naja, es ist ja auch leichter, aufs Ministerium zu schimpfen, als als Schulleiterin die Verantwortung selbst zu tragen. Wenn wir alle die Freiheit bekämen, die wir uns eben gewünscht haben, wären wir vielleicht auch überfordert.”

Fragen nach dem Vertrauen

Und eine Erkenntnis einer Schulleiterin in derselben Pause: “Ist es nicht so: So, wie Schulaufsichten und Ministerien mit uns arbeiten, so, wie wir als Schulleitungen mit unserem Kollegium arbeiten, so handeln auch die Lehrkräfte in den Klassen.” Daraus leitete sie dann die Frage ab, ob es nicht auf allen Ebenen mehr Vertrauen in die Bereitschaft aller Akteure brauche. Vertrauen in die Lernenden, lernen zu wollen, wenn wir ihnen die Freiheit geben. Vertrauen in die Lehrkräfte, Verantwortung für die Lernprozesse in ihren Lerngruppen zu übernehmen. Vertrauen in die Schulleitungen, Schule vor Ort gut gestalten zu können und zu wollen. Als Frage formuliert: Steuern wir Bildungsprozesse nicht viel mehr über unser Handeln und das Vorbild, das wir damit geben, als über die Regelungen und Erlasse, die wir aufstellen? 

Fragen nach dem Digitalen

Viele Fragen habe ich hier präsentiert, die Lehrkräfte und Schulleitungen in meiner Wahrnehmung aktuell bewegen. Über “das Digitale” habe ich dabei wenig gesprochen. Und doch ist es eine unabdingbare Grundlage dafür, dass ein neues, hybrides Lernen gelingen kann. 

Wir brauchen das Digitale, damit Lernende auch gemeinsam ihr Lernen planen und umsetzen können.

Wir brauchen das Digitale, damit Lernbegleitende Einblicke in Lernprozesse nehmen können, Feedback geben und gut beraten können.

Wir brauchen das Digitale, damit auch Lernende, die nicht im Klassenzimmer und nicht in der Schule sind, sondern zu Hause, in der Stadt oder im Stadtviertel lernen, im Kontakt zu Mitlernenden und Lernbegleitenden bleiben können.

Das Digitale ist ein wesentlicher Teil des Fundamentes für ein neues und anderes Lernen nach der Pandemie.

Was bleibt und was wird?

Viele Fragen und noch wenige Antworten. Erst die nächsten Monate und Jahre werden zeigen, was wir in Schulen wirklich aus Corona gelernt haben. Meine Hoffnung: Wir lernen, uns mehr Fragen zu stellen als anderen Antworten zu geben. Sicher erscheint mir: Die Antworten findet die oder der Einzelne nicht in seinem Klassenzimmer. Sie entstehen da, wo sich Kollegien zusammensetzen und gemeinsam die Erfahrungen reflektieren und da, wo sie in den Austausch mit anderen Schulen gehen. Dann ist hybrides Lernen manchmal auch heute schon ein schulübergreifendes Lernen auch für die Lernenden.

In allen Gesprächen, die ich in Schulen hatte, gab es nur ein Szenario, bei dem sich alle einig waren, dass es keine Form eines angestrebten hybriden Lernens ist: Die eine Hälfte der Klasse sitzt im Klassenraum, die andere ist per Video zugeschaltet und die Lehrkraft versucht, beide Gruppen mit ihren Inputs zu erreichen.