Schullandschaften im Umbruch

Seit der Veröffentlichung des KMK-Strategiepapiers Bildung in der digitalen Welt im Dezember 2016 hat sich einiges im Schulbereich bewegt. Im Mai 2019 trat der DigitalPakt Schule in Kraft, der auf die Verbesserung der digitalen Infrastruktur deutscher Schulen abzielte und dafür 5 Mrd. € an Fördermitteln zur Verfügung stellte. Im Zuge der Corona-Pandemie wurde das Fördervolumen noch um mehr als 1,5 Mrd. € aufgestockt, insbesondere für die Beschaffung ausleihbarer mobiler Endgeräte.

Die Bildungsinitiative soll sicherstellen, dass Schülerinnen und Schüler Zukunftskompetenzen und Schlüsselqualifikationen erwerben, die für einen erfolgreichen Bildungs- und Berufsweg in einer zunehmend digitalisierten Welt benötigt werden. Lehrkräfte müssen daher die Potenziale digitaler Werkzeuge und Lernumgebungen kennen und befähigt sein, digitale Lernressourcen gewinnbringend für den Unterricht zu nutzen.

Daten- und Methodenkompetenz als Schlüsselqualifikation

Jeder ist heute mit einer wachsenden Datenflut konfrontiert. Daten und Algorithmen zur Analyse großer Datenbestände beeinflussen die Entwicklung in immer mehr Bereichen der Gesellschaft. Daten sind eine in Politik und Wirtschaft für strategische Entscheidungen verwendete werthaltige Ressource („Öl des 21. Jahrhunderts“). Vor diesem Hintergrund ist die Daten- und Methodenkompetenz (Data Literacy / Statistical Literacy) auch für junge Menschen eine immer wichtiger werdende Kompetenz. Sie befähigt dazu

  • mit Daten sachadäquat und reflektiert umgehen zu können;
  • Daten unter Verwendung statistischer Methoden zu analysieren;
  • aus Daten abgeleitete Ergebnisse verständlich zu kommunizieren und zu visualisieren;
  • Schlüsse aus Daten zu ziehen und für Entscheidungen zu nutzen.

Eine neue virtuelle Bibliothek – ein innovativer Zusatzbaustein im Medienmix

Daten- und Methodenkompetenz ist in den Schulcurricula fest verankert, im Medienkompetenzrahmen NRW etwa in den Kompetenzfeldern „Analysieren und Reflektieren“ sowie „Problemlösen und Modellieren“. Zur Förderung dieser Kompetenz an Schulen und Hochschulen sowie in der beruflichen Weiterbildung wurde in Kooperation mit einem Institut der FernUniversität Hagen und dem NRW-Regierungspräsidium Arnsberg eine virtuelle Bibliothek Statistische Methoden, Modelle und Daten – interaktiv entwickelt. Die bereits mit dem EduMedia Award 2020 ausgezeichnete Bibliothek ist als Web App organisiert und als offene Bildungsressource lizenziert (open eductional resource, OER). Sie enthält interaktive Lernobjekte zur Visualisierung ausgewählter gesellschaftsrelevanter Daten und elementarer statistischer Methoden.

Bei der Gestaltung der interaktiven Elemente standen folgende Leitgedanken im Vordergrund:

  • Intuitive und ansatzlose Handhabung: Jedes Lernobjekt kann unmittelbar gestartet werden. Nutzer sind sofort auf der inhaltlichen Ebene und müssen sich nicht erst mit einer Software oder mit den Tastenkombinationen eines Taschenrechners vertraut machen.
  • Granulare Struktur: Jedes Element der virtuellen Bibliothek repräsentiert eine abgeschlossene, einzeln adressierbare „Mini-Lernwelt“. Nutzer rufen nur die interaktiven Lernobjekte auf, die sie benötigen. Die Granularität erleichtert zudem die Aktualisierung einzelner Elemente.
  • Plattformunabhängige Verwendbarkeit: Die Lernobjekte sind so programmiert, dass sie auf mobilen Endgeräten aller Hersteller und auf interaktiven Tafeln lauffähig sind.
  • Betonung von Visualisierung: Um auch mathematikaphobe Nutzerinnen und Nutzer zu erreichen, betont jedes Element die interaktive Präsentation von Daten bzw. das experimentgestützte „Ausprobieren“ statistischer Methoden. Der beim Start eines Elements auf dem Bildschirm erscheinende Text ist jeweils minimiert; Formeln werden ausgeblendet.

Die Elemente der virtuellen Bibliothek sollen Interesse an den Lerngegenständen erzeugen und dazu motivieren, weiterführende Fragen zu diskutieren. Auffälligkeiten bei Datensätzen werden nicht erklärt – es gilt sie zu entdecken und im Unterricht zu thematisieren. Der theoretische Hintergrund von statistischen Verfahren ist ebenfalls weitgehend ausgeblendet. Via Experiment wird ein Grundverständnis erreicht, das über andere Medien, etwa Präsenzunterricht oder Schullehrwerke, vertieft werden kann. Die interaktiven Lernobjekte bereichern bewährte Blended-Learning-Modelle; sie repräsentieren innovative Zusatzbausteine mit klar erkennbarem Mehrwert.

Beispielhafte Elemente der Bibliothek

Die KMK-Veröffentlichung Lehren und Lernen in der digitalen Welt vom September 2021 ergänzt das eingangs genannte KMK-Strategiepapier. Hier werden u. a. Potenziale des Lernens mit digitalen Medien und Werkzeugen aufgelistet, etwa das experimentgestützte entdeckende Lernen sowie die bessere Erfahrbarkeit von Lerngegenständen durch Anschaulichkeit und Multimedialität.

Entdeckendes Lernen und ein hohes Maß an Anschaulichkeit bietet z. B. ein Element Militärausgaben im Ländervergleich. Dieses visualisiert erst Ende April 2022 veröffentlichte Daten des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI interaktiv anhand von Zeitreihengraphen, Boxplots oder Balkendiagrammen. Die Balkendiagramme beziehen sich auf ein frei wählbares Jahr. Sie zeigen, dass die Wahl des Vergleichskriteriums (absolute Ausgaben, Ausgaben in % des BIP oder Pro-Kopf-Ausgaben) das Länderranking entscheidend beeinflusst. Die Zeitreihendarstellungen visualisieren nur jeweils eine nutzerdefinierte Länderauswahl. Hier sieht man etwa, wie sich die BIP-Anteile für das Militär im Falle von Russland und der Ukraine vor und nach der Krim-Annexion veränderten.

Auch das Lernobjekt Der Human Development Index und eine Variante ist für unterschiedliche Unterrichtsfächer attraktiv. Als Alternative zum Human Development Index (HDI) wird seit 2021 von der Statistikabteilung der Vereinten Nationen eine als Pressure Adjusted Human Development Index (PHDI) bezeichnete Alternative präsentiert, die den ökologischen Fußabdruck der Länder berücksichtigt. Mit dem Lernobjekt lassen sich beide Ansätze einzeln oder simultan visualisieren. Man entdeckt, dass u. a. Luxemburg und Singapur bei Verwendung des PHDI deutlich schlechter abschneiden, während sich HDI und PHDI für Mali oder den Tschad kaum unterscheiden.

Die beiden genannten Elemente werfen Fragen auf, die über das jeweilige Lernobjekt hinausgehen und im Unterricht zur Diskussion anregen. Beide Visualisierungen sind aufgrund der Aktualität und Relevanz der Daten dazu geeignet, Interesse am Lerngegenstand zu erzeugen. Ebenfalls sehr aktuell und relevant ist das Element Sensitivität und Spezifität von medizinischen Tests, das insbesondere ein Grundverständnis für die Aussagekraft von Corona-Tests vermittelt. Auch bei dem Lernobjekt Die Standardnormalverteilung geht es darum, via Experiment ein Grundverständnis für ein statistisches Konzept zu erlangen – hier für ein häufig verwendetes statistisches Modell.

Bisheriger Einsatz der Web App für Unterricht und Lehrkräftefortbildung

Die beschriebene Web App wird im NRW-Regierungsbezirk Arnsberg in unterschiedlichen Fächern – (u. a. in Mathematik, Gesellschaftslehre, Erdkunde) in der Lehrerfortbildung eingesetzt und im Unterricht erprobt. In Bremen wurden innerhalb der dort an Schulen verwendeten Plattform itslearning Lernumgebungen entwickelt, die ausgewählte Elemente der Web App integrieren. Das Pädagogische Landesinstitut Rheinland-Pfalz organisierte im Mai 2022 eine Fortbildung für Mathematiklehrkräfte, bei der der Einsatz der virtuellen Bibliothek im Mittelpunkt stand. Darüber hinaus sind Elemente der App mit einem  einführenden Statistiklehrbuch via QR-Code verknüpft. Analog ließen sich auch Aufgabensammlungen für den Unterricht mit interaktiven Lernobjekten verbinden.

Die Digitalisierungsinitiative für Schulen drehte sich bisher vornehmlich um technische Aspekte (Serverlösungen, IT-Ausstattung, Lernplattformen) und um allgemeine Beschreibungen neuer pädagogischer Herausforderungen (z. B. Ausgestaltung und Modellierung digitaler Transformationsprozesse). Die Entwicklung von innovativem digitalen Content für einzelne Unterrichtsfächer und die Anpassung der Fachcurricula an die digitalisierte Schullandschaft stehen hingegen noch am Anfang.

Zersplitterung der deutschen Bildungslandschaft als Innovationshemmnis

Es gibt durchaus Argumente für den Bildungsföderalismus. Unstrittig ist aber wohl, dass er die Verbreitung und den deutschlandweiten Einsatz innovativer digitaler Werkzeuge erschwert. Jedes Bundesland hat für die Unterrichts- und Schulentwicklung andere Zuständigkeiten und Konzepte, die sich nach jeder Landtagswahl ändern können. Für Innovatoren ist es daher ein mühsames Unterfangen, in 16 Bundesländern nach potenziellen Ansprech- und Kooperationspartnern in Ministerien und Landesbehörden zu suchen. Länderübergreifende Planungen für die Weiterentwicklung von Fachcurricula und die Entwicklung qualitativ hochwertiger OER für Schulen sind kaum zu finden. Eine vielversprechende Ausnahme ist das im Jahr 2023 anlaufende Projekt QuaMath, das die mathematische Bildung in Deutschland verbessern soll. Analoge Projekte wären auch für andere Fächer wünschenswert.