Nachdem Körperstrafen und sexualisierte Gewalt öffentlich thematisiert und juristisch geahndet werden, ist es Zeit, dass eine weitere Form der gegen Kinder und Jugendliche gerichteten Gewalt in den Blick kommt: die seelische Gewalt, die Kinder und Jugendliche in Bildungseinrichtungen durch Erwachsene erleiden. In diesem Blogbeitrag werden zunächst Befunde aus der Interaktionsforschung vorgestellt, die Auskunft darüber geben, wie häufig und in welchen Formen Lernende in Bildungseinrichtungen durch für sie verantwortliche Professionelle Verletzungen erleiden. Vermutungen über die Ursachen professionellen Fehlverhaltens und aufschlussreiche theoretische Zugänge werden erörtert. Abschließend stellen wir mit den Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen eine Initiative zur kinderrechtlich fundierten Verbesserung pädagogischer Beziehungen vor.

 

  1. Wie oft werden Kinder und Jugendliche durch Lehr- und Fachkräfte verletzt?

Seit mehr als 20 Jahren sammeln wir gemeinsam mit einem interdisziplinären Team Beobachtungsprotokolle, in denen Lehrer-Schüler-Interaktionen und Fachkraft-Kind-Interaktionen dokumentiert werden. Die Protokolle werden durch die Methode der teilnehmenden Beobachtung erhoben und anhand qualitativ-quantitativer Inhaltsanalysen in mehrstufigen Schritten ausgewertet. Auf der Basis des so gewonnenen Datensatzes, der derzeit mehr als 12 000 Feldvignetten mit Einzelszenen umfasst und kontinuierlich weiterentwickelt wird, können durchschnittliche Tendenzen ermittelt werden. Die Auswertung der Daten zeigt, dass im Durchschnitt ca. ein Viertel aller Interaktionen zwischen professionell tätigen Erwachsenen und lernenden Heranwachsenden Formen seelischer Verletzungen enthalten, so zum Beispiel Degradierungen, Demütigungen, Kränkungen oder Entwertungen. Dabei zeigt sich, dass durchschnittlich ca. 20 Prozent aller Interaktionen als eher leicht verletzend und gut 5 Prozent aller Interaktionen als eindeutig stark verletzend zu kategorisieren sind. Diese Durchschnittsbefunde sagen nichts über die Handlungsweisen von Einzelpersonen. Während ein Teil der Pädagoginnen und Pädagogen äußerst selten ein Kind verletzt, tendieren andere dazu, Kinder sehr häufig destruktiv anzusprechen.

 

  1. Wie werden Kinder und Jugendliche durch Erwachsene verletzt?

Die folgenden Auszüge aus unseren Beobachtungsprotokollen geben Einblick in konkrete pädagogische Interaktionsformen in Schulen und Kitas. Nach drei verletzenden Interaktionen werden kontrastierend dazu zwei exemplarische anerkennende Szenen vorgestellt. Alle Namen wurden geändert.

Szene 1 (Gymnasium, 7. Kl., Englisch, 2021): Die Schülerin Carla [wirkt sehr schüchtern und introvertiert] soll die Aufgabe vom SmartTV lesen. Sie liest leise. Frau Schmidt unterbricht einige Male und fordert sie auf, endlich lauter zu lesen. Zum Schluss sagt die Lehrerin: „Wenn ein Notfall ist, dann hoffe, dass du lauter schreien kannst als das jetzt.“ Andere Schülerinnen und Schüler lachen; Carla senkt peinlich berührt den Kopf.

Szene 2 (Sekundarschule, 5. Kl., Mathematik, 2018): Die Klasse arbeitet relativ ruhig. Petra meldet sich und sagt, dass sie den Winkel rausbekommen hat. Darauf antwortet der Lehrer Herr Merten: „Toll, back dir doch ein Ei drauf!“

Szene 3: (Kita, Draußenspiel, 2016): Leni geht zu den Treppen, wo sich die Erzieherin Frau Herzog hingesetzt hat und sagt: “Denis hat mich geschlagen.” Frau Herzog schmunzelt mit dem Mund und schaut desinteressiert. “Ja, dann musst du ihn halt zurückhauen, was willst du sonst machen?” Leni geht unsicher zu Denis hin und schubst ihn. Dabei sieht sie Frau Herzog nochmals an. Frau Herzog beachtet sie nach dem Gespräch jedoch nicht und schaut auf ihr Handy. Beide Kinder schlagen sich 2 mal und geben sich damit zufrieden.

Szene 4: (Förderschule, Kl. 4, Englisch, 2021): Die Lehrerin Frau Köster öffnet einen „Kampf“ auf Classcraft [Online-Tool für Unterrichtsprozesse]. Schülerinnen und Schüler müssen Fragen beantworten und wenn sie richtig liegen, bekämpfen sie ein Monster. Ulla kann die Frage nicht beantworten. Anton antwortet für sie. Frau Köster fragt Anton, ob er ihr die gewonnen Punkte überlassen möchte und ihr damit hilft. Anton sagt: „Ja, wir wollen das Monster ja bekämpfen.“ Frau Köster sagt: „Na wenn ihr dann zusammenhaltet, finde ich das ganz toll.“ Frau Köster lobt Anton für die gute Antwort.

Szene 5 (Kita, 2016): Die Erzieherin Tanja fragt Pietro, wie er mit der Kamera zurechtgekommen sei und möchte ein paar Bilder sehen. Tanja: „Wow du hast je aber viele Bilder gemacht, wir brauchen auch noch Platz für die am Donnerstag“ (lacht). Sie erklärt ihm die Verhältnisse von Nah und Fern beim Fotografieren und macht Verbesserungsvorschläge, danach fragt sie Pietro ob er rausgehen möchte, um die Kita von draußen zu fotografieren, er verneint.

Die Auswertung zahlreicher Feldvignetten lässt Handlungsmuster erkennen. Wiederkehrende Formen der Anerkennung sind „zu Entwicklung und Leistung ermutigen, engagiert erklären, Leistung loben, bei Kummer trösten, kleinere Kinder freundlich streicheln oder in den Arm nehmen, ältere Kinder freundlich ansprechen, Konflikte wahrnehmen und lösen helfen, Humor und Lachen ermöglichen, den Kindern und Jugendlichen zuhören, bei Fehlverhalten Grenzen setzen und integrierend Wiedergutmachung ermöglichen“ (Prengel 2019, S. 120).

Als wiederkehrende Formen der Verletzung wurden gefunden: „Lernleistungen, Fehler oder Fehlverhalten diskriminierend kritisieren, Kinder anbrüllen, sarkastisch ansprechen, lächerlich machen, beschämen, ignorieren, unterbrechen, in Gegenwart von Klassenkameraden und von externen Besuchern negativ über ein anwesendes Kind sprechen, Kinder und Jugendliche nicht anhören, am Arm schütteln, vor die Tür schicken, Hilfe durch Peers verbieten, Kummer und körperliche Schmerzen ignorieren, bei Fehlverhalten keine Grenzen setzen, bei Verletzungen durch Peers nicht intervenieren und so Hilfe unterlassen“ (ebd.). Zugleich lassen sich in vielen Szenen ambivalente Tendenzen finden. In der oben genannten Szene 4 könnte man zum Beispiel auch kritisch danach fragen, wie es Ulla anschließend ergangen sein mag. Leider lässt das Protokoll dazu keine Aussagen zu.

Eine Reihe teilweise bedeutungsähnlicher Begriffe ist geeignet, das problematische pädagogische Handeln zu beschreiben, dazu gehören u.a. Charakteristika wie verletzend, entwertend, demütigend oder beschämend. Allen diesen Interaktionen wohnt etwas Degradierendes inne, das mit den Machtverhältnissen zwischen älteren und jüngeren Generationen zu tun hat.

 

  1. Welche Ursachen liegen degradierenden pädagogischen Handlungsweisen zugrunde?

Zu den Ursachen interaktiven pädagogischen Fehlverhaltens kann eine Reihe von Annahmen in Erwägung gezogen werden. Im Rahmen der Beobachtungsstudien war es nicht möglich, eigens Ursachenforschung zu betreiben. Dennoch lassen sich aus den Befunden und aus strukturellen Gegebenheiten einige Vermutungen zu Hintergründen erschließen.

Unzureichende materielle und personelle Ressourcenausstattung könnten als Grund für degradierende Handlungsformen naheliegen. Jedoch belegen die empirischen Erhebungen, dass sich Lehr- und Fachkräfte unter den gleichen Arbeitsbedingungen völlig unterschiedlich verhalten. Darum ist in diesen nicht der entscheidende Grund für die zu beobachtenden entgegengesetzten Beziehungsqualitäten zu suchen.

Eine Ursache pädagogischen Fehlverhaltens kann im Fehlen systemischer Orientierungen und Verfahren, die anhand von Pädagogikethik, Partizipationsverfahren, Beschwerdestellen und Aufmerksamkeit für Kinderrechte in Studiengängen, Bildungsforschung und Fortbildungskonzepten vermittelt werden, gesehen werden. Diese Zusammenhänge sollten als mögliche Ursachenkomplexe, die degradierendes pädagogisches Handeln begünstigen, untersucht werden.

Anhand der Diskriminierungsformen des Ableismus und des Adultismus können pädagogisch relevante Hypothesen zum degradierenden Verhalten in Schulen und anderen pädagogischen Arbeitsfeldern formuliert werden: Wenn Leistungshierarchien in Schulen stark betont werden, erfahren Lernende, denen „schlechtere“ Leistungen zugeschrieben werden, eine ableistische Degradierung. Wenn Kinder von Erwachsenen verletzende Formen der Degradierung erfahren, wirken sich die generational stets gegebenen Machtverhältnisse als adultistische Diskriminierungen aus.

 

  1. Was kann die Theorie der Lebensformen zum Verständnis pädagogischer Beziehungen beitragen?

Die von der Philosophin Rahel Jaeggi (2014) vorgelegte Theorie der Lebensformen kann aufschlussreich für das Verständnis der so überaus gegensätzlichen pädagogischen Handlungsformen sein.

„Lebensformen sind, so Jaeggi, Bündel zusammenhängender und beständiger Praktiken und Orientierungen, die für die Gestaltung sozialen Lebens bedeutsam sind. Sie sind weder bloß zufällige beliebige Gewohnheiten noch rechtlich kodifizierte Vorschriften. Lebensformen entwickeln sich als kollektive Lösungen in krisenhaften Situationen, sie sind also langlebig und zugleich veränderlich. Lebensformen können sich in unterschiedlichen, mehr oder weniger engen oder breiten Reichweiten sozialer Gebilde kontinuierlich und diskontinuierlich konfigurieren, aber sie sind unterhalb von Großformationen wie Kultur oder Zeitalter und oberhalb von einzelnen Handlungen angesiedelt. Sie sind überpersönliche Ausdrucksformen mit öffentlicher Relevanz und sie sind verflochten mit politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen (vgl. ebd., S. 22)“ (Tellisch/Prengel 2022, S. 4).

Unsere These ist, dass in Schulen und anderen pädagogischen Arbeitsfeldern unterschiedliche pädagogische Lebensformen zu finden sind und von den Akteuren, die ihnen verhaftet sind, tradiert und weiterentwickelt werden. Während ein Teil des pädagogischen Personals meist recht respektvoll mit den Lernenden umgeht, tendiert ein anderer Teil zu degradierenden Handlungsformen. Das Degradieren eines Kindes oder Jugendlichen geht tendenziell mit der Zuschreibung unzulänglicher Leistungen oder Verhaltensweisen einher. Solche ableistisch-adultistischen Zuschreibungen werden als Legitimationen benutzt.

Spuren der degradierenden Handlungsmuster lassen sich in schulischen Traditionen finden. In den letzten Jahrzehnten ist es gelungen, die pädagogischen Lebensformen der Körperstrafen in pädagogischen Arbeitsfeldern zu unterbrechen. Die Tradition seelisch verletzender Lebensformen lebt bei einem Teil des pädagogischen Personals fort, während zur gleichen Zeit im gleichen System andere Lehr- und Fachkräfte Traditionen kinderfreundlicherer pädagogischer Lebensformen fortsetzen und weiter kultivieren.

 

  1. Handlungsperspektiven

Die „Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen“ sind ein Projekt, das der Verbesserung pädagogischer Lebensformen dient. Die Reckahner Reflexionen enthalten zehn Leitlinien, die sich sowohl auf Schulpädagogik als auch auf andere Pädagogiken wie Früh-, Sozial- und Sonderpädagogik beziehen. Sie wurden vom „Arbeitskreis Menschenrechtsbildung“, der angesiedelt ist im Kulturensemble Reckahn, entwickelt[1]. Die zehn Leitlinien der Reckahner Reflexionen (2017) lauten:[2]

 

„Was ethisch begründet ist

  1. Kinder und Jugendliche werden wertschätzend angesprochen und behandelt.
  2. Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte hören Kindern und Jugendlichen zu.
  3. Bei Rückmeldungen zum Lernen wird das Erreichte benannt. Auf dieser Basis werden neue Lernschritte und förderliche Unterstützung besprochen.
  4. Bei Rückmeldungen zum Verhalten werden bereits gelingende Verhaltensweisen benannt. Schritte zur guten Weiterentwicklung werden vereinbart. Die dauerhafte Zugehörigkeit aller zur Gemeinschaft wird gestärkt.
  5. Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte achten auf Interessen, Freuden, Bedürfnisse, Nöte, Schmerzen und Kummer von Kindern und Jugendlichen. Sie berücksichtigen ihre Belange und den subjektiven Sinn ihres Verhaltens.
  6. Kinder und Jugendliche werden zu Selbstachtung und Anerkennung der Anderen angeleitet.

 

Was ethisch unzulässig ist

  1. Es ist nicht zulässig, dass Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte Kinder und Jugendliche diskriminierend, respektlos, demütigend, übergriffig oder unhöflich behandeln.
  2. Es ist nicht zulässig, dass Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte Produkte und Leistungen von Kindern und Jugendlichen entwertend und entmutigend kommentieren.
  3. Es ist nicht zulässig, dass Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen herabsetzend, überwältigend oder ausgrenzend reagieren.
  4. Es ist nicht zulässig, dass Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte verbale, tätliche oder mediale Verletzungen zwischen Kindern und Jugendlichen ignorieren.“

Die Reckahner Reflexionen haben sich inzwischen regional, bundesweit und stellenweise auch international verbreitet. Einzelne Pädagoginnen und Pädagogen, Teams, Kollegien oder auch gesamte pädagogische Einrichtungen widmen sich dem Thema der Beziehungsgestaltung in ihrer alltäglichen Arbeit und finden dort Orientierung in ethisch fundierten Grundsätzen.

 


Zum Literaturverzeichnis

 

[1] Der Arbeitskreis Menschenrechtsbildung ist im Sinne des Kulturellen Gedächtnisses angesiedelt um Kulturensemble Reckahn, einem Ort an dem 1773 im Geiste Aufklärung die erste philanthropische Musterschule eröffnet wurde. Sie ist heute Schulmuseum. https://reckahner-museen.byseum.de/de/rochow-museum

[2] Die „Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen“ werden herausgegeben vom Deutschen Institut für Menschenrechte, vom Deutschen Jugendinstitut, vom MenschenRechtsZentrum der Universität Potsdam sowie von Rochow-Museum und Akademie für bildungsgeschichtliche und zeitdiagnostische Forschung an der Universität Potsdam e.V.