Lernentwicklungsgespräche (LEG) besitzen großes Potential, um das schulische Lernen von Schüler:innen noch besser zu begleiten und um Leistungsrückmeldungen lernförderlich zu gestalten. Allerdings gibt es große Unterschiede in der Umsetzung von LEG, auch wird z. B. recht selten über die (für LEG namensgebende) individuelle Lernentwicklung gesprochen. Wie Lernentwicklungsgespräche gestaltet sein sollten, um ihre angestrebte Wirkung bestmöglich zu entfalten, diskutieren wir im folgenden Beitrag.

 

Was sind Lernentwicklungsgespräche und wie werden sie umgesetzt?

Lernentwicklungsgespräche (LEG) sind ein innovatives Format der Leistungsrückmeldung. Es handelt sich dabei um ca. 15- bis 30-minütige Gespräche zwischen einem Kind und seiner Lehrkraft im Beisein mindestens eines Erziehungsberechtigten. Im Fokus des Gesprächs sollen der aktuelle Lernstand, der Lernprozess und die vergangene sowie künftige Lernentwicklung des einzelnen Kindes stehen. Sie können als zusätzliche Elemente des Unterrichts geführt werden (z. B. in Hamburg) oder auch Zwischen- und Jahreszeugnisse ersetzen (z. B. in Bayern). Die konkrete inhaltliche Umsetzung ist den einzelnen Schulen bzw. Lehrkräften überlassen.

Trotz der Offenheit in der konkreten Umsetzung gibt es Elemente, die für gewöhnlich in LEG umgesetzt werden:

  1. Die Kinder schätzen in der Regel ihre Kompetenzen im Vorfeld des Gesprächs anhand eines Einschätzungsbogens, einer Lernlandkarte oder einem ähnlichen Reflexionsinstrument ein.
  2. Auch die Lehrkräfte nehmen eine Einschätzung der Kompetenzen der Kinder vor und halten diese in einem Bogen fest, der dann zugleich als Dokumentationsbogen des Gesprächs dienen kann.
  3. Im Gespräch erhalten die Lernenden Rückmeldungen zu ihrem bisherigen Lernen.
  4. Im Laufe oder am Ende des Gesprächs werden mit den Schüler:innen Ziele für ihr weiteres Lernen vereinbart.
  5. Im weiteren Verlauf des Schuljahres wird die Erreichung der Ziele überprüft – ggf. werden die Ziele angepasst.

 

Wie können Lernentwicklungsgespräche das Lernen unterstützen?

Für Lernentwicklungsgespräche gilt das gleiche, was für jeden Unterricht gilt: Entscheidend ist die Qualität der Umsetzung. Grundsätzlich haben LEG schon durch die Gesprächssituation ein höheres Potenzial, den Schüler:innen lernunterstützende Rückmeldungen zu geben als dies z. B. bei Ziffernzeugnissen der Fall ist. Dieses Potenzial muss aber auch genutzt werden. Eine geeignete theoretische Grundlage ist die Theorie des Formativen Assessments, dessen Wirkung auf das Lernen bereits vielfach belegt ist. Auf Grundlage dieser Theorie haben wir folgende Qualitätskriterien für LEG definiert:

Q1:         Lernstand und Lernentwicklung werden differenziert erfasst und dokumentiert.

Q2:         Die Selbsteinschätzung der Kinder wird berücksichtigt. (Die Kinder sollten als „echte“ Gesprächtspartner:innen eingebunden werden und sich nicht, wie in der Studie von Betz und Kolleginnen gezeigt, als „Bewertungsgegenstand“ wahrnehmen.)

Q3:         Die Schüler:innen erhalten lernunterstützende Rückmeldungen.

Q4:         Es werden klare und gut operationalisierbare (messbare) Ziele mit Erfüllungskriterien vereinbart.

Q5:         Die vereinbarten Ziele werden in regelmäßigen Abständen (Diagnosezyklen) überprüft und ggf. adap­tie­rt.

Die motivationsförderliche Wirkung unserer Qualitätskriterien ist durch entsprechende Befunde (außerhalb des Kontextes LEG) bereits vielfach belegt. So ist hinlänglich bekannt, dass die Verwendung der individuellen Bezugsnorm – also der Vergleich der eigenen Leistung mit eigenen früheren Leistungen (individuelle Lernentwicklung) – die Motivation der Lernenden unterstützt; gleiches gilt für spezifisches, lernförderliches Feedback oder für konkrete und gut messbare Ziele. Dabei ist die Wahrnehmung der Lernenden entscheidend. Denn nur, wenn diese Rückmeldungen von den Schüler:innen als nützlich und hilfreich wahrgenommen werden, wirkt sich dies auf Leistung und Motivation positiv aus.

 

Wie gelingt die qualitative Umsetzung der Lernentwicklungsgespräche in der Praxis?

Unsere Daten zur Umsetzung in der Praxis beziehen sich auf die Analyse von 210 beobachteten und 63 videographierten Lernentwicklungsgesprächen in der 2. Jahrgangsstufe sowie die Befragung von 392 Kindern aus 61 unterschiedlichen Klassen mit ihren jeweiligen Lehrkräften und ihren Erziehungsberechtigten. Sie zeigen, dass die von uns identifizierten Qualitätskriterien im Wesentlichen umgesetzt werden – allerdings gibt es deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Klassen und auch zwischen einzelnen LEG einer Lehrkraft. Festzuhalten ist auch, dass in einer Vielzahl der LEG nicht alle Qualitätsmerkmale in gleicher Form umgesetzt werden: So zeigte sich z. B., dass in LEG vorrangig der aktuelle Lernstand fokussiert wird. Die für die Lernentwicklungsgespräche letztlich namensgebende individuelle Lernentwicklung der Kinder wird deutlich seltener thematisiert (s. Abb. 1).

 

Abb. 1. Durchschnittliche Benennung von Lernstand und Lernentwicklung pro LEG (absolute Werte).

Mit Blick auf das Empfinden von Kompetenz als wesentliche Bedingung für den Aufbau und Erhalt intrinsischer Motivation ist zu betonen, dass in den Gesprächen häufig die Stärken der Kinder fokussiert werden. Allerdings werden natürlich auch einzelne Schwächen angesprochen – gerade dann, wenn es darum geht, Ziele für die Weiterarbeit und nächste Lernschritte festzulegen. In den meisten LEG werden die Kinder und ihre Einschätzung ebenfalls berücksichtigt. Dabei decken sich die Einschätzung der Schüler:innen mit den Beobachtungsdaten. Und auch die Rückmeldungen der Lehrkräfte an die Schüler:innen wurden überwiegend – und aus den verschiedenen Perspektiven (Kinder, Erziehungsberechtigte und externe Beobachtersicht) als lernunterstützend eingeschätzt. Allerdings gilt auch hier, dass manche wünschenswerten Elemente nur selten auftauchen: So schlagen z. B. die Lehrkräfte in den Rückmeldungen kaum konkrete Lernstrategien vor, die dann das weitere Lernen der Kinder steuern können, wie z. B. „Ich schreibe Wörter richtig, indem ich sie mir beim Schreiben vorspreche“. Und in den Zielvereinbarungen werden zwar meist konkrete Maßnahmen zur Erreichung der Ziele berücksichtigt, die Zielqualität (bspw. Konkretheit und Messbarkeit) variiert aber deutlich. Das Qualitätsmerkmal, das am seltensten umgesetzt wird, ist die kontinuierliche Weiterarbeit mit den vereinbarten Zielen.

Insgesamt zeigt sich, dass alle am Gespräch Beteiligten (Schüler:innen, Lehrkräfte, Erziehungsberechtigte) die LEG überwiegend als sehr positiv und lernförderlich wahrnehmen. Nach diesen grundsätzlich positiven Befunden stellt sich nun jedoch die Frage, ob LEG das Lernen der Schüler:innen tatsächlich unterstützen.

 

Unterstützen Lernentwicklungsgespräche tatsächlich das Lernen?

Wir haben in unserer Studie untersucht, in welchem Zusammenhang die Umsetzung der LEG mit motivationalen Aspekten des Lernens steht. Dabei fokussieren wir das schulische Selbstkonzept, die Anstrengungsbereitschaft, die intrinsische Motivation sowie lernförderliche Attributionen (Ursachenzuschreibungen für Leistungen) bzgl. des schulischen Lernens. Als Maß für die Einschätzung der Qualität haben wir die Wahrnehmung der Kinder herangezogen, da verschiedene Studien gezeigt haben, dass die Perspektive der Lernenden für die Entwicklung von Lernmotivation wichtiger ist als eine „objektive“ Einschätzung von externen Beobachter:innen.

Unsere Ergebnisse zeigen einen signifikanten Zusammenhang zwischen lernförderlichen Rückmeldungen sowie passenden und hilfreichen Zielen mit der Entwicklung motivationaler Aspekte des Lernens. Diese Effekte waren nicht nur kurzfristig, sondern ließen sich auch noch vier Monate später nachweisen. Damit betonen unsere Befunde das große Potential von LEG auch für die längerfristige Lernentwicklung von Schüler:innen.

 

Was bedeutet das für die Zukunft von LEG und den Unterricht in der Grundschule?

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Lernentwicklungsgespräche ein innovatives Format der Leistungsrückmeldung darstellen, mit dem das Lernen von Grundschulkindern unterstützt werden kann. Allerdings müssen sie entsprechend umgesetzt werden. Dann leisten LEG nicht nur einen Beitrag zur Lernmotivation, sie können dann auch das selbstregulierte Lernen der Kinder unterstützen – eines der wichtigen Ziele des (Grundschul-)Unterrichts.

Doch wie kann dies bei der gefundenen Varianz in der Umsetzung sowohl zwischen einzelnen Klassen als auch einzelnen LEG gelingen? Vor allem dann, wenn LEG Zeugnisse ersetzen sollen, stellen sich Fragen wie: Ersetzen sie „nur“ das Zeugnis oder wird die Selbsteinschätzung regelmäßig in den Unterricht integriert, um so die Kinder kontinuierlich bei der Reflexion und Planung ihres eigenen Lernprozesses zu unterstützen? Es ist zu vermuten, bislang aber noch nicht erforscht, dass LEG nur dann ihre Wirkung entfalten können, wenn die einzelnen Elemente nicht nur im Rahmen des ein- oder zweimal jährlich stattfindenden LEG berücksichtigt werden, sondern wenn sie fester Bestandteil des Unterrichtsgeschehens sind; wenn die Kinder es gewohnt sind, ihre eigenen Kompetenzen einzuschätzen und über ihr Lernen ins Gespräch zu kommen, wenn regelmäßig lernförderliche Rückmeldungen gegeben und auch regelmäßig Ziele vereinbart, verfolgt und überprüft werden. Ein Ansatzpunkt liegt in passenden Fortbildungsangeboten für Lehrkräfte, in denen die eigene LEG-Praxis reflektiert, der individuellen Praxis ein entsprechender Stellenwert eingeräumt und eine systematische Einbindung der LEG im Unterricht thematisiert wird.

Dies scheint gerade in Anbetracht des großen Potentials von LEG wichtig zu sein, da LEG nicht nur die Motivation, sondern auch insgesamt das Lernen der Kinder unterstützen können. Nicht umsonst führen bspw. in Bayern mittlerweile über 90 Prozent der Grundschulen LEG.

 


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