Die Grundschule ist derzeit das Sorgenkind im Bildungsbereich. In den Bildungsnachrichten wird über die Grundschulmisere geschrieben, über dramatische Lernrückstände und den eklatanten Lehrkräftemangel. Wie tief die Grundschulbildung tatsächlich in einer Krise steckt, wurde erst im Herbst durch die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2021 vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen bestätigt.

Im Vergleich zum Jahr 2016 hingen Schülerinnen und Schüler am Ende der vierten Klasse ein halbes Schuljahr hinter den Anforderungenim Zuhören zurück, ein Drittel eines Schuljahres im Lesen, sowie ein Viertel Schuljahr in Rechtschreibung und Mathematik. Das IQB verzeichnet schon seit dem Jahr 2011 den Abwärtstrend in der Grundschulbildung – die Mängel in der Bildung an deutschen Grundschulen sind demnach nicht neu.

Daher wäre es auch falsch, die aktuellen schlechten Zahlen allein auf die Corona-Pandemie zu schieben. Die Einschränkungen im Unterricht und die Schulschließungen der vergangenen zwei Jahre haben die Abwärtstrends nur noch einmal verstärkt, sodass bereits bestehende Probleme noch deutlicher zutage getreten sind. Vor allem Schülerinnen und Schüler, die zuhause weniger Unterstützung erhalten, litten in ihrer Bildung deutlich stärker unter den pandemiebedingten Einschränkungen im Schulbetrieb. Dies betrifft insbesondere Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern oder Kinder mit Migrationshintergrund. Die Bildungsschere gleitet schon seit Jahren stetig weiter auseinander.

Was bedeutet das für die Kinder, die Gesellschaft und die Wirtschaft?

So pessimistisch es auch klingt: Grundschulkinder, die am Ende der 4. Klasse nicht einmal die Mindeststandards erreichen, werden es bis zum Ende ihrer Schulzeit kaum schaffen, ihre Lernrückstände aufzuholen. Ich mache mir enorme Sorgen um die Zukunft dieser Kinder.

Die Grundschule ist ein wichtiger Ort, der für die Kinder die Basis für alle weiteren Bildungsprozesse legen sollte. Zudem ist die Grundschule nach der Kita die letzte Bildungseinrichtung, in der herkunftsbedingte Bildungsnachteile ausgeglichen werden können: Die Weichen, die für die Kinder qua Geburt gestellt sind, können hier noch einmal korrigiert werden: Kinder, denen zuhause Unterstützung fehlt, könnten diese hier erhalten. Die Grundschule als zentraler Bildungsort des gemeinsamen Lernens sollte Kindern vermitteln, wie Bildung für sie gelingen kann.

Zudem sollten sie dort die Fähigkeiten erlernen, die sie brauchen, um zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern zu werden: Fragen stellen, sich eine Meinung bilden, Gegebenheiten hinterfragen, selbstständig Lösungen finden, eigenständige Entscheidungen treffen und erfolgreich an der Gesellschaft teilhaben. Das gelingt bei einem wachsenden Teil der Grundschülerinnen und -schüler nicht. Die enormen Lernrückstände wirken sich darum nicht nur auf die Kinder selbst, sondern langfristig auf die gesamte Gesellschaft und die Wirtschaft aus. In Diskussionen warnt die Bildungsforschung, dass künftig bis zu 20 Prozent eines Jahrgangs ihre Schulzeit beenden könnten, ohne einen Abschluss geschafft zu haben. Damit würde jede und jeder fünfte Jugendliche nicht ausbildungsfähig sein. Das sollte uns allen Sorgen bereiten, denn bereits jetzt gibt es massenhaft unbesetzte Lehrstellen. Zugleich geht die Anzahl an Studienanfängerinnen und -anfängern zurück. Der Mangel an Fachkräften ist in nahezu allen Berufen gewaltig.

Werden solche Ergebnisse bekannt, ist der Aufschrei groß. Eltern und Lehrkräfte, Wissenschaft und Politik fordern Veränderungen und es werden oftmals kurzfristige Lösungen angestoßen. Aber wir sehen: Wir springen zu kurz! Es braucht grundlegende Veränderungen.

Mit MINT-Bildung in Unterricht und Ganztag Zukunftskompetenzen stärken

Bildung und Lernen müssen anders gedacht werden. Es braucht eine ganzheitliche Sicht auf Bildung, die das aktive Lernen der Kinder in den Fokus stellt. Kinder brauchen Bildungsangebote, die stark an ihrer Realität orientiert sind, damit Lese-, Schreib- und Mathematikkompetenzen nicht für die nächste Prüfung trainiert werden, sondern um echte Probleme zu lösen. Lernen passiert im Bewältigen von echten Herausforderungen, die für die Kinder relevant und bedeutsam sind. Solche Bildungsangebote kann die MINT-Bildung schaffen.

Werden die Disziplinen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik in den gesamten Bildungstag integriert, kann der Ganztag eine große Chance sein. Denn nicht nur die derzeitigen schlechten Ergebnisse des IQB-Bildungstrends stellen die Grundschule vor Herausforderungen. Auch die zunehmende Heterogenität der Kinder schafft einen großen Handlungsbedarf. Hier kann der Ganztag helfen – aber nur, wenn er nicht als Betreuungsort verstanden wird, sondern als Ort der Bildung.

Werden beide Angebote – Grundschule und Ganztag – auf Augenhöhe und als ein gemeinsamer, komplementärer Bildungsort gedacht, kann die Bildung der Kinder qualitativ nur profitieren. Im Ganztag können Bildungsangebote gemacht werden, die einen starken Wirklichkeitsbezug für die Kinder haben und ihnen Selbstwirksamkeits-Erfahrungen ermöglichen. Hier können echte Herausforderungen gemeistert werden, zu denen jeder entsprechend seiner Fähigkeiten beitragen kann. Dies kann im gemeinsamen Experimentieren auch an außerschulischen Lernorten wie Werkstätten, Kinderlaboren oder Museen geleistet werden. Eine fachliche Verbindung beider Bereiche kann es schaffen, Themen aus dem Unterricht im Ganztag praktisch auszuprobieren. Und auch andersherum: Fragen, die im Ganztag beim Experimentieren, Bauen oder Planen auftauchen, können im Unterricht aufgegriffen werden und Hintergrundwissen für die Kinder liefern. Dadurch erhalten das Erarbeiten und Einüben fachlicher Kompetenzen im Unterricht Sinn.

Mit unseren Fortbildungen unterstützen wir Lehrkräfte genau an dieser Stelle. Wir helfen ihnen, das Lernen für die Kinder praxisnah zu gestalten. Können Kinder eigene Themen und Probleme einbringen, geht es um etwas, das sie selbst begeistert, dann ist ihre Anstrengungsbereitschaft groß. Das gemeinsame Forschen und Entdecken, die Interaktion der Kinder untereinander und mit Fachkräften fördern zudem die sprachliche Weiterentwicklung und die Lesekompetenz. Ausgehend von dieser Idee haben wir etwa auch gemeinsam mit der Stiftung Lesen das Kindermagazin „echt jetzt?“  entwickelt, um mit Kindern Lesen zu üben oder im Unterricht mit Forscherideen zu experimentieren.

Eines ist klar: Die Kinder und die pädagogischen Fach- und Lehrkräfte dürfen mit den Problemen der Grundschule nicht allein gelassen werden. Die Grundschulmisere ist ein gesellschaftliches Problem. Eine langfristige Problemlösung muss her – und zwar jetzt.

 


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