Was Inklusion an Schulen wirklich bedeutet 

Inklusion an Schulen heißt, dass alle Kinder und Jugendlichen das Recht auf Bildung ohne Diskriminierung und mit gleichen Chancen haben, egal ob sie eine Behinderung oder einen sonderpädagogischen Förderbedarf haben oder nicht. Um dieses Recht zu schützen, trat vor etwa 15 Jahren die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Kraft. Dort steht festgeschrieben, dass Kinder und Jugendliche nicht aufgrund einer Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Unterricht oder dem Besuch einer weiterführenden Schule ausgeschlossen werden dürfen (siehe UN-BRK, §24).  

Mit der Unterzeichnung der UN-BRK hat sich Deutschland verpflichtet, ein inklusives Schulsystem zu schaffen, in dem alle Kinder und Jugendlichen gemeinsam lernen. Das bedeutet auch, dass Förderschulen, in denen Kinder mit Förderbedarf separat unterrichtet werden, abgebaut werden müssten. Das Festhalten an diesen Doppelstrukturen widerspricht der UN-BRK und dem eigentlichen Konzept der Inklusion. Trotz dieser Verpflichtung ist die Lage an Deutschlands Schulen auch 15 Jahre nach Inkrafttreten der UN-BRK „besorgniserregend“, so die Einschätzung des UN-Fachausschusses. Dieser Ausschuss prüft regelmäßig die Umsetzung der UN-BRK in Deutschland, zuletzt im Herbst 2023.  

Der Ergebnisbericht war eine deutliche Rüge für Deutschland. Insbesondere der nach wie vor hohe Anteil von Schüler:innen mit Förderbedarf in Förderschulen wurde vom Fachausschuss sehr kritisch eingestuft. Zwei Punkte hat er dabei besonders hervorgehoben:  

  1. Es sei ein Irrglaube, dass die Beschulung in Sondereinrichtungen Teil eines inklusiven Bildungssystems sein kann.
  2. Es gebe keine einheitliche Strategie zur Umsetzung der schulischen Inklusion in Deutschland, wodurch Fortschritte stark von den einzelnen Bundesländern abhängen. 

Umso wichtiger ist es, den tatsächlichen Fortschritt und die aktuellen Zahlen zur Inklusion im Schulsystem jenseits von Absichtserklärungen zu betrachten und einzuordnen. Das haben wir in dem Factsheet „Status quo: Inklusion an Deutschlands Schulen“ getan. 

 

Eine Schule für alle? Inklusive Beschulung ist noch nicht der Regelfall  

Eine klare, aber ernüchternde Botschaft des Factsheets: Inklusive Beschulung ist für die meisten Kinder und Jugendlichen mit Förderbedarf in Deutschland nicht die Norm. In den letzten 15 Jahren hat Deutschland es nicht geschafft, ein flächendeckendes inklusives Schulsystem aufzubauen. Im Schuljahr 2022/23 hatten 581.265 Kinder und Jugendliche einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Die Förderquote, also der Anteil der Schüler:innen mit Förderbedarf an allen Schüler:innen, lag bei 7,6 Prozent. Das Factsheet zeigt, wie weit Deutschland aktuell noch von einem inklusiven Schulsystem entfernt ist: 

  • Die Exklusionsquote, die als zentraler Gradmesser für die Umsetzung der UN-BRK-Ziele gilt, lag für Deutschland bei 4,2 Prozent. Sie beschreibt den Anteil der Schüler:innen an Förderschulen gemessen an allen Schüler:innen. Seit der Unterzeichnung der UN-BRK ist die bundesweite Exklusionsquote um 0,6 Prozentpunkte gesunken.  
  • Mit 55,6 Prozent besuchte mehr als die Hälfte der Schüler:innen mit Förderbedarf eine Förderschule, während 44,4 Prozent an allgemeinen Schulen unterrichtet wurden. 
  • Die Bundesländer unterscheiden sich deutlich in ihren Entwicklungen: Die Exklusionsquoten der Länder reichen von 0,7 Prozent in Bremen und 6,4 Prozent in Sachsen-Anhalt. Weitere Ergebnisse enthält die nachfolgende Abbildung.  

Grafik Inklusion: Zu Förderquoten, Inklusionsquoten und Exklusionsquoten in den Bundesländern. Schuljahre 2008/09, 2021/22 und 2022/23

Gesellschaftliche Bedeutung: Exklusion gefährdet die Chancengleichheit und berufliche Perspektiven junger Menschen 

Die Beschulung von Kindern und Jugendlichen in Förderschulen ist häufig ein Glied in einer sich fortsetzenden Exklusionskette. So können an Förderschulen beispielsweise keine staatlich anerkannten Schulabschlüsse erworben werden. Der Großteil der Schüler:innen mit Förderbedarf verlässt die Schule somit formal gesehen ohne Schulabschluss. Vergleicht man allgemeine Schulen und Förderschulen, so lässt sich feststellen, dass Schüler:innen mit Förderbedarf an allgemeinen Schulen häufiger einen Schulabschluss erzielen als diejenigen an Förderschulen (siehe dazu auch unser Blogbeitrag „Abschluss ohne Anschluss? Jugendliche ohne Schulabschluss brauchen Perspektiven für ihre Zukunft“). Ohne Schulabschluss haben junge Menschen vor allem schlechtere Startchancen für das Berufsleben. Gerade weil sich die Gemengelage multipler Bildungskrisen aktuell zu verdichten scheint, darf das Ziel Inklusion zu befördern nicht aus den Augen verloren werden. Ohne Fortschritte beim Ausbau eines inklusiven Schulsystems könnte auch das gemeinsame Aufwachsen durch Begegnungen von jungen Menschen mit und ohne Behinderung und die Teilhabe an der Gesellschaft erschwert werden.  

Angesichts der jüngsten Entwicklungen in einzelnen Bundesländern, wie z. B. Sachsen-Anhalt, wo aktuell über eine Stärkung der Förderschulen bei der Einschulung von Kindern mit Förderbedarf diskutiert wird (eine Kritik dazu in der Stellungnahme des Grundschulverbandes Sachsen-Anhalt), sollten die Länder eher früher als später abgestimmt vorgehen. Zur Einordnung und wie oben schon erwähnt: Sachsen-Anhalt verzeichnete für das Schuljahr 2022/23 mit 6,4 Prozent sogar die höchste Exklusionsquote im Bundesländervergleich – dementsprechend besucht hier ohnehin ein größerer Anteil der Schüler:innen mit Förderbedarf die Förderschule als in anderen Bundesländern.  

Wie kann es weitergehen, damit das Thema Inklusion nicht von der Agenda rutscht? Diese Frage richtet sich an jede und jeden, denn es geht darum, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. „In unseren Schulen entscheidet sich, wie die Gesellschaft von morgen aussieht“ – diese Ansicht vertritt der Verein mittendrin e. V.. Welche Werte wollen wir vertreten? Welche Rolle spielen Vielfalt, Toleranz und Gerechtigkeit? Wie erhalten junge Menschen die besten Chancen auf Bildung und persönliche Entwicklung? Wo können junge Menschen lernen, aufeinander Rücksicht zu nehmen und sich gegenseitig zu unterstützen? Inklusion ist eben nicht nur ein Thema für Menschen mit Behinderungen oder deren Angehörige, sondern betrifft uns alle: Sie könnte einen wichtigen Grundstein für eine gerechte, empathische und zukunftsfähige Gesellschaft legen.  

 


Zusätzliche Informationen:  

Einschätzung von Akteuren: Gemeinsamer Kraftakt für Inklusion erforderlich 

Was sagen Interessenvertreter:innen angesichts des schleppenden Ausbaus der Inklusion an Schulen? Welche Schritte müssten unternommen werden, um die Ziele der UN-BRK verwirklichen zu können? Im Rahmen der Themenwoche „Inklusion“ haben wir im vergangenen Jahr zentrale Akteure im Feld der Inklusion um ihre Einschätzung gebeten. Die Blogbeiträge des Deutschen Instituts für Menschenrechte, des Verbandes Sonderpädagogik e. V., des Elternvereins mittendrin e. V. und von Mark Rackles können Sie nachlesen: Inklusion Archives – Schule-Lernen-Bildung im 21. Jahrhundert (schule21.blog).  

 

Das Deutsche Institut für Menschenrechte 

Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist die unabhängige Nationale Menschenrechtsinstitution Deutschlands. Es setzt sich dafür ein, dass Deutschland die Menschenrechte im In- und Ausland einhält und fördert. Das Institut begleitet und überwacht unter anderem die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und hat hierfür entsprechende Monitoring-Stellen eingerichtet. Mehr Infos unter: Deutsches Institut für Menschenrechte (institut-fuer-menschenrechte.de) 

 

Verband Sonderpädagogik e. V. 

Der Verband Sonderpädagogik e. V. beinhaltet alle Aspekte der pädagogischen Förderung behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen. Seine Mitglieder stehen zum großen Teil in der praktischen Arbeit für behinderte oder benachteiligte Kinder und Jugendliche. Mehr Infos unter: Startseite – Verband Sonderpädagogik e.V. (verband-sonderpaedagogik.de) 

 

mittendrin e. V. 

Der Verein mittendrin e. V. wurde von Eltern behinderter Kinder gegründet und setzt sich für Inklusion ein. Der Verein bietet Beratung an und vertritt seine Interessen zum Beispiel bei Gremiensitzungen auf kommunaler, Landes- und Bundesebene, Netzwerktreffen und Bündnistreffen. Mehr Infos unter: mittendrin e.V. Beratungsstelle für Inklusion – mittendrin e.V. (mittendrin-koeln.de)