Liebe Frau Remy, Sie sind Regionalkoordinatorin der FREI DAY-Schulen in NRW. Was ist der FREI DAY? Und warum denken Sie, beteiligen sich Schüler:innen und Lehrkräfte an dem Format? 

Remy: Der FREI DAY ist ein handlungsorientiertes BNE-Lernformat, an dem sich Schüler*innen an einem Tag der Woche für drei bis vier Stunden mit eigenen Zukunftsfragen im Rahmen der 17 Ziele des Weltaktionsprogramms (Agenda 2030) beschäftigen. Sie entwickeln eigene Projekte zu Zukunftsfragen und führen diese bestenfalls in jahrgangsübergreifenden Teams durch. Sie arbeiten dabei zunehmend selbstorganisiert und üben sich in agilem Projektmanagement. Sie forschen phänomenbasiert und interdisziplinär und vernetzen sich mit Initiativen, Expert*innen und außerschulischen Lernorten. Abschließend setzen sie ihre Ideen und Anliegen für eine bessere Welt in konkrete Taten um, erwerben dabei Zukunftskompetenzen und übernehmen Verantwortung für sich, andere und die Gesellschaft – lokal und global. Unterstützt, beraten und vernetzt werden sie dabei durch Lernbegleiter*innen (Lehrkräfte, Pädagogische Fachkräfte im Ganztag, Sozialpädagog*innen, Schulsozialarbeiter*innen, Künstler*innen, Nachhaltigkeitsbeauftragte der Stadt, u.a.…), die sie in die handlungsorientierte BNE-Projektarbeit einführen, sie im Verlauf des Projekts beraten und das Gelingen organisieren. Ziel ist es, die Gestaltungs- und Zukunftskompetenzen der Kinder und Jugendlichen zu fördern und ihnen Selbstwirksamkeitserfahrungen und echte gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Der FREI DAY schafft Raum für echte Partizipation und zeigt Kindern und Jugendlichen vielfältige Wege auf, sich als Change Agents mit ihren Perspektiven und Anliegen wirkungsvoll in die gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozesse für eine nachhaltige und gerechte Welt einzubringen.  

Wie viele Schulen setzen das BNE-Lernformat bereits um? 

Remy: Laut unserer letzten Umfrage sind mindestens 229 Schulen aller Schulformen bundesweit im Umsetzungsprozess. Dabei gibt es viele weitere Schulen, die nicht an unseren Umfragen teilnehmen oder auf eigene Faust mit dem Lernformat gestartet sind. Über 423 interessierte Schulen haben sich in den letzten Monaten darüber hinaus bei uns gemeldet, weil sie gerne mit der Umsetzung des FREI DAY starten möchten. In Nordrhein-Westfalen haben über 134 Lehrkräfte und Schulleitungen Interesse an der Einführung bei uns angemeldet. Meistens starten dabei zunächst 2-8 Lehrkräfte mit 2-4 Lerngruppen und gehen mit gutem Beispiel voran, und in den folgenden Jahren kommen weitere Kolleg*innen und Lerngruppen hinzu. Vielfältige Fortbildungs- und Beratungsangebote, praxisbewährte Materialsammlungen und ein lebendiges Netzwerk von anderen progressiven Schulen schaffen ein gutes Ökosystem, in dem die mutigen Vorreiter:innen an den Schulen gut aufgehoben sind und jederzeit hilfreiche Impulse zur Überwindung von Stolpersteinen im Prozess erhalten können. 

Liebe Frau Schweizer-Motte, Sie sind Schulleiterin am Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium in Wuppertal und beteiligen sich seit zwei Jahren am Lernformat FREI DAY. Was hat Sie und Ihre Schule dazu bewegt, den FREI DAY einzuführen? Was erhoffen Sie sich auch mit Blick auf die Lern- und Schulkultur? 

Schweizer-Motte: Insgeheim warten wir alle auf einen Paradigmenwechsel in der Bildung. Längst ist bekannt, dass der Klimawandel und der Schwund der Biodiversität, der Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen und für eine gelingende Demokratie, für den Frieden und gegen Armut und Hunger so ungeheuer große und global angelegte Aufgaben sind, dass wir sie nur zu gern in die nachfolgende Generation weiter schieben. Oft nur deswegen, weil nicht klar ist, wo angefangen werden kann. Vor zwei Jahren haben wir (Schulleitung und eine Lehrer:innengruppe) beschlossen, dass es so nicht weitergehen kann – wir wollen nicht mehr auf die Veränderung “von oben” warten, wir wollen mit der dringend notwendigen Transformation hin zu einer ökonomisch, gesellschaftlich und ökologisch nachhaltigen Entwicklung des Planeten Erde beginnen. Jetzt! 

Diese Aufgabe ist genauso gewaltig wie zwingend notwendig. Aber auch der längste und steinigste Weg beginnt mit dem ersten Schritt. Dazu brauchen wir aber viel mehr als Ideen, Maßnahmen und Prinzipien. Wir brauchen eine neue Generation von Menschen, die in der Lage ist, die Kluft zwischen Wissen und Handeln zu überbrücken, die Partizipation lebt und eigene Gestaltungskompetenzen wahrnimmt, konkrete Vorhaben entwickelt und diese umsetzen will und kann. Mit dem FREI DAY glauben wir ein Format gefunden zu haben, mit dem der erste Schritt in unserer Schule gegangen werden kann. 

Wie genau setzt Ihre Schule den FREI DAY um? Welche Personen sind beteiligt?  

Schweizer-Motte: Wir starten in Klasse 7 mit einer sogenannten Starter-Phase. Hier geht es darum zu lernen, was Nachhaltigkeit ist, was sich hinter den 17 SDGs verbirgt, wie der ökologische Handabdruck des einzelnen, aber eben auch einer Gruppe oder Institution aussieht, welche tollen Vorbilder es auf der Welt und in unserer Stadt gibt und wie diese sich konkret für einen Wandel einsetzen. Aber auch Handwerkszeug ist Thema: Was sind SMARTE Ziele, wie macht man eine Meilenstein-Projektplanung, wie hilft ein Kanban Board weiter, wie schreibe ich einen Investitionsantrag an unsere schulische FREI DAY-Bank usw. und schließlich: Wie finde ich mein eigenes Projekt? Bis zum Ende des Schuljahres haben dann alle Schüler:innen ein Projekt in einer Kleingruppe und manchmal auch alleine gefunden. Im Jahrgang 8 ist dann ein Jahr Zeit, daran zu arbeiten. Und den Zwischenstand immer mal wieder den nachfolgenden Schüler:innen zu zeigen oder mitzuteilen. 

Wir haben eine Menge externer Partner:innen gefunden und unser Netzwerk wächst ständig. Die Schüler:innen machen auf sich und uns aufmerksam, in der Stadt sind wir bekannt und werden zunehmend auch für die Mitarbeit in städtischen Projekten angefragt.  

Innerschulisch arbeiten wir mit 12 Kolleg:innen im FREI DAY und jede Lehrkraft in Ausbildung (LIA) sollte bei uns mindestens eine FREI DAY Gruppe gecoacht haben. Wir entwickeln unser FREI DAY-Format beständig gemeinsam weiter. Von Seiten der Lehrkräfte vereinigt uns der Wille, Schule zu verändern (nicht die Facultas), hin zu mehr Coaching, hin zu formativem Feedback und alternativen Prüfungsformen, anderen Lehr-Lernbeziehungen. Für unsere Schüler:innen wünschen wir uns eine größere Übernahme von Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess und vor allem mehr Selbstwirksamkeitserfahrungen.    

Wie organisieren Sie das Lernen am FREI DAY an Ihrer Schule? Und welche Erfahrungen hat das FREI DAY Team bisher innerhalb der Lernbegleitung gesammelt?

Schweizer-Motte: Unser FREI DAY ist am Mittwoch. Hier setzen wir die Schüler:innen des Jahrgangs 7 und 8 nach der vierten Stunde frei und geben Ihnen von 11:45 bis 15:00 Uhr Zeit, an ihren BNE-Projekten zu arbeiten. Arbeitet eine Gruppe z. B. am Samstag oder zu einem anderen Zeitpunkt, kann das “verrechnet” werden. Die Kolleginnen bekommen für den FREI DAY den Gegenwert von 3 bis 4 Unterrichtsstunden, in Abhängigkeit von ihrem konkreten Engagement. Formal ist der FREI DAY bei uns ein Projekt des gebundenen Ganztags. 

Im ersten Jahr mussten wir vielfach beobachten, dass Schüler:innen in der 7. Klasse schon so “verbildet” waren, dass es ihnen teilweise sehr schwer gefallen ist, eigene Interessen zu entwickeln und die Motivation und den Durchhaltewillen für ein Projekt aufzubringen. Leider mussten wir auch konstatieren, dass Lernprozesse im Vorfeld, wie z. B. eine aussagekräftige und eine Antwort generierende Mail zu schreiben, nicht nachhaltig und wirksam erfolgt waren. Auch Teamkonflikte haben einige der ersten Projektgruppen sehr beschäftigt, ist doch die durchschnittliche Gruppenarbeit in Schule selten auf mehr als einige wenige Schulstunden ausgelegt. Problematisch erwiesen sich auch teilweise ausufernde „Grassroot-Aktivitäten“ (Waffel- und Kuchenverkäufe, Sammelaktionen, um Startkapital für Projekte zu erwirtschaften etc.). Hier hat die Konzeption unserer “Starter-Phase” und die Gründung der FREI DAY-Schulbank deutliche Abhilfe geschaffen. Mit Freiheitsgraden in Schule umzugehen zu lernen bleibt – aufgrund des Sozialisationsprozesses – auf beiden Seiten, Lehrer:innen und Schüler:innen, eine Herausforderung. Coaching will gelernt sein – hier gibt es sicher weitere Fortbildungsbedarfe. Storytelling-Lernen könnte hilfreich sein, denn Vorbilder und Geschichten bewirken eine Menge. 

Mit welchen Institutionen, Initiativen, Organisationen, Expert*innen und außerschulischen Lernorten kooperieren Sie im Rahmen des FREI DAY? Und welche neuen Lerngelegenheiten ergeben sich daraus für die Schüler:innen?

Schweizer-Motte: Wir arbeiten mit vielen Organisationen zusammen, ganz vorne sind hier die städtischen Organisationen zu nennen, die Abfallwirtschaft, die Verkehrsbetriebe des öffentlichen Nahverkehrs, das Grünflächenamt etc., aber auch viele innerstädtische Gremien wie der Gleichstellungsausschuss, Bürgerinitiativen, Vereine und andere Foren mit ähnlicher Zielsetzung. Die Bergische Universität schickt regelmäßig Student:innen, und interessierte Kolleg:innen von anderen Schulen sind Partner. Je nach Projektinhalt gelingt es auch, Eltern oder Wirtschaftsbetriebe für die Zusammenarbeit zu gewinnen. Die Vorteile liegen auf der Hand: Know-How einspielen, das in Schule nicht vorhanden ist, Entlastung im Alltag, Schule zu einem Lernort nicht nur für Schüler:innen machen – einfach zusammen etwas zu bewirken, was keine:r alleine gekonnt hätte.  

Was nehmen Sie aus den bisherigen Erfahrungen mit dem FREI DAY mit und was wünschen Sie sich für die Zukunft? 

Schweizer-Motte: „Eigentlich müsste aller Unterricht so laufen wie der FREI DAY”, hat in der letzten Woche eine Schülerin geäußert. Das macht uns nachdenklich. Damit sich noch mehr Schulen auf den Weg machen, zukunftsorientierte Lernformate wie den FREI DAY bei sich zu verankern, bräuchte es vor allem die Zeit und den Mut, die Curricula weiter inhaltlich zu entschlacken. Und vielleicht auch einfach ein bisschen Ehrlichkeit und Demut auf Seiten der Schulleitungen und Lehrkräfte, denn an ihr FREI DAY – Projekt werden sich die Schüler:innen lebenslänglich erinnern. Welche Mathe/Deutsch/Englisch Stunde kann das schon von sich behaupten?  

(aktualisierte Fassung vom 17. Juni 2024)


Die Stiftung Umwelt und Entwicklung (www.sue-nrw.de) fördert seit Oktober 2021 das FREI DAY Unterstützungsprogramm, mit dem FREI DAY Teams von über 60 Schulen aller Schulformen aus ganz NRW jeweils ein Schuljahr durch Mikrofortbildungen (“FREI DAY Werkräume”), Netzwerktreffen, schulformspezifische Dialogräume, Schulleitungs-Austauschrunden und individuelle Zielklärungs- und Beratungsgespräche vom Team von Schule im Aufbruch begleitet werden konnten. Diese Projektförderung endet September 2024.

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