Ob die Notengebung in der Schule sinnvoll ist, wurde seit deren Einführung in der Geschichte der Schule immer wieder hinterfragt und von der Suche nach Alternativen zur Ziffernnote begleitet. Konzeptionelle Arbeiten zur schulischen Leistungsbeurteilung und Diagnostik sowie Befunde nationaler wie internationaler Forschung haben wiederholt darauf hingewiesen, dass Noten hinsichtlich ihrer Messgüte (also ihrer Objektivität, Zuverlässigkeit und Gültigkeit) kritisch zu betrachten sind, sie unter anderem mit Beobachtungs- und Beurteilungsfehlern verbunden sein können, und sich an die Notenvergabe substanzielle Fragen hinsichtlich der Genauigkeit und Fairness der Beurteilung stellen (im Überblick: Beutel & Pant, in Druck; Brookhart et al., 2016). In lern- und förderorientierter Perspektive lässt sich zudem fragen, ob Noten der Lernentwicklung von Schüler*innen dienlich sind, wenn sie sich negativ auf die schul- und lernbezogene Motivation auswirken können und durch sie eine Fokussierung auf das Lernergebnis bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Lernwege bedingt ist. Vor diesem Hintergrund rücken Ansätze alternativer Leistungsbeurteilung in den Blick, die eine pädagogische und formative (stärker auf den Prozess des Lernens fokussierte) Perspektive betonen: Die Erfassung und Beurteilung schulischer Leistungen sollen hierbei vor allem dazu dienen, die Lernbegleitung, die Rückmeldeprozesse sowie die Förderung von Lernverhalten und Leistungen der Schüler*innen zu unterstützen (Beutel, Marx & Ruberg, 2019). Entsprechende Beurteilungskonzepte und -formen zielen somit sowohl darauf ab, die Beurteilung für die Schüler*innen transparenter und zugänglicher werden zu lassen, als auch darauf, den Schüler*innen in ihrem Lernprozess begleitende und differenzierte Hinweise auf eigene Schwächen und Stärken zu ermöglichen. Leistungsüberprüfung und -bewertung werden in dieser Perspektive nicht als eine bloße Vermeidung der Ziffernbenotung gesehen, sondern als fortlaufende, in den unterrichtlichen Alltag eingebettete und in den Lernprozess der Schüler*innen zu integrierende Handlungen (Marx, in Druck).

Neue Möglichkeiten für Selbstregulation und Partizipation im Lernprozess

Ein Lernen ohne Noten stellt den Lernprozess in den Mittelpunkt und nicht nur das Ergebnis. Es eröffnet Möglichkeiten der Individualisierung, Personalisierung, Partizipation und Kollaboration in Lernformaten, die an die spezifischen Voraussetzungen der einzelnen Schüler*innen anknüpfen. Es soll die Relevanz und Sinnhaftigkeit der behandelten Themen sowohl individuell als auch kollektiv erfahrbar machen. Als besonders vielversprechend gelten projektartige, situierte und handlungsorientierte Lehr-Lern-Designs. Diese zielen nicht nur auf die Vermittlung von Fachwissen ab, sondern fördern auch das Erlernen von Problemlösestrategien, Reflexionsfähigkeit sowie einen agilen Umgang mit Herausforderungen in einer sich dynamisch verändernden Welt.

Mit diesen Lernformaten ist zudem die Erwartung verbunden, die Entwicklung von Strategien der Metakognition und Selbstregulation zu unterstützen, die als grundlegende Fähigkeiten für gelingende schulische Lernprozesse gelten (Wirth, Stebner, Trypke, Schuster & Leutner, 2020). Anregungen dafür, wie Lernprozesse konkret geplant und begleitet werden können, liefert das sogenannte Drei-Phasen-Prozessmodel von Schmitz, Landmann und Perels (2007). Hier planen die Schüler*innen zunächst WAS und WIE sie etwas lernen möchten (präaktionale Phase), um dann eine Aufgabe zu bearbeiten (aktionale Phase) und anschließend Bearbeitungsalternativen zu überdenken (postaktionale Phase). Zur erfolgreichen Aufgabenbewältigung gehören demnach nicht nur die Anwendung kognitiver Strategien und der Einsatz von Fachwissen, sondern vor allem auch die Umsetzung metakognitiver Strategien, wie die Reflexion des Vorgehens im Hinblick auf zukünftig zu lösende Aufgaben. Dieser Dreischritt kennzeichnet nicht nur den Lernprozess, sondern kann auch in Prüfungskontexte überführt werden, indem individuelle oder gemeinsame Modifikation und Fehlerkorrektur die Überprüfung des Fachwissens ergänzen und so zum Bestandteil von Leistungsbeurteilung werden.

Digitale Tools, wie z.B. ePortfolios oder Mind-Mapping-Tools können die Erfassung der individuellen Lernwege sowie die Entwicklung metakognitiver Strategien unterstützen. Damit sind sie integraler Bestandteil einer formativ ausgerichteten Lernkultur und nicht bloß eine Ergänzung zu traditionellen Unterrichtsmethoden. Formative Instrumente der Lernbegleitung und Leistungsbeurteilung (z.B. Lerntagebücher, Lernentwicklungsgespräche, Peer-Feedback) fokussieren die Verstehensprozesse der Schüler*innen, ermöglichen zudem eine kontinuierliche Einsicht in deren Lern- und Entwicklungsstände und können Förderbedarfe und -notwendigkeiten sichtbar machen. Sie dienen Lehrkräften als empirische Grundlage für eine dialogisch ausgerichtete Diagnostik sowie ein lernförderliches Feedback (Beutel & Ruberg, 2024). Auch hier zeigen sich Vorteile eines auf die Ebene des Prozesses und der Selbstregulation zielenden Feedbacks, gegenüber einer Rückmeldung, die allein auf die Aufgabe bezogen ist (Sanders & Zierer, 2019). Die Orientierung an kriterialer (Leistung wird anhand festgelegter Standards oder Zielkriterien bewertet) und individueller Bezugsnorm (orientiert sich an der eigenen Leistungsentwicklung) kann sich dabei als förderlich für die Lernmotivation und ein positives schulisches Selbstkonzept erweisen (Dickhäuser, Janke, Praetorius & Dresel, 2017), während sich eine Orientierung an der sozialen Bezugsnorm (Leistung wird im Vergleich zu den Leistungen anderer Personen gesehen) diesbezüglich als weniger zielführend erweist .

Pädagogische Entwicklungsziele und schulische Handlungsspielräume

Damit Lehrkräfte ein Lernen ohne Noten im Sinne erfolgreicher Bildungsverläufe gestalten können, brauchen sie Handlungsspielräume in Gesetzen und Richtlinien sowie die Unterstützung durch Schulnetzwerke und wissenschaftliche Begleitung. Heute gibt es in nahezu allen Bundesländern eine schulpolitische Stärkung von Möglichkeiten notenfreier Leistungsbeurteilung und eine öffentlich reformengagierte Schulpraxis (deutsches-schulportal.de), in der konzeptstarke Lehr-Lern-Designs erprobt werden, die Instrumente und Verfahren zum selbstständigen Lernen, zur Dokumentation und Reflexion nutzen. Zum Einsatz kommen zum Beispiel Diagnostikkalender für Lehrende und Lernende, Selbstnavigation entlang von Lernpfaden, niveaudifferenzierende Kompetenzübersichten, Könner*innenausweise, Lerncheckalternativen statt Klassenarbeiten sowie Formen von visible learning und Feedback, die Entwicklungsoptionen erreichbar machen.

Von Schulbeginn an können Kinder in der Grundschule damit arbeiten und ihre Fortschritte erkennen. Der Einsatz notenalternativer Verfahren der Leistungsbeurteilung ist über alle Schulstufen und -formen bis in die Oberstufe hinein praktikabel. Diese Verfahren bieten eine Chance, die Qualität des Bildungsvorganges im Lernen sichtbar zu machen sowie die darin liegende Wertevermittlung und Kompetenzanreicherung aufzuzeigen. Lernen ohne Noten schafft Spielräume, demokratieförderliche und demokratiebildende Aspekte durch eine partizipative Gestaltung des Beurteilungsprozesses einzubeziehen. Es ist der Inklusion, der Stärkung von Bildungsgerechtigkeit, der angemessenen und nachvollziehbaren Beurteilung und dem substanziellen Partizipationserleben der Schüler*innen verpflichtet (Beutel & Pant, in Druck). Lernen ohne Noten kann der Tiefenstruktur des Unterrichts sowie der Befähigung der Schüler*innen dienen, ihre Lernfortschritte und Leistungen selbst einschätzen sowie zur weiteren Zielplanung nutzen zu können, und kann somit die Fundamente einer aktuell diskutierten neuen Prüfungspraxis vorbereiten (Beutel & Ruberg 2023), die Beteiligung und Reflexionsvermögen zur Grundlage einer individuums- wie differenzstarken Aufgaben- und Anerkennungspraxis macht. Dies gilt auch für die Einübung in kollaborative und zeitlich flexibel abzulegende Gelingensnachweise. Diese Entwicklung zielt darauf, die mit Noten verbundene Fehleranfälligkeit der Beurteilungspraxis zu verringern, Alternativen können zur Transparenz und Überwindung von Lerndefiziten beitragen. Eine professionell abgesicherte Praxis der Leistungsbeurteilung ohne Noten benötigt eine kollegiale Standardsetzung und regelhafte Evaluation als Teil einer stetigen Vergewisserung in der Schulentwicklung, ganz sicher aber ebenso einen anhaltenden politischen Willen.

Alternative Formen der Leistungsbeurteilung – Perspektiven für Forschung und Praxis

Die hier überblicksartig skizzierten Punkte zeigen, dass vorliegende Konzeptionen und Befunde auf lernförderliche Vorteile alternativer Beurteilungs- und Rückmeldeformen im formativen Sinne hinweisen und sich in schulischer und systemischer Entwicklungsperspektive zunehmend Handlungsspielräume für deren Einsatz eröffnen. Zugleich bleibt es für eine Etablierung alternativer Formen der Leistungsbeurteilung geboten, mit kritischer und prüfender Perspektive, die den Ziffernnoten gegenüber eingenommen werden kann, auch die alternativen Formen zu betrachten und ihren Einsatz zu evaluieren, um eine entsprechende, mögliche Schul- und Schulsystementwicklung auf Basis gesicherter Erkenntnisse steuern zu können. Ein solches Vorgehen wäre auch deshalb ratsam, um sich im Sinne der Ziele pädagogischer Diagnostik des tatsächlichen Erreichens damit verbundener, auch normativer Ansprüche an Leistungsbeurteilung als Teil von Schulqualität vergewissern zu können. Hierbei wäre überdies zu berücksichtigen, dass alternative Formen der Leistungsbeurteilung zumindest mittelfristig Ziffernnoten nicht an allen Stellen des Schulsystems ersetzen sondern neben bzw. zusätzlich zu Noten eingesetzt werden, sodass sich diese Beurteilungsformen ergänzen müssen.

Für die Schulpraxis ist mit Blick auf eine Etablierung alternativer Verfahren der Leistungsbeurteilung weiterhin zu bedenken, dass ihr förderlicher Einsatz nicht voraussetzungslos ist. Die Einführung alternativer Beurteilungsverfahren erfordert unter anderem eine umfassende Qualifizierung der Lehrkräfte, da mit der Notenvergabe verbundene Maßstäbe und Praktiken nicht einfach auf die alternativen Formen schulischer Leistungsbeurteilung übertragen werden können und mit Noten verbundene Beobachtungs- und Beurteilungsfehler auch mit alternativen Beurteilungsverfahren möglich sind.

Notwendig erscheint zudem eine weitergehende, methodenvielfältige Forschung zur schultheoretischen, pädagogischen sowie didaktischen Fundierung des Einsatzes alternativer Formen der Leistungsbeurteilung bei der Gestaltung schulischer Lerngelegenheiten unter Berücksichtigung der empirischen Evidenz ihrer Wirksamkeit – auch vor dem Hintergrund, dass die Bedingungen weiter zu klären sind, unter denen sich alternative Formen von Leistungsbeurteilung als förderlich und im Vergleich zu Ziffernnoten als vorteilhaft erweisen können. Hierbei sind ebenfalls die Rahmungen der komplexen Zusammenhänge von Voraussetzungen, Prozessen und Resultaten pädagogischer Diagnostik in der Mehrebenenperspektive schulischer und außerschulischer Kontexte, Gelegenheitsstrukturen und Handlungsrelationen (Beutel, Pant & Goy, in Druck; Schreiner, 2024) zu berücksichtigen.

 


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