Die Lesekompetenzen an deutschen Grundschulen befinden sich seit einigen Jahren im Abwärtstrend. In ganz Deutschland? Nein, in Hamburg es ist durch den Einsatz von Lesebändern gelungen, die Trendwende einzuläuten. Lesebänder umfassen eine ritualisierte Lesezeit von 20 Minuten an vier bis fünf Tagen pro Woche und setzen dabei verschiedene Lautleseverfahren ein.
Die Grundschule Kirchdorf führte die tägliche Lesezeit als erste Hamburger Schule ein. Nach über 10 Jahren liest die ganze Schule immer noch jeden Tag erfolgreich zu einer festgelegten Zeit. In diesem Jahr wurde die Schule u.a. aufgrund der Entwicklung des Lesebands für den Deutschen Schulpreis 2024 nominiert. Christian Gronwald, Schulleiter an der Grundschule Kirchdorf, hat mit uns über sein Erfolgsrezept gesprochen.

Lieber Herr Gronwald, wie ist es zum Leseband an Ihrer Schule gekommen?

Die Behörde für Schule und Berufsbildung in Hamburg rief 2010 das Projekt „Durchgängige Sprachbildung am Übergang von der Grundschule in weiterführende Schulen“ ins Leben. Dieses Projekt legte die Behörde sehr offen an, sodass die Schulen selbst entscheiden konnten, welche Maßnahmen sie umsetzen wollten.

In Zusammenarbeit mit den Kolleg:innen der Nelson-Mandela-Stadtteilschule legten wir fest, dass die Verbesserung der Lesekompetenz eine zentrale Rolle für den Übergang von der vierten zur fünften Klasse spielt. Unsere Kollegin Katharina Hauschild brachte uns in Kontakt mit Steffen Gailberger, der damals wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Leuphana Universität Lüneburg war. Unsere Kollegin hatte erfahren, dass dieses Konzept bei Kindern einer benachbarten weiterführenden Schule sehr erfolgreich war. Allerdings war dieses Projekt ursprünglich nicht für den täglichen Unterricht gedacht, sondern auf die Ferienzeit beschränkt.

Die Arbeitsgruppe erarbeitete daraufhin in Zusammenarbeit mit Herrn Gailberger ein Curriculum, das eine feste Lesezeit während des Schulvormittags vorsah. Nach Zustimmung der Steuergruppe und der Lehrkräfte führten wir die Lesezeit leider nur mit mäßigem Erfolg ein.

Einen großen Impuls erhielt unser Vorhaben, als die Hamburger Schulbehörde anbot, unter wissenschaftlicher Begleitung durch Herrn Prof. Gailberger, ein Leseband im BISS-Verbund mit anderen Schulen zu begleiten. Dies war eine große Unterstützung für uns, da wir dadurch eine Finanzierung erhielten, um Bücher im Klassensatz zu kaufen. Zudem wurden Fortbildungen angeboten und das Ganze erhielt eine wissenschaftliche Begleitung. So erhielt das Projekt, das anfangs mit mäßigem Erfolg lief, durch diese unterstützenden Maßnahmen einen neuen Schub.

War das gesamte Kollegium von Anfang an dabei? Wie haben Sie das geschafft?

Dank der Unterstützung der Arbeitsgruppe konnte die Lehrerkonferenz davon überzeugt werden, dass die Einführung des Lesebands eine wertvolle Maßnahme ist. Zudem waren die großen Schwierigkeiten der Schüler:innen beim Lesen eindeutig, so dass die Maßnahmen notwendig waren.
Für die Schulentwicklung ist es entscheidend, kleine, überschaubare Projekte zu wählen, die leicht zu handhaben sind und niemanden überfordern. Genau das trifft auf das Leseband zu! Neue Entwicklungen werden auch durch kleine strukturelle Veränderungen an der Schule sichtbar. Dies haben wir durch die Einführung eines neuen Gongs und die Anpassung der Stundenpläne erreicht.

Wie haben die Schüler:innen auf die Einführung des Lesebands reagiert? Wie die Eltern?

Für die Kinder, insbesondere in den zweiten Klassen, ist es immer eine große Freude, ein Buch gelesen zu haben. Sie sind äußerst stolz auf ihre Leistung, egal ob sie nur kleine Wörter oder schon die ganze Geschichte mitlesen können.
Genaue Reaktionen von Eltern kenne ich leider nicht. Ich denke jedoch, dass es für Eltern, mit geringen Deutschkenntnissen, eine große Erleichterung ist, wenn ihre Kinder täglich in der Schule Lesen.

Ganz praktisch: Wie bekommen Sie die 20 Minuten Lesezeit jeden Schultag zusammen? Irgendwoher muss die Zeit ja kommen.

Das liegt in der Besonderheit der Stundentafel für die Hamburger Grundschulen. Jeden Tag von 8.00 Uhr bis 13.00 Uhr Unterricht bedeutet vier Stunden mit 45 Minuten und eine Stunde mit 60 Minuten. Von der 60 Minuten Stunde haben wir 20 Minuten genommen und schon hatten wir eine Lesezeit. Natürlich mussten wir die Stundenverteilung auf die Fächer noch ein wenig anpassen.
Es gibt aber auch andere Modelle, wie die Kürzung von Unterrichtsstunden um jeweils 5 Minuten. Gerade für Schulen mit 60 Minutenstunden ist dieses Modell hervorragend. Ganztagsschulen können gut Lernzeiten aus dem Nachmittag in den Vormittag holen. Man muss sehr kreativ sein und gegebenenfalls die gewohnte, tägliche Struktur ändern.
Schwierig finde ich einer 45 Minutenstunde 20 Minuten abzuziehen. Gerade wenn einstündige Fächer betroffen sind, kann es zu großer Unzufriedenheit seitens der betroffenen Lehrkräfte kommen.

Und wie zeitintensiv ist das Leseband in der Vor- und Nachbereitung?

Im Schulalltag selbst ist die Vor- und Nachbereitungszeit für das Leseband sehr gering. Es beschränkt sich auf die Auswahl des Buchs, die Einführung der verschiedenen Methoden und die Durchführung sowie die Auswertung der Tests.

Ein wesentlicher Bestandteil des Projekts sind die verpflichtenden Fortbildungen für die verschiedenen Lesemethoden. Mittlerweile gibt es mehrere Fortbildungsfilme, die in Zusammenarbeit mit der Reinhard Mohn Stiftung entstanden sind und die es ermöglichen, sich mit wenig Zeitaufwand mit den Inhalten der Leseförderung auseinanderzusetzen.

Wie kann mit besonders lesestarken oder leseschwachen Schüler:innen umgegangen werden? Werden diese nicht durch das Leseband gelangweilt bzw. überfordert? Gibt es ein besonderes Konzept für Schüler:innen, die Deutsch als Zweitsprache sprechen?

Das höre ich auf Fortbildungen immer, dass die Kinder über- oder unterfordert werden. Schaut man sich jedoch die Auswertungen der Lesetests an, kann man feststellen, dass alle Kinder Fortschritte machen und ihre Leseleistung steigern. Eine gute Möglichkeit ist, dass man regelmäßig die Lesezeit unterbricht und Fragen zu unbekannten Wörtern, zum Inhalt des Buchs, zu Möglichkeiten, wie die Geschichte weitergehen könnte, stellt und zur Reflexion der Lesezeit, wie: „Haben wir ausreichend laut gelesen?“ oder „Wie hat das Lesen mit deinem Partner/deiner Gruppe funktioniert?“.

Zum Abschluss: Wenn Sie interessierten Schulleitungen drei Tipps für die Einführung eines Lesebands geben könnten, welche wären das?

Entscheidend ist, dass die Schulleitung den Hut aufhat, denn das Handeln der Schulleitung wirkt sich entscheidend auf die erfolgreiche Umsetzung der Lesezeit aus. Denn nur, wenn die Schulleitung vollkommen hinter dem Projekt steht, wird es sich verstetigen lassen und nicht nach anfänglicher Euphorie an Bedeutung verlieren.

Für eine erfolgreiche Umsetzung des Lesebands sollte es täglich eingeplant und möglichst am Anfang des Tages platziert werden. Die Durchführung des Lesebandes in der Vorschule oder zu Beginn der ersten Klasse findet zunächst in verkürzter Zeit statt und dient der Hinführung. Es wird vorgelesen und es finden Vorlesegespräche mit Bilderbüchern oder dem japanischen Erzähltheater (Kamishibai) statt. Die Kinder werden so an das Zuhören und das gemeinsame Gespräch über Bücher herangeführt. Sie lernen Fragen zu stellen über unbekannte Worte oder Vermutungen anzustellen, wie die Geschichte weitergehen könnte. Zudem trainieren sie das aufmerksame Zuhören, auch wenn die Sprache komplexer wird und der Wortschatz weit über den des alltäglichen Gebrauchs hinausgehen mag. Im Laufe der ersten Klasse wird die Zeit allmählich auf 20 Minuten ausgeweitet.

Wichtige Punkte, die die Schulleitung beachten sollte, sind regelmäßige Hospitationen des Lesebandes, Gespräche über die Testergebnisse oder das Setzen von Leseband-Themen auf die Tagesordnung der Lehrerkonferenz. Denkbare Themen wären etwa Diskussionen über Unzufriedenheit, die Vorstellung neuer Bücher oder die Möglichkeit der Bereitstellung von zusätzlichen Mitteln. Das Ziel dieser Maßnahmen ist die Bedeutung der Lesezeit hochzuhalten.

Zu beachten ist unbedingt, dass das Leseband eine zusätzliche Zeit für den Leseunterricht ist. Sie ersetzt nicht den regelmäßigen Leseunterricht im Deutschunterricht.

Liebe Herr Gronwald, vielen Dank für das Gespräch zum Leseband!  

 


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